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Wie die Schuldenbremse die Konjunktur berücksichtigt

Die Schuldenbremse gibt vor, wie viel der Bund maximal ausgeben darf. Sie verlangt Finanzierungsüberschüsse oder erlaubt eine Neuverschuldung, je nachdem, ob sich die Wirtschaft im konjunkturellen Auf- oder Abschwung befindet.
Im Abschwung lässt die Schuldenbremse begrenzte Finanzierungsdefizite zu. (Bild: Keystone)

Befindet sich die Schweizer Wirtschaft in der Hochkonjunktur oder in einem Konjunkturtief? Sind die volkswirtschaftlichen Produktionskapazitäten über- oder unterausgelastet? Diese Fragen scheinen banal – meist erkennt man, ob die wirtschaftliche Lage gerade gut ist oder nicht. Doch für wirtschaftspolitische Entscheidungen ist es von zentraler Bedeutung, möglichst genau zu wissen, wo im Konjunkturzyklus sich eine Volkswirtschaft aktuell befindet. Auch für die Schuldenbremse sind diese Informationen zentral: Aus ihnen wird nämlich der Konjunkturfaktor abgeleitet. Dieser zeigt auf, wie hoch gemäss Schuldenbremse in Phasen des Aufschwungs die Finanzierungsüberschüsse sein müssen, und umgekehrt im Abschwung, welche begrenzten Finanzierungsdefizite zugelassen sind.

Wirtschaftliche Über- oder Unterauslastung?

Die Bestimmung des Konjunkturfaktors ist allerdings nicht einfach, man muss dafür zeitreihenökonometrische Schätzungen machen. Konzeptioneller Ausgangspunkt dafür ist das sogenannte Produktionspotenzial. Damit ist diejenige Produktionsmenge gemeint, die eine Volkswirtschaft herstellen kann, ohne dass dabei Druck auf Löhne und Preise von Gütern und Dienstleistungen entsteht. Das heisst, die Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital einer Volkswirtschaft sind «normal» oder «durchschnittlich» ausgelastet. Kurz: Es herrscht weder übermässige Arbeitslosigkeit noch Inflation, weder Rezession noch Hochkonjunktur.

Die Differenz zwischen der tatsächlichen (beobachtbaren) Produktion einer Volkswirtschaft, gemessen am realen Bruttoinlandprodukt (BIP), und dem geschätzten Produktionspotenzial ist die sogenannte Produktionslücke. Herrscht Überauslastung, übersteigt die tatsächliche Produktion das Produktionspotenzial: Die Produktionslücke ist positiv. Eine negative Produktionslücke bedeutet hingegen, dass die Produktionsfaktoren unterausgelastet sind.

Die konjunkturell angemessene Wirtschaftspolitik finden

Die Produktionslücke hilft, die Konjunkturlage zu verstehen und entsprechend einzuordnen. Beispielsweise ist im Fall einer negativen Produktionslücke (Unterauslastung) ein beschleunigtes Wirtschaftswachstum zu begrüssen. Beträgt die Produktionslücke allerdings null (tatsächliche Produktion = Potenzial), könnte eine zusätzliche Wachstumsbeschleunigung die Wirtschaft überhitzen und damit zu Preis‑ und Lohndruck führen.

Typischerweise fällt die Wirtschaftsleistung während einer Rezession unter das Potenzial, wodurch eine negative Produktionslücke entsteht. Um die Konjunktur zu stabilisieren, wäre jetzt eine expansive Geld- und Fiskalpolitik zielführend. So wirken etwa die Arbeitslosenversicherung und die Geldpolitik der Zentralbank antizyklisch und stabilisierend auf die Konjunktur. Aber nicht nur sie.

Stabilisierende Schuldenbremse

Auch die Schuldenbremse des Bundes wirkt konjunkturstabilisierend, allerdings in einem geringeren Umfang. Das Kernstück der Schuldenbremse besteht aus einer einfachen Ausgabenregel: Die jährliche Obergrenze für die ordentlichen Ausgaben wird an die Höhe der ordentlichen Einnahmen gebunden. Damit sich die konjunkturbedingten Einnahmenschwankungen nicht auf den Ausgabenplafond übertragen, werden die Einnahmen um einen Faktor korrigiert, der die konjunkturelle Lage berücksichtigt: den sogenannten Konjunkturfaktor. Er wird aus der Produktionslücke abgeleitet und beschreibt das Verhältnis vom Trend-BIP (Produktionspotenzial) zum aktuellen BIP.[1]

In der Hochkonjunktur bewirkt der Konjunkturfaktor, dass der Ausgabenplafond unter den stärker ansteigenden Einnahmen liegt: Der Bund muss einen Finanzierungsüberschuss erwirtschaften. Das dämpft die Nachfrage und hilft, eine Überauslastung der Volkswirtschaft zu vermeiden. Umgekehrt lässt die Formel in Rezessionen ein Defizit zu. Somit wirkt die Schuldenbremse passiv antizyklisch. Der Ausgabenplafond bleibt stabil, während die Einnahmen konjunkturbedingt schwanken. Dies stabilisiert auch die Bundesfinanzen.

Unterauslastung bis 2025

Seit Dezember 2019 veröffentlicht das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) vierteljährlich aktualisierte Zeitreihen zum Potenzialwachstum und zur Produktionslücke der Schweizer Volkswirtschaft (siehe Kasten). Die Schätzungen basieren auf einer Produktionsfunktion, wobei die Trendkomponenten gemäss dem von der Europäischen Kommission (EK-Methode) entwickelten Vorgehen berechnet werden.[2] Die EK-Methode ist aus dem Stabilitäts- und Wachstumspakt hervorgegangen und bei der Europäischen Kommission zu einem wesentlichen Bestandteil der haushaltspolitischen Überwachung ihrer Mitglieder geworden.

Grundlage für die Berechnung sind zum einen historische Daten zur Schweizer BIP‑Entwicklung, zum Kapitalstock und zum Arbeitsmarkt. Zum anderen dienen die Prognosen der Expertengruppe Konjunkturprognosen des Bundes[3] sowie die Bevölkerungsszenarien des Bundesamts für Statistik als Basis. Sie erlauben es, das Produktionspotenzial und die Produktionslücke auch für die kommenden Jahre zu berechnen. Die Daten sind auf Jahresfrequenz verfügbar und gehen aktuell von 1980 bis 2070.[4]

Für die Jahre 2023 und 2024 erwartet die Expertengruppe Konjunkturprognose des Bundes gemäss ihrer Prognose vom 20. September 2023[5] ein unterdurchschnittliches BIP-Wachstum für die Schweiz (siehe Abbildung). Das Wachstum des Produktionspotenzials dürfte in derselben Zeitspanne deshalb höher ausfallen, sodass sich die Produktionslücke gegen unten öffnet. Für die Schuldenbremse bedeutet das, dass ein gewisses Finanzierungsdefizit zulässig sein wird. Da ab 2025 mit einer gewissen Erholung der Wirtschaftsaktivität gerechnet werden kann, dürfte sich die Produktionslücke in den Jahren danach wieder schrittweise schliessen.

Der Voranschlag 2024 wurde bereits am 28. Juni 2023 vom Bundesrat verabschiedet. Die Einschätzung der Konjunkturlage und der Produktionslücke hat sich seither trotz substanziellen Revisionen der zugrunde liegenden Daten wenig verändert (siehe Kasten).

BIP, Produktionspotenzial und Produktionslücke, inkl. Mittelfristszenarien (1995–2031)

INTERAKTIVE GRAFIK
Anmerkung: Die Daten sind real, saison-, kalender- und Sportevent-bereinigt, gemäss Schätzung vom 20. September 2023.
Quelle: Seco / Die Volkswirtschaft
  1. Mehr Informationen auf Efv.admin.ch. []
  2. Für mehr Informationen zur Methodik siehe Seco.admin.ch sowie Havik, K., Mc Morrow, K., Orlandi, F., Planas, C., Raciborski, R., Röger, W., Rossi, A., Thum-Thysen, A., Vandermeulen, V., et al. (2014). The Production Function Methodology for Calculating Potential Growth Rates & Output Gaps. Technical Report, Directorate General Economic and Financial Affairs (DG ECFIN), European Commission. []
  3. Siehe Konjunkturprognosen auf Seco.admin.ch. []
  4. Siehe Potenzialwachstum auf Seco.admin.ch. []
  5. Siehe Konjunkturprognosen auf Seco.admin.ch. []

Zitiervorschlag: Philipp Wegmüller, Felicitas Kemeny (2023). Wie die Schuldenbremse die Konjunktur berücksichtigt. Die Volkswirtschaft, 14. November.

So werden Produktionspotenzial und -lücke bestimmt

Zur Schätzung des Produktionspotenzials können verschiedene Methoden verwendet werden. Alle haben sie aber gemeinsam, dass sie die beobachtete gesamtwirtschaftliche Produktion, gemessen am realen Bruttoinlandprodukt (BIP), in eine Trend- und eine Zykluskomponente unterteilen. Der Trend wird dabei als Mass für das Produktionspotenzial der Wirtschaft interpretiert. Die Produktionslücke entspricht der Differenz zwischen der tatsächlichen (beobachtbaren) Produktion und dem geschätzten Produktionspotenzial. Allerdings: Die Resultate können je nach Schätzmethode voneinander abweichen, vor allem am aktuellen Rand und im Speziellen an wirtschaftlichen Wendepunkten. Für die Einschätzung der mittel‑ und langfristigen Wirtschaftsentwicklung eignet sich insbesondere eine Produktionsfunktion, da sie strukturelle Entwicklungen in den Faktoren Arbeit und Kapital aufnimmt.

Eine Herausforderung in der Bestimmung des Produktionspotenzials sind Revisionen der den Berechnungen zugrunde liegenden Daten. Im Sommer 2023 wurde beispielsweise das BIP der Jahre 2020 bis 2022 substanziell nach oben revidiert. Auch im 1. Quartal 2023 war das BIP‑Niveau nach der Revision über 2 Prozent respektive gut 5 Milliarden Franken höher als vor der Revision veranschlagt.a Dies führte unmittelbar zu Revisionen im Produktionspotenzial, das ebenfalls höher eingeschätzt wurde als vor der BIP-Revision. Letztlich veränderten sich dadurch auch die Produktionslücke und der Konjunkturfaktor. Die Einschätzung der Konjunkturlage bleibt damit jeweils eine Momentaufnahme und ist mit entsprechender Unsicherheit verbunden.

 

a Siehe Konjunkturtendenzen Herbst 2023 auf Seco.admin.ch.