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Weshalb ist die Kaufkraft heute ein Politikum?

Weshalb ist die Kaufkraft heute ein Politikum?

Wenn die Kaufkraft sinkt, wird das Leben teurer. Eine Kundin auf dem Markt bezahlt ihre Ware. (Bild: Keystone)
Herr Kaufmann, was versteht man unter Kaufkraft?

Die sinnvollste Definition ist aus meiner Sicht: Wie viel kann eine Person mit ihrem frei verfügbaren Einkommen sparen oder konsumieren? Das Bundesamt für Statistik berechnet dieses Konzept unter dem Begriff «verfügbares Äquivalenzeinkommen».

Wie wird die Kaufkraft gemessen?

Zuerst zählt man alle Einkommen zusammen – darunter Löhne, Dividenden oder Renten. Danach zieht man obligatorische Ausgaben ab – wie etwa Steuern oder obligatorische Krankenkassenprämien. Die Differenz entspricht dem verfügbaren Einkommen in Franken. Schliesslich muss man die Einkommensentwicklung um die Teuerung bereinigen. Denn steigen die Preise, kann man mit demselben Frankenbetrag weniger kaufen.

Macht es Sinn, dass die Krankenkassenprämien nicht in der Inflationsmessung enthalten sind?

Ja, aus drei Gründen. Erstens werden die Preise für Medikamente und Gesundheitsdienstleistungen im Landesindex der Konsumentenpreise – abgekürzt LIK – berücksichtigt. Zweitens steigen die Prämien vor allem aufgrund einer Mengenausweitung an, nicht aufgrund von Preiserhöhungen. Wir würden somit die Teuerung überschätzen, wenn wir die Prämien direkt in den LIK aufnehmen würden. Drittens werden die Krankenkassenprämien der obligatorischen Grundversicherung in der Statistik des verfügbaren Äquivalenzeinkommens bereits herausgerechnet. Wichtig ist: Der LIK misst die Preisentwicklung. Das verfügbare Äquivalenzeinkommen misst die Kaufkraft.

 

Zu hohe Inflation ist ein wichtiger Grund für Kaufkraftverluste – wenn auch nicht der einzige.

 

Wird das Thema Kaufkraft zu Recht stark politisiert?

Es ist ein wichtiges Thema. Die Kaufkraft misst, wie stark die Bevölkerung vom Wirtschafts- und Politsystem profitiert. Sie wird von einer Vielzahl von politischen Entscheidungen beeinflusst: zum Beispiel von der Teuerung – Stichwort Geldpolitik –, den Steuern – Stichwort Fiskalpolitik –, den Renten – Stichwort Sozialpolitik – oder den Krankenkassenprämien – Stichwort Gesundheitspolitik. Zudem gibt es auch grosse Unterschiede zwischen den Bevölkerungsschichten. In der Schweiz betrug das verfügbare monatliche Einkommen im Jahr 2020 im untersten Fünftel der Einkommensverteilung knapp 1700 Franken – im obersten Fünftel 8500 Franken. Geschätzt wird, dass zwischen 2000 und 2020 das teuerungsbereinigte verfügbare Einkommen pro Jahr um etwa 0,6 Prozent gestiegen ist. Im untersten Fünftel der Einkommensverteilung ging die Kaufkraft jedoch leicht zurück.

Löhne sind ein wichtiger Bestandteil der Kaufkraft. Wie entwickeln sich Reallöhne in Zeiten hoher beziehungsweise niedriger Inflation?

In den letzten fünfzig Jahren sind die Reallöhne im Durchschnitt um 0,5 Prozent pro Jahr gestiegen. Phasen mit überraschend hoher Inflation, wie nun in den Jahren 2022 und 2023, gingen jedoch oft mit Reallohnrückgängen einher. Die Daten zeigen auch, dass solche unerwarteten Inflationsschübe nachträglich selten vollständig kompensiert werden. Zu hohe Inflation ist also ein wichtiger Grund für Kaufkraftverluste – wenn auch nicht der einzige.

Zitiervorschlag: Die Volkswirtschaft / La Vie économique (2023). Weshalb ist die Kaufkraft heute ein Politikum. Die Volkswirtschaft, 30. November.

Interviewpartner

Daniel Kaufmann ist Professor für Angewandte Makroökonomie an der Universität Neuenburg und Research Fellow bei der KOF Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich.