Bundesratsreise 2022 am Rheinfall in Neuhausen SH: Hält der Bundesrat zusammen? (Bild: Keystone)
«Wir stehen zur Konkordanz» (Thierry Burkart)[1] versus «Die Konkordanz ist am Ende» (Gerhard Pfister)[2]: Zwanzig Jahre nach der Nichtwiederwahl von Bundesrätin Ruth Metzler-Arnold (damals CVP) zugunsten eines zweiten SVP-Sitzes und vier Jahre nach der «grünen Welle» steht die Konkordanzdemokratie am Scheideweg. In unzähligen «Elefantenrunden» wurde sie schon beerdigt, totgesagt oder als reines «Machtkartell»[3] verschrien. Und trotzdem unterstützt eine Mehrheit der Bevölkerung den hiesigen Demokratietyp nach wie vor.
Zur Konkordanz gezwungene Elite
«Ich bin keine Konsenspolitikerin, ich bin eine Überzeugungstäterin», liess die britische Premierministerin Margaret Thatcher bei der Übernahme des Parteivorsitzes der Tories 1979 sinngemäss verlauten.[4] Sie ging davon aus, dass ein unbeirrtes Einstehen für die eigenen ideologischen Überzeugungen mit einem kompromissorientierten Politikstil unvereinbar sei. Just jene Kultur des gütlichen Einvernehmens war es jedoch, die die multikulturellen, kleineren Demokratien wie Belgien, Österreich, Niederlande und Schweiz in der Nachkriegszeit prägte. Die politische Elite folgte ganz bestimmten «Spielregeln»; rang allen tiefgreifenden Differenzen zum Trotz nach pragmatischen Lösungen, um den sozialen Frieden zu erhalten und die Wohlfahrt zu befördern.
Freilich, dieses konkordante Eliteverhalten war keineswegs nur selbst gewählt. Vielmehr bettete es sich in verschiedene Kerninstitutionen ein, die für die Konkordanzdemokratie ebenso charakteristisch sind: eine übergrosse Regierungskoalition, das Proportionalitätsprinzip, regionale Autonomie in Gestalt eines starken Föderalismus und Vetorechte für Minderheiten. All diesen Kerninstitutionen sind ausgeprägte Konkordanzzwänge gemein: Sie verunmöglichen eine Politik nach dem einfachen Mehrheitsprinzip und verlangen den Einbezug möglichst vieler.
Goldene Zeiten und allmählicher Verruf
Nichts illustriert die «Hochblüte» der hiesigen Konkordanzdemokratie besser als die legendäre Bundesratswahl 1959. Die Einspruchsmöglichkeiten des fakultativen Gesetzesreferendums ebenso wie das (einigermassen) proportionale Abbild des Wählerwillens im Parlament geboten Einbindung. Ansonsten drohte stets Blockade. So einigten sich die Parteioberen nach einer bewusst herbeigeführten Vierervakanz auf den Schlüssel «2:2:2:1».
Die Zauberformel war ein Elitekompromiss, um den nach Einbindung verlangenden bisherigen Kerninstitutionen der direkten Demokratie und des Verhältniswahlrechts stattzugeben. Gleichzeitig begründete sie mit der ständigen Vierparteienkoalition einen neuen, zum eigentlichen Inbegriff der Konkordanz werdenden Pfeiler. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war die Schweiz also unter anderem deshalb ein Extrembeispiel einer Konkordanzdemokratie, weil die politische Elite nicht nur gewillt war, nach den Anforderungen der institutionellen Konkordanzarchitektur zu spielen, sondern weil sie überdies immer neue Formen des immerwährenden Verhandelns und Zusammenwirkens erprobte. Neben die Zauberformel gesellten sich etwa auch das sich verstetigende Vernehmlassungsverfahren, allerlei «runde Tische» und vermehrt «konferenzähnliche» Zusammenkünfte von Bund und Kantonsregierungen.
Der Elitenkompromiss gerät in Verruf
Je mehr die Nachkriegsidylle mit ihrem beispiellosen Wohlstand den Unsicherheiten globaler Umwälzungen wie den Wirtschaftskrisen oder dem Fall des Eisernen Vorhangs wich, desto stärker geriet die hiesige Konkordanzdemokratie unter Druck. Exemplarisch dafür stehen die dramatischen Veränderungen in der Parteienlandschaft, die ihren Ausdruck im fortschreitenden Siegeszug der Schweizerischen Volkspartei (SVP) fanden. Dieser beispiellose Aufstieg gründete in der neuen Konfliktlinie um aussenpolitische Öffnung und Abschottung, die im Schatten des sich beschleunigenden europäischen Einigungsprozesses aufbrach.
Die SVP perfektionierte rechtspopulistische Stilelemente wie das bewusste Schüren von Angst vor «dem Fremden»; sie stellte sich ausdrücklich gegen den «Filz» einer die Bedürfnisse des «einfachen Volkes» vernachlässigenden, weil nur unter sich kooperierenden Elite. Auf Druck der pazifistischen, ökologischen und feministischen neuen sozialen Bewegungen, die für basisdemokratische Ideale eintraten, geriet der lagerübergreifende Elitekompromiss auch auf der linken Seite zunehmend in Verruf (SP, Grüne).
Vielgestaltige Polarisierungsspirale
Die Folge von alldem war und ist eine im europäischen Vergleich enorm starke Polarisierung. Sie zeigt sich einerseits in einem dreipoligen Parteiensystem (links, Mitte, rechtsbürgerlich/rechtspopulistisch). Wie politikwissenschaftliche Studien zeigen[5], liegen die Positionen der politischen Parteien nirgendwo sonst so weit auseinander wie hierzulande. So gleicht das Profil der SP Schweiz nicht etwa ihren europäischen Schwesterparteien wie beispielsweise der deutschen SPD, sondern der postsozialistischen Partei Die Linke. Und die SVP würde im Europäischen Parlament der Fraktion «Identität und Demokratie» angehören, in der sich rechtspopulistische und nationalkonservative Kräfte wie die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) sammeln.
Andererseits schlägt sich die Polarisierung auch in den Einstellungen der Wählenden nieder. Der Anteil jener, die sich in der politischen Mitte verorten, hat sich zwischen 1995 und 2019 halbiert. Heute rechnet sich nicht einmal jeder fünfte Wähler dem Zentrum zu.[6] SP- und SVP-Anhängerschaften begegnen einander vermehrt mit Missgunst. Das heisst: Sie sind affektiv polarisiert.
Es ergibt sich eine eigene «Polarisierungsspirale»: In der Bundesversammlung pochen die Fraktionsleitungen auf eiserne Disziplin und sanktionieren Abweichler mit Geldbussen.[7] Das durchschnittliche Nationalratsmitglied stimmt heute in sagenhaften 97 Prozent aller Abstimmungen streng auf Parteilinie.[8]
In unserem nicht parlamentarischen System müssen die Mehrheiten fallweise gesucht werden. Doch in den Dossiers, die die eigenen Kernthemen berühren, wählen die Parteien lieber den Alleingang – insbesondere die SVP in der Migrationspolitik. Seit der Einführung der elektronischen Abstimmungsanlage verstärkte sich dieser Parteidruck auch im Ständerat, der lange Zeit als eigentlicher «Hort der Konkordanz» galt.[9]
Die «Alle gegen die SVP»-Koalition ist auf dem Vormarsch; gleichzeitig ist die «Konkordanzkoalition», in der die vier Bundesratsparteien im Parlament ad hoc zusammenspannen, zur Seltenheit geworden. Fassten SP, Mitte, FDP und SVP in den 1950er-Jahren noch in 83 Prozent aller Volksabstimmungen dieselbe Parole, ist dieser Konkordanzindikator in der 51. Legislatur (2019–2023) auf 8,3 Prozent geschrumpft (siehe Abbildung).[10] Gegenüber der eigenen Wählerschaft verkaufen die Parteien isolierte Positionsbezüge als Erfolg, indem sie über die sozialen Medien quasi in Echtzeit namentliche Abstimmungslisten in Umlauf bringen. An der Urne belohnen die Wählenden ebendiese «ideologische Standhaftigkeit» der Polparteien, wohingegen die als erfolgreiche Mehrheitsmacher agierenden Mitteparteien elektoral kontinuierlich Verluste hinnehmen müssen.
Fehlendes Gleichgewicht
Heute stehen sich also zwei gegensätzliche Handlungslogiken gegenüber: Auf der einen Seite ist die politische Elite im Parlament, zeitweise aber auch im Bundesrat, welcher der Wille zur lagerübergreifenden, pragmatischen und kooperativen Konsenssuche abhandenkam. Auf der anderen Seite wirken jedoch die starken Beharrungskräfte der von hoher intertemporaler Stabilität gekennzeichneten Konkordanzinstitutionen. Dazu zählen der Föderalismus, das starke Minderheitenveto von Ständerat bzw. Ständemehr und die direkte Demokratie ebenso wie die immer noch breit abgestützten Mehrparteienregierungen; im Bund ebenso wie in den Kantonen. Im frühen 21. Jahrhundert ist die Schweiz daher eine aus der Balance geratene Konkordanzdemokratie, die zunehmend konkurrenzdemokratischem Druck unterworfen ist.
Offen bleibt, wie die hiesige Konkordanzdemokratie mit diesem offensichtlichen Spannungsverhältnis zwischen unkonkordantem Eliteverhalten und weiterhin starke Konkordanzzwänge entfaltenden Institutionen umgeht. Weil in der Direktdemokratie systembedingt dem Stimmvolk die Oppositionsrolle zukommt, sind die Hindernisse für einen Wechsel zu einem parlamentarischen System bekanntlich sehr hoch, wenn auch nicht unüberwindbar. Im europäischen Vergleich gibt es nämlich durchaus Anzeichen, dass eine für den Wähler klar zuzuordnende Regierungsverantwortung die Polarisierungsspirale zu brechen vermag. Dort haben regierende Parteien, die lautes Bellen über die Problemlösung stellen, eine Abwahl zu befürchten – ganz anders als in der Schweiz.
Die Bundesratsparteien sind sich bei Volksabstimmungen immer weniger einig (1941–2023)
- Siehe Benjamin Rosch, Patrik Müller (2023). Wie Gott aus der Schweizer Politik verschwunden ist. «Watson», 30. Juli. []
- Siehe Christoph Lenz (2020). «Sonst ist die Konkordanz am Ende». «Tages-Anzeiger», 7. Januar. []
- Siehe Forster (2022). []
- «I am not a consensus politician. I am a conviction politician.» Siehe «A Tory Wind of Change.» «Time Magazine». 14. Mai 1979. []
- Siehe Bochsler, Hänggli und Häusermann (2015). []
- Siehe Brupbacher und Cornehls (2023). []
- Siehe Bailer und Büttikofer (2015). []
- Siehe Smartmonitor.ch (Stand: 8. November 2023). []
- Siehe Benesch, Bütler und Hofer (2018) []
- Siehe Vatter (2020), S. 540. Aktualisiert für den Zeitraum 2020–2023 gestützt auf Daten von Swissvotes (2023). []
Literaturverzeichnis
- Bailer, Stefanie und Sarah Bütikofer (2015). From Loose Alliances to Professional Political Players: How Swiss Party Groups Changed. In: Swiss Political Science Review, Vol. 21, Issue 4, S. 556–577.
- Benesch, Christine, Monika Bütler und Katharina E. Hofer (2018). Transparency in Parliamentary Voting. Journal of Public Economics, Vol. 163, S. 60-76.
- Bochsler, Daniel, Regula Hänggli und Silja Häusermann (2015). Introduction: Consensus Lost? Disenchanted Democracy in Switzerland. In: Swiss Political Science Review, Vol. 21, Issue 4, S. 475–490.
- Brupbacher, Marc und Svenson Cornehls (2023). So polarisiert ist die Schweiz – ein grafischer Überblick. Auf Tagesanzeiger.ch, 7. Oktober.
- Forster, Christoph (2022). Die Grünen verschieben ihren Angriff auf das «Machtkartell» um ein Jahr. Auf NZZ.ch, 18. Oktober.
- Vatter, Adrian (2020). Das politische System der Schweiz, 4. Auflage. Baden-Baden: Nomos.
Bibliographie
- Bailer, Stefanie und Sarah Bütikofer (2015). From Loose Alliances to Professional Political Players: How Swiss Party Groups Changed. In: Swiss Political Science Review, Vol. 21, Issue 4, S. 556–577.
- Benesch, Christine, Monika Bütler und Katharina E. Hofer (2018). Transparency in Parliamentary Voting. Journal of Public Economics, Vol. 163, S. 60-76.
- Bochsler, Daniel, Regula Hänggli und Silja Häusermann (2015). Introduction: Consensus Lost? Disenchanted Democracy in Switzerland. In: Swiss Political Science Review, Vol. 21, Issue 4, S. 475–490.
- Brupbacher, Marc und Svenson Cornehls (2023). So polarisiert ist die Schweiz – ein grafischer Überblick. Auf Tagesanzeiger.ch, 7. Oktober.
- Forster, Christoph (2022). Die Grünen verschieben ihren Angriff auf das «Machtkartell» um ein Jahr. Auf NZZ.ch, 18. Oktober.
- Vatter, Adrian (2020). Das politische System der Schweiz, 4. Auflage. Baden-Baden: Nomos.
Zitiervorschlag: Vatter, Adrian; Freiburghaus, Rahel (2023). Die Konkordanzdemokratie in der Polarisierungsspirale. Die Volkswirtschaft, 08. Dezember.