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Schuldenbremse: Ein Blick in die Entstehungsgeschichte

Politiker wollen wiedergewählt werden. Deshalb neigen sie dazu, Versprechen via Schulden zu finanzieren. In den Neunzigerjahren war die Verschuldung besonders hoch. 2001 stimmten knapp 85 Prozent des Stimmvolks einer Schuldenbremse zu.

Schuldenbremse: Ein Blick in die Entstehungsgeschichte

Abstimmungsknöpfe im Nationalrat: Es ist populärer, Leistungen zu versprechen, als Steuererhöhungen einzufordern. Deshalb besteht ein politischer Anreiz zur Verschuldung. (Bild: Keystone)

Die Demokratie ist die einzige Regierungsform, die allen Menschen ein Leben einigermassen in Würde und Wohlstand ermöglicht. Sie ist aber ein störungsanfälliges System, dessen Funktionieren auf einer ganzen Reihe komplexer institutioneller und kultureller Voraussetzungen beruht. Ein Hauptproblem besteht letztlich darin, dass die Demokratie von Menschen betrieben wird, die nicht nur Stärken, sondern auch Schwächen haben. So kann etwa das Interesse am Gewinnen von Wahlen höher sein als das Interesse am Lösen der wichtigen Probleme. Ebenso kann das Interesse am Wohl der eigenen Region oder des eigenen Stammes dasjenige am Wohl des ganzen Landes überwiegen. Daraus entstehen folgenreiche Fehlanreize wie die Neigung der Demokratie zur Verschuldung.

Schulden ja, aber massvoll

Schulden sind natürlich nicht einfach des Teufels. Im Gegenteil! Schulden von Haushalten, Unternehmen oder Staaten sind zur Förderung des allgemeinen Wohlstandes unentbehrlich. Eine Familie darf mit einer Hypothek ihr Heim finanzieren, und mittels Schulden können Investitionen realisiert werden, die ökonomisch sinnvoll sind und deren Rendite die Verzinsung und die Rückzahlung ermöglicht. So kann auch der Staat Projekte mit Schulden finanzieren, welche die Produktivität der Volkswirtschaft und damit das Wachstum steigern. Zudem sind Staatsanleihen solider Staaten nützliche Anlageinstrumente für private Haushalte, Sozialwerke und Unternehmen.

Auf Staatsebene gilt allerdings: Die Anhäufung übermässiger Schulden hat eine ganze Reihe fataler Folgen. Es entstehen Zweifel, ob das Land langfristig seine Zinsen und Rückzahlungen leisten kann. Die Anleger verlangen wegen des erhöhten Risikos höhere Zinsen, und ein zunehmend grösserer Teil der Steuererträge muss für den Zinsendienst aufgewendet werden. Der Handlungsspielraum des Staates schrumpft unmittelbar und durch die Schuldenlast auch derjenige künftiger Generationen. Der Staat verliert die Fähigkeit, auf Rezessionen oder katastrophale Krisen angemessen zu reagieren. Die Wirtschaft zweifelt an der künftigen Leistungsfähigkeit des Staates und befürchtet Steuererhöhungen. Die Investitionslust sinkt.

Politiker haben Fehlanreize

Politiker wollen legitimerweise wiedergewählt werden. Aber deshalb neigen sie häufig dazu, ihren Wählern Vorteile auf Kosten der Allgemeinheit zu verschaffen. Weil es nun populärer ist, Leistungen zu versprechen, als Steuererhöhungen einzufordern, entsteht ein Anreiz zur Finanzierung dieser Leistungen mit Schulden. Dazu kommt ein weiteres Problem: Private Schuldner haften bei Verlusten persönlich, Unternehmen werden bei Misswirtschaft durch Konkurs bestraft, aber Politiker, welche Schulden beschliessen, haften nie. Deshalb funktioniert in der Politik das wichtige Prinzip nur unzureichend, wonach zur Entscheidungsbefugnis immer die Haftung gehören sollte. Weil diese Mechanismen beim Staat fehlen, sind institutionelle Massnahmen zur Dämpfung der staatlichen Verschuldungsneigung nicht nur legitim, sondern zwingend.

Gute Rechnungsabschlüsse liessen Ende der Achtzigerjahre auch bei uns die Illusion entstehen, der Staat könne sich alles leisten. Die Ausgabendisziplin sank, und Anfang der Neunzigerjahre wurden die Defizite strukturell. Das zermürbende Feilschen in Bundesrat und Parlament um zahllose grössere und kleinere Budgetpositionen erwies sich als völlig ungenügend. Gleichzeitig litt die Schweiz an einer gravierenden Wachstumsschwäche. Schon damals enthielt die Verfassung zwar eine Klausel, die den Abbau aufgelaufener Defizite vorschrieb, aber diese kümmerte die Politik nicht. So verdreifachte sich die Verschuldungsquote des Bundes, also der Anteil der Schulden am nominalen Bruttoinlandprodukt, von 1990 bis zum Inkrafttreten der Schuldenbremse 2003: von 8 auf 25 Prozent.

Von der Idee zur Umsetzung

Schon bald nach der Übernahme des Finanzdepartements kam ich in einer schlaflosen Nacht zum Schluss, dass es so nicht weitergehen könne und dass es einen neuen strategischen Ansatz brauche, um den Trend zu brechen. Die Idee war eigentlich mehr als simpel: Es brauchte nicht nur eine Verfassungsnorm, die eine angemessene Begrenzung der Verschuldung verlangt, sondern eine, die auch sagt, was konkret zu geschehen hat oder automatisch geschieht, wenn die Politik die Vorschrift nicht einhält. Ich beauftragte mein überaus kompetentes Team mit der Ausarbeitung von Vorschlägen. Wir entschieden uns für ein zweistufiges Vorgehen: Mit dem sogenannten Haushaltsziel 2001, einer zeitlich begrenzten Verfassungsnorm, sollte in einem ersten Schritt ein grosser Teil des strukturellen Defizits bis 2001 beseitigt werden.

Um dem Einwand zu begegnen, das Volk müsse dabei die Katze im Sack kaufen und wisse bei der Abstimmung nicht, wo konkret gespart würde, handelte der Bundesrat mit Kantonen, Wirtschaftsverbänden und Regierungsparteien am sogenannten Runden Tisch in einem mühsamen, aber erfolgreichen Prozess im April 1998 ein im Wesentlichen auf Sparmassnahmen basiertes Stabilisierungsprogramm im Umfang von rund 2 Milliarden Franken aus. Im Wissen um die Sparmassnahmen stimmte das Volk am 7. Juni 1998 dem Haushaltsziel mit 70,7 Prozent zu, worauf das Parlament die Ergebnisse des Runden Tischs im Wesentlichen umsetzte. Ich betrachte es heute noch als beachtlichen Erfolg, dass sich alle am Runden Tisch Beteiligten an ihre Abmachung hielten.

Als zweiten Schritt konzipierten wir die heute unbefristete Verfassungsvorschrift der Schuldenbremse. Sie verlangt den mittelfristigen Ausgleich der Finanzierungsrechnung, limitiert das Ausgabenniveau auf der Höhe der konjunkturbereinigten Einnahmen und sieht für die Folgejahre die Kürzung des Ausgabenplafonds vor, wenn die Regeln verletzt werden. Mein Nachfolger im Bundesrat, Hans-Rudolf Merz, führte mit der sogenannten Ergänzungsregel zusätzlich die Unterstellung des ausserordentlichen Haushalts ein.

Die Schuldenbremse wirkt antizyklisch, indem sie in einer Rezession Defizite zulässt und in einer Boomphase Überschüsse verlangt. Aber in Notlagen könnte eine völlig starre Schuldenbremse deren Bewältigung erschweren. Deshalb kann sie in schweren Krisen vom Parlament mit qualifiziertem Mehr aufgehoben werden, ein Mechanismus, der sich in der Corona-Krise bewährte. Am 2. Dezember 2001 stimmte das Stimmvolk der Schuldenbremse mit 84,7 Prozent Ja-Stimmen zu. Damit war die Basis für weitere umfangreiche Entlastungsprogramme gelegt, die vorher undenkbar gewesen waren.

Die Schuldenbremse hat sich seit damals hervorragend bewährt. Die Verschuldungsquote sank von 2003 bis zum Ausbruch der Pandemie im Jahr 2020 von 26 auf 17 Prozent, und die Bruttoschulden reduzierten sich von 2003 bis 2019 von 124 auf 97 Milliarden Franken. Mit der Differenz war die Schweiz in der Lage, die enormen Corona-Lasten ohne Beeinträchtigung ihres hervorragenden Finanzratings zu stemmen.

Prophezeiungen wurden nicht erfüllt

Im Parlament war damals die Schuldenbremse äusserst umstritten. Die Argumente der Gegner betrafen im Wesentlichen vier Bereiche. Sie beklagten den Verlust der parlamentarischen Budgethoheit, sie befürchteten eine dramatische Verschärfung der Rezession Anfang der 1990er-Jahre durch die Einschränkung der öffentlichen Nachfrage, sie prophezeiten eine sträfliche Vernachlässigung der Investitionen, und sie sagten das Totsparen des Sozialstaats voraus. Nichts von alledem geschah.

Das Argument mit der Budgethoheit wirkt geradezu zynisch, als ob das Volk den Politikern nicht in einem demokratischen Prozess vorschreiben dürfe, mit seinen hart erarbeiteten Steuergeldern haushälterisch umzugehen. Trotz der hauptsächlich ausgabenseitigen Entlastungsprogramme war das Wirtschaftswachstum in den zehn Jahren nach Einführung der Schuldenbremse etwa 50 Prozent höher als in den zehn Jahren davor. Der Anteil der Investitionen an den Bundesausgaben blieb während all der Jahre stabil, und die Sozialausgaben entwickelten sich weiter dynamisch.

Und die Schuldenbremse hat noch immer einen schweren Stand. Denn wenn der Staatshaushalt einmal aus dem Lot geraten ist, gestaltet sich die Sanierung aus zwei Gründen enorm schwierig. Erstens wissen wir aus der Verhaltensökonomie, dass die Menschen eine angeborene Verlustaversion haben. Sie empfinden einen Verlust wesentlich schmerzlicher, als sie sich über einen gleich hohen Gewinn freuen. Deshalb wehren sich die von Sparmassnahmen Betroffenen mit Zähnen und Klauen und malen den Weltuntergang an die Wand, wenn man ihren Besitzstand antastet.

Der zweite Grund hat damit zu tun, dass weit über die Hälfte der Ausgaben gesetzlich gebunden ist. Deshalb können bei Budgetberatungen nur wenige, nicht gebundene Ausgabenkategorien wirklich beeinflusst werden. Dazu gehören etwa Landwirtschaft, Entwicklungshilfe, Forschung oder Armee. Wirklich ausgewogene Sparpakete führen deshalb zu langwierigen gesetzgeberischen Verfahren mit Referendumsmöglichkeit, was deren Erfolg stets unsicher macht. Das macht die Bundesfinanzen zu einem trägen Supertanker, den man nicht einfach spontan umsteuern kann. Es lohnt sich deshalb allemal, durch eine disziplinierte Finanzpolitik die Bundesfinanzen schon gar nicht erst aus dem Lot geraten zu lassen.

Zitiervorschlag: Kaspar Villiger (2023). Schuldenbremse: Ein Blick in die Entstehungsgeschichte. Die Volkswirtschaft, 14. November.

Feier rund um die Schuldenbremse

Dieser Text ist die gekürzte Rede von Alt-Bundesrat Kaspar Villiger am Anlass «20 Jahre Schuldenbremse» der Eidgenössischen Finanzverwaltung (EFV) im Bernerhof in Bern. Kaspar Villiger gilt als Vater der Schuldenbremse und wurde für die Feierlichkeiten im September als Redner neben vielen namhaften Gästen eingeladen.