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Das Vertrauen in die Wirtschaftsfreiheit schwindet

Noch nie fand in der Schweiz eine Volksinitiative zum Rentenausbau eine Mehrheit. Dies könnte sich 2024 ändern. Denn die Hemmschwelle für Staatsinterventionen sinkt in der Bevölkerung.
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Das Ende der Credit Suisse hat die Skepsis gegenüber der freien Wirtschaft verstärkt. Ulrich Körner, CEO der Credit Suisse, verlässt an der Generalversammlung im April 2023 die Bühne. (Bild: Keystone)

«6 Wochen Ferien für alle» – das versprach 2012 eine Volksinitiative des Gewerkschaftsdachverbands Travailsuisse. Dieses Versprechen sorgte vor allem im Ausland für Aufsehen. Die Vorstellung, dass sich die Bevölkerung eines Landes per Stimmentscheid, ohne Rücksprache mit der Arbeitgeberschaft, mehr Ferien geben kann, wirkte spektakulär. In der Schweiz selbst sorgte die Initiative hingegen für wenig Gesprächsstoff. Wer sich in der hiesigen Politik auskannte, wusste, dass die Initiative keine Chancen hatte. Tatsächlich sprach sich am Schluss nur ein Drittel der Stimmenden für die Vorlage aus, und sämtliche Kantone lehnten sie ab.

Die Abstimmung ebenso wie deren Ablehnung sind Sinnbild für eine Kultur des gegenseitigen Vertrauens, die charakteristisch ist für die Schweiz. Nur hier können die Stimmberechtigten auf nationaler Ebene direkt an den wichtigsten sach- und damit auch wirtschaftspolitischen Weichenstellungen mitwirken. Im Gegenzug durfte sich die Wirtschaft in vielen Bereichen selbst regulieren – so zum Beispiel im Banken- und Finanzsektor. Zu diesem impliziten Schweizer Gesellschaftsvertrag gehört, dass das gegenseitig geschenkte Vertrauen in Form von Mitverantwortung fürs Ganze zurückgezahlt wird: Im OECD-Vergleich sorgen Schweizer Unternehmen für ein eher ausgeglichenes Lohngefüge, und die Stimmbevölkerung hält sich zurück mit Forderungen wie jener der Ferieninitiative.

Der liberale Gemeinsinn schwächelt

Bis jetzt. Denn dieser eigenwillige liberale Gemeinsinn der Schweiz hat an Kraft verloren. 2024 wird eine Initiative des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds (SGB) zur Abstimmung kommen, die eine 13. AHV-Rente für alle fordert. Und anders als die Ferieninitiative von 2012 hat diese Initiative reelle Chancen. In einer aktuellen Umfrage[1] unseres Instituts Sotomo sprechen sich bemerkenswerte 70 Prozent dafür aus, darunter auch eine Mehrheit der FDP- und SVP-Wählenden. Im Verlauf des Abstimmungskampfs sinkt in der Regel die Zustimmung zu wirtschaftspolitischen Volksinitiativen. Doch in diesem Fall sind viele Meinungen schon gemacht.

Eine Zustimmung wäre ein Novum. Keine einzige der neun bisherigen Initiativen zum Ausbau der AHV-Rentenleistungen wurde angenommen. Die bisher höchste Zustimmung erzielte die Initiative «Für ein flexibles Rentenalter ab 62 für Frau und Mann» im Jahr 2000 mit 46 Prozent. Volksinitiativen zu mehr Staatsinterventionismus waren bis vor Kurzem nicht mehrheitsfähig. Doch dann stimmten im Jahr 2020 knapp 51 Prozent für die sogenannte Konzernverantwortungsinitiative. Letztlich scheiterte diese am Ständemehr. Doch ein Jahr später sprachen sich 61 Prozent für die Pflegeinitiative aus, und 2022 stimmten 57 Prozent für die Initiative «Kinder ohne Tabak», die ein weitgehendes Werbeverbot für Tabakprodukte forderte.

Sympathien für staatliche Kontrollen nehmen zu

Diese neuartigen Initiativerfolge sind Indizien dafür, dass das Verhältnis von Bevölkerung, Wirtschaft und Staat in Bewegung ist. Gemäss einer aktuellen Auswertung von Nachabstimmungsbefragungen haben sich die politischen Grundwerte seit den späten 1990er-Jahren langsam, aber kontinuierlich verändert. So fordert etwa ein immer geringerer Bevölkerungsteil in der Wirtschaft «mehr Wettbewerb». Stattdessen wird der Ruf nach mehr staatlicher Kontrolle immer lauter (siehe Abbildung 1). Das Vertrauen in eine sich selbst regulierende Wirtschaft erodiert. Dieser Wandel geht einher mit einer tendenziell zunehmenden Skepsis gegenüber Europa und Migration.

Abb. 1: Der Zuspruch der Wahlbevölkerung zu Wettbewerb, EU und Migration nimmt ab (1995–2022)

Anmerkung: Die Abbildung zeigt, wie sich die Grundhaltungen der Stimmbevölkerung sowie der Parteianhänger in den drei Themenfeldern entwickelt haben. Eigene Berechnung auf Grundlage der Vox-Nachabstimmungsbefragungen von 1995 bis 2022.
Quelle: Eigene Darstellung des Autors / Die Volkswirtschaft

Nicht nur Linke fordern mehr Staat

Bemerkenswert ist dabei vor allem, dass der Rückhalt für einen ausgebauten Sozialstaat markant zugenommen hat. Und dies, obwohl der Wähleranteil der linken Parteien in der Schweiz seit Jahrzehnten bei rund 30 Prozent verharrt. Grundsätzlich ist das nicht überraschend. Denn tektonische Veränderungen im politischen Gefüge lassen sich nicht immer an den Wählerstärken der Parteien ablesen. Relevante Veränderungen geschehen dann, wenn sich die Meinungen quer durch die politischen Lager verändern. Und das trifft hier zu. Wie Abbildung 1 zeigt, hat sich die Haltung zur Rolle des Staats in der Wirtschaft bei den Anhängerschaften aller grösseren Parteien gewandelt. Der Rückhalt für wettbewerbliche Lösungsansätze erodiert besonders auf der linken, aber eben auch auf der rechten Seite des Parteienspektrums – selbst bei der wirtschaftsnahen FDP.

Im Unterschied zu den Wählern können Parteien ihr politisches Profil nicht ohne Weiteres ändern. Sie sind an ihr Programm und an die ihnen traditionell beigemessenen Werte gebunden. Dies gilt besonders bei Themen, wo sie sich mit klaren Positionen profilieren. Beim Verhältnis von Wirtschaft und Staat sprechen sich die linken Parteien SP und Grüne fast immer für mehr Staat aus, während FDP und SVP ebenso oft auf der Bremse stehen. Für die Dynamik sorgen also die Parteien dazwischen. Die beiden einzigen Parteien, die sich seit den frühen 2010er-Jahre markant im politischen Raum bewegt haben, sind die Grünliberalen (GLP) und Die Mitte (ehemals CVP und BDP). Beide Parteien haben sich seither nach links bewegt und sind damit der Stimmbevölkerung und dem Zeitgeist gefolgt (siehe Abbildung 2).

Wenn sich die Parteien des Mittespektrums Richtung links bewegen, wirkt sich dies auf die Entscheidungsfindung und die Mehrheitsbildung im Parlament aus – und zwar viel stärker als der moderate Rechtsrutsch bei den eidgenössischen Wahlen 2023.

Der Zeitgeist verschiebt sich nach links (2011–2023)

Anmerkung: Datengrundlage sind die Parteiparolen zu den eidgenössischen Volksabstimmungen seit 2011. Die Linksverschiebung der Schweizer Stimmbevölkerung wurde anhand der Ja-Anteile bei den jeweiligen Volksabstimmungen ermittelt. Zur Normierung der Ergebnisse fliessen Initiativen, die in der Regel eine tiefere Zustimmung erzielen, und Referenden mit je 50 Prozent in die Positionsberechnungen ein.
Quelle: Eigene Darstellung des Autors / Die Volkswirtschaft

 

Die Wirtschaft ist nicht unschuldig

Der gesteigerte Wunsch der Schweizer Bevölkerung nach staatlicher Intervention ist kein völlig neues Phänomen. Die liberale Wirtschafts- und Sozialpolitik erodiert bereits seit den späten 1990er-Jahren, wie Abbildung 1 zeigt. Nach Ende des Kalten Kriegs kam es damals in der Schweiz zu einer gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Öffnung, welche den eingangs angesprochenen schweizerischen Gesellschaftsvertrag, der auf Zurückhaltung und Mitverantwortung beruht, infrage stellte. Internationale Verflechtungen und die Globalisierung haben zur Erosion schweizerischer Eigenheiten beigetragen. Die aus dem späten 19. Jahrhundert stammende Idee eines «Sonderfalls» Schweiz verlor an Leuchtkraft. Die fortschreitende Globalisierung und der internationale Wettbewerbsdruck haben offenbar auch das Bedürfnis nach Schutz und sozialer Sicherung erhöht.

Nicht unschuldig an der Erosion des impliziten Gesellschaftsvertrags ist allerdings auch die Wirtschaft selbst. Vom Swissair-Grounding über die UBS-Rettung in der Wirtschaftskrise der Nullerjahre bis zum Ende der Credit Suisse: Masslose Bonizahlungen und Konzernrettungen mit Steuergeldern haben die Forderung nach Masshalten sowie nach sozial- und wirtschaftspolitischer Zurückhaltung auf ganz eigene Weise infrage gestellt.

  1. Siehe Sotomo-Umfrage zur «Initiative für eine 13. AHV-Rente» im Auftrag des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds. []

Zitiervorschlag: Hermann, Michael (2023). Das Vertrauen in die Wirtschaftsfreiheit schwindet. Die Volkswirtschaft, 11. Dezember.