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Mehr Nachahmung dank Föderalismus

Die Vielzahl an Kantonen und Gemeinden ist einer der Erfolgsfaktoren des Schweizer Modells. Die Tendenz, einander nachzuahmen, und der regulierte Wettbewerb zwischen den öffentlichen Körperschaften sorgen unter anderem für mehr Wohlstand und gesündere öffentliche Finanzen.
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Landsgemeinde in Appenzell. Die öffentlichen Ausgaben von Kanton und Gemeinden in Appenzell Innerrhoden entsprechen einem 125stel der Ausgaben des Kantons Zürich. (Bild: Keystone)

Ein Markt kann nur funktionieren, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Dazu gehört insbesondere die «Atomisierung», das heisst die Präsenz zahlreicher Akteure, welche die Dominanz eines Einzelnen verhindern. Dasselbe gilt für das reibungslose Funktionieren eines institutionellen Systems. Zahlen belegen, dass die politischen Institutionen der Schweiz diese Voraussetzung recht gut erfüllen. Doch sind die positiven Eigenschaften von Effizienz und Wirksamkeit, die man den Marktmechanismen zuschreibt, auch in der öffentlichen Politik zu finden? Mit dieser Frage befasst sich der vorliegende Artikel.

In einer vertikalen Perspektive stellt man fest, dass zwischen 1990 und 2025 die Staatsquoten aller institutionellen Ebenen (Bund, Kanton oder Gemeinde) mehr oder weniger ähnlich hoch waren (siehe Abbildung 1). Derzeit betragen die Ausgaben sämtlicher öffentlicher Verwaltungen der Schweiz, einschliesslich der staatlichen Sozialversicherungen, 32 Prozent des BIP. Im Jahr 2020 erreichte dieser Anteil infolge der Corona-Pandemie einen Höchststand (zum Vergleich: Der OECD-Durchschnitt lag 2023 bei 42%). Die Ebene der 26 Kantone machte dabei 13 Prozentpunkte aus, der Bund 11 Punkte und die Gemeinden 7 Punkte.[1] Jede Ebene trägt somit in ähnlicher Weise zur Staatsquote in der Wirtschaft bei.

Abb. 1: Jede institutionelle Ebene trägt ähnlich viel zur Staatsquote bei (1990–2025)

INTERAKTIVE GRAFIK
Anmerkungen: Buchhaltungsdaten für die Jahre 1990 bis 2021, Prognosen für die Jahre 2022 bis 2025, Modell GFS.
Quelle: EFV (2023a) / Die Volkswirtschaft

 

Ein fragmentiertes Regierungsgeflecht

In einer horizontalen Perspektive ist das schweizerische Regierungsgeflecht mit 26 Kantonen recht stark zerstückelt. In den rund 30 anderen Ländern weltweit, die auch als Bundesstaaten gelten, ist die Fragmentierung weniger ausgeprägt: 6 Bundesstaaten in Australien, 6 Gemeinschaften und Regionen in Belgien, 9 Bundesländer in Österreich, 13 Provinzen und Territorien in Kanada und 16 Bundesländer in Deutschland. Innerhalb der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) sind nur Mexiko und die USA mit 31 beziehungsweise 50 Einheiten noch zerstückelter. Zur kantonalen Fragmentierung kommt jene auf Gemeindeebene hinzu. Mit etwas mehr als 2000 Kommunen  hat die Schweiz 2023 trotz den jüngsten Fusionen im europäischen Vergleich immer noch recht viele Gemeinden.

Natürlich übertrifft der Kanton Zürich mit seiner Einwohnerzahl alle anderen Kantone.[2] Diese Überlegenheit wird noch erdrückender, wenn man die Staatsquote betrachtet: Zählt man die kantonale und die kommunale Ebene[3] zusammen, verkörpern die Ausgaben der öffentlichen Hand in Zürich 3,6 Prozent des nationalen BIP. Sie fallen damit fast doppelt so hoch aus wie jene der Berner Körperschaften und betragen gar das 125-Fache der Kantons- und Gemeindeausgaben in Appenzell Innerrhoden (siehe Abbildung 2).

Abb. 2: Die Staatsquote von Kantonen und ihren Gemeinden variiert schweizweit (2021)

INTERAKTIVE GRAFIK
Anmerkung: Buchhaltungsdaten, Modell der Finanzstatistik
Quelle: EFV (2023b) / Die Volkswirtschaft

 

Kein langfristiges Monopol

Zusammen mit dem Prinzip der Subsidiarität und der Souveränität, über die jeder Kanton im Steuerwesen verfügt, fördert eine solche Fragmentierung den Wettbewerb und verringert das Risiko einer institutionellen Blockade. Ein Kanton oder eine Gemeinde können langfristig keine Monopolstellung einnehmen. Horizontale Koalitionen entstehen und vergehen je nach politischer Aktualität, was verhindert, dass die grossen Kantone ihre Anliegen systematisch durchsetzen können. Dies fördert die Effizienz der öffentlichen Verwaltung und die Wirksamkeit der staatlichen Politik. Der Ökonom Charles Tiebout[4] beschrieb bereits 1956 die Vorteile des Wettbewerbs zwischen dezentralen Körperschaften. Verschiedene Studien versuchten später die Leistungsfähigkeit von föderalistischen Strukturen mit jener von Einheitsstaaten zu vergleichen. Die internationale Literatur liefert dazu widersprüchliche Resultate.[5] Die Studien zur Schweiz hingegen belegen, dass die Vielfalt der innerstaatlichen Körperschaften und die direkte Demokratie Vorteile haben: höherer Wohlstand, geringere Steuerlast, solidere öffentliche Finanzen sowie höhere Wirtschaftsleistung.[6]

In einem Markt führt der Wettbewerb zur schöpferischen Zerstörung, wie sie der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter beschrieben hat. Es ist natürlich undenkbar, dass die Konkurrenz zwischen Kantonen oder Gemeinden die weniger leistungsfähigen Körperschaften verschwinden lassen würde. Tatsächlich hat der schweizerische Gesetzgeber dafür gesorgt, dass die dezentralen öffentlichen Körperschaften vor dem Insolvenzrisiko geschützt sind. Denn das Bundesgesetz von 1889 über Schuldbetreibung und Konkurs schliesst die Kantone und Gemeinden aus seinem Anwendungsbereich aus.[7] Und auch das Bundesgesetz von 1947 über die Schuldbetreibung gegen Gemeinden schliesst die Möglichkeit eines Konkurses oder eines Arrests aus.[8]

Regulierter Wettbewerb durch Finanzausgleich

Ein weiteres sinnvolles Instrument ist erst 2008 in Kraft getreten. Es schränkt das Risiko einer Abwärtsspirale ein, die durch den Steuerwettbewerb bei den Leistungen der öffentlichen Hand entstehen könnte. Diese Situation kann eintreten, wenn die Körperschaften ihren Steuersatz in der Hoffnung senken, damit neue Steuerzahler anzulocken, und dadurch ihre Steuereinnahmen gefährden. Dank dem Mechanismus des eidgenössischen Finanzausgleichs wird der Wettbewerb teilweise durch die nationale Solidarität ersetzt: Wirtschaftlich starke Kantone und der Bund unterstützen die finanziell schwächeren Kantone oder jene mit soziodemografisch sowie geografisch-topografisch höheren Lasten.

Der Finanzausgleich federt den Wettbewerb zwischen den Kantonen ab. Das Instrument hat sich als so wertvoll erwiesen, dass es auch innerhalb der Kantone zwischen den Gemeinden systematisch angewendet wird. Sicher: Die Funktionsweise ist noch verbesserungsfähig, beispielsweise durch eine noch bessere Ausgewogenheit bei der Berücksichtigung der geotopografischen und der soziodemografischen Lasten.[9] Doch über die Grundprinzipien des Finanzausgleichs ist man sich einig.

Die Vielfalt der Körperschaften innerhalb der Schweiz und der regulierte Wettbewerb gelten als Gründe für den Erfolg des institutionellen Modells unseres Landes. Das missfällt wohl jenen Personen, die immer wieder den Vorschlag äussern, unsere 26 Kantone zu grossen Regionen zusammenzulegen, die man an einer Hand abzählen könnte. Andere sind der Ansicht, der Föderalismus habe seine Grenzen erreicht. Natürlich kann die föderalistische Funktionsweise unserer Institutionen und unserer öffentlichen Politik noch weiter verbessert werden, beispielsweise in den Bereichen Gesundheit und Sicherheit. Zudem könnten einige Politiken besser koordiniert werden, hier durch mehr interkantonale Zusammenarbeit, dort durch eine stärkere Zentralisierung. Doch diese Überlegungen müssen spezifische Situationen, spezifische Bereiche betreffen, ohne dass die Schlüsselelemente des erfolgreichen Schweizer Modells infrage gestellt werden.

  1. Anteile nicht korrigiert um Finanztransfers zwischen den Ebenen. []
  2. Ende 2022 betrug die Wohnbevölkerung des Kantons Zürich 1,6 Mio. Personen. Seine Bevölkerungszahl ist damit 1,5-mal grösser als im Kanton Bern – dem einwohnermässig zweitgrössten Kanton – und 95-mal grösser als im Kanton Appenzell Innerrhoden, dem einwohnerschwächsten Kanton. []
  3. Die gleichzeitige Betrachtung der beiden Ebenen ermöglicht es, die Differenzen zwischen den Kantonen bei der Aufgabenverteilung zwischen kantonaler und kommunaler Ebene auszublenden. []
  4. Siehe Tiebout (1956). []
  5. Siehe insbesondere die Zusammenfassung von Martínez‐Vázquez et al. (2017). []
  6. Siehe insbesondere Feld und Kirchgässner (2001) sowie Brülhart und Jametti (2019). []
  7. Siehe Art. 30 Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs (SchKG, SR 281.1). []
  8. Siehe Art. 2 Bundesgesetz über die Schuldbetreibung gegen Gemeinden und andere Körperschaften des kantonalen öffentlichen Rechts (SR 282.11). []
  9. Siehe Soguel (2019). []

Literaturverzeichnis
  • Brülhart, M. und M. Jametti (2019). Does Tax Competition Tame the Leviathan? Journal of Public Economics, 177, 104037.
  • Eidgenössische Finanzverwaltung (2023a). Finanzstatistik. Wichtigste Aggregate und Prognosen (letztmals besucht im November 2023).
  • Eidgenössische Finanzverwaltung (2023b). Finanzstatistik. Detaillierte Daten FS. Kantone und ihre Gemeinden im Vergleich (letztmals besucht im November 2023).
  • Feld, L. P. und G. Kirchgässner(2001). The Political Economy of Direct Legislation: Direct Democracy and Local Decision-Making. Economic Policy, 16(33), 330–367.
  • Martínez‐Vázquez, J., S. Lago‐Peñas und A. Sacchi (2017). The Impact of Fiscal Decentralization: A Survey. Journal of Economic Surveys, 31(4), 1095–1129.
  • Soguel, N. (2019). Intergovernmental Fiscal Transfers and Equalization. In: A. Ladner, N. Soguel, Y. Emery, S. Weerts, & S. Nahrath (Hrsg.), Swiss Public Administration: Making the State Work Successfully (S. 291–305). Palgrave MacMillan.
  • Tiebout, C. M. (1956). A Pure Theory of Local Expenditures. Journal of Political Economy, 64(5), 416–424.

Bibliographie
  • Brülhart, M. und M. Jametti (2019). Does Tax Competition Tame the Leviathan? Journal of Public Economics, 177, 104037.
  • Eidgenössische Finanzverwaltung (2023a). Finanzstatistik. Wichtigste Aggregate und Prognosen (letztmals besucht im November 2023).
  • Eidgenössische Finanzverwaltung (2023b). Finanzstatistik. Detaillierte Daten FS. Kantone und ihre Gemeinden im Vergleich (letztmals besucht im November 2023).
  • Feld, L. P. und G. Kirchgässner(2001). The Political Economy of Direct Legislation: Direct Democracy and Local Decision-Making. Economic Policy, 16(33), 330–367.
  • Martínez‐Vázquez, J., S. Lago‐Peñas und A. Sacchi (2017). The Impact of Fiscal Decentralization: A Survey. Journal of Economic Surveys, 31(4), 1095–1129.
  • Soguel, N. (2019). Intergovernmental Fiscal Transfers and Equalization. In: A. Ladner, N. Soguel, Y. Emery, S. Weerts, & S. Nahrath (Hrsg.), Swiss Public Administration: Making the State Work Successfully (S. 291–305). Palgrave MacMillan.
  • Tiebout, C. M. (1956). A Pure Theory of Local Expenditures. Journal of Political Economy, 64(5), 416–424.

Zitiervorschlag: Soguel, Nils (2023). Mehr Nachahmung dank Föderalismus. Die Volkswirtschaft, 07. Dezember.