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Welche Gräben halten die Schweiz zusammen?

Die Schweiz wird durch ihre vielen gesellschaftlichen Gräben zusammengehalten. Dazu zählen unter anderem der Stadt-Land-, der Religions- oder der Öffnungs-Traditions-Graben. Entscheidend ist, dass sich diese Gräben überschneiden und es nicht zu bloss zwei Lagern kommt.
Die Schweiz hat viele gesellschaftliche Gräben – die sich gegenseitig abschwächen. Im Bild: Fans feuern die Fussballnationalmannschaft in mehreren Sprachen an. (Bild: Keystone)

Dass viele gesellschaftliche Gräben den Zusammenhalt begünstigen, erscheint auf den ersten Blick paradox. Aber es zeigt sich: Die Gräben überschneiden sich und schwächen so ihre polarisierende Wirkung ab. Gäbe es hingegen nur eine einzige unüberwindbare Teilung in zwei Lager, wäre dies eine grosse Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. In Belgien beispielsweise ist Wallonien ärmer als Flandern – jeder Sprachkonflikt wird somit immer auch zu einem Wirtschaftskonflikt und umgekehrt. Abbildung 1 zeigt dies generell für zwei Konfliktlinien.

Abb. 1: Schema: Überlappende versus sich überschneidende Konfliktlinien

Quelle: Eigene Darstellung der Autoren / Die Volkswirtschaft

In der Schweiz hingegen überschneiden sich die Konfliktlinien. Ein Beispiel: In tiefen Einkommensgruppen werden unterschiedliche Sprachen gesprochen und verschiedene religiöse Auffassungen gelebt. Diese Überschneidungen sind wissenschaftlich messbar mittels des Konzepts der Cross-Cuttingness.[1] Gemessen wird das Fehlen einer Korrelation zwischen zwei Dimensionen, also wie schwach sich zwei Merkmale gegenseitig beeinflussen: je geringer deren Korrelation, desto höher die Cross-Cuttingness (CC). Das heisst: Je weniger zum Beispiel von sprachlichen Merkmalen auf Reichtum geschlossen werden kann, desto höher ist die Cross-Cuttingness, und desto weniger klar abgegrenzt sind die Gräben.

Wir nutzen dieses Konzept, um zu verstehen, welche Konfliktlinien sich in der Schweiz überschneiden und welche gleichförmig verlaufen und sich so gegenseitig bestärken. Sieben Konfliktlinien werden auf Schweizer Gemeindeebene untersucht: Religion, Wirtschaft, Sprache, Zentrum-Peripherie, Stadt-Land, Staat-Markt und Öffnung-Tradition.[2] Wie stark hängt jede dieser Konfliktlinien mit den anderen zusammen? Die Daten werden auf Gemeindeebene erhoben und nicht bei der (Wahl-)Bevölkerung, weil dies erlaubt, die Konfliktlinien ohne die Probleme von Umfragedaten zu messen.[3]

Zu den einzelnen Konfliktlinien wird Folgendes untersucht: Der Religionskonflikt beinhaltet entweder den Unterschied zwischen Katholiken und Protestanten oder aber zwischen Personen mit Konfessions- oder Religionszugehörigkeit und solchen ohne.[4] Der Wirtschaftskonflikt unterscheidet zwischen wirtschaftlich besser- und schlechtergestellten Personen, was wir auf Gemeindeebene durch das durchschnittliche steuerbare Einkommen pro Einwohnerin oder Einwohner einer Gemeinde messen.[5] Der Sprachkonflikt beinhaltet Unterschiede zwischen den Mitgliedern der verschiedenen Sprachregionen, wobei vor allem der Unterschied zur Mehrheitssprache zentral ist.[6] Der Zentrum-Peripherie-Konflikt stellt den Unterschied zwischen Personen im Zentrum (v. a. der politischen Macht) und jenen weit davon entfernt dar, weshalb wir ihn durch die Fahrtzeit in Stunden von einer Gemeinde in die Bundesstadt Bern messen.[7] Der Stadt-Land-Konflikt beinhaltet die Unterschiede zwischen in städtischen und ländlichen Gebieten wohnenden Personen, was wir durch die kommunale Dichte erheben.[8] Der Staat-Markt-Konflikt stellt unterschiedliche Präferenzen von Arbeiterschaft und Kapital dar. Da dies als Gemeindeeigenschaft schwierig zu messen ist, ziehen wir hier die ideologische Differenz zwischen den Gemeinden anhand von Volksabstimmungen hinzu.[9] Dieselbe Problematik ergibt sich für den Öffnungs-Traditions-Konflikt, der einen Gegensatz darstellt zwischen Personen, die eher eine Öffnung der Schweiz befürworten, und jenen, für die der Schutz der Schweizer Traditionen prioritär ist.[10]

Wie stark unterscheiden sich die Gräben voneinander? Ausmass der Cross-Cuttingness

Anmerkung: Cross-Cuttingness wird berechnet als 1 – absoluter Wert (Korrelationskoeffizient); besonders tiefe CC-Werte (bzw. besonders hohe Korrelationen) sind grau hinterlegt.
Quelle: Eigene Berechnungen der Autoren / Die Volkswirtschaft

Die Tabelle verdeutlicht, dass es sowohl gesellschaftliche Konfliktlinien gibt, die überlappend verlaufen, als auch solche, die sich gegenseitig durchschneiden. Besonders stark überlappend sind der aktuelle Religions- (Anteil Konfessionslose) sowie der Öffnungs-Traditions-Konflikt: Beide korrelieren mit vergleichsweise vielen anderen Konfliktlinien. Zudem weisen sie auch ein tiefes Ausmass der Cross-Cuttingness zueinander aus (CC=0,54). Das heisst, dass jene Gemeinden, in denen relativ viele Konfessionslose wohnen, auch einen höheren Anteil an Personen aufweisen, die eher für eine politische Öffnung der Schweiz sind.

Während die Religion aber heute nur in wenigen politischen Fragen einen zentralen Faktor darstellt, spielt der Öffnungs-Traditions-Konflikt in zahlreichen Abstimmungen eine wichtige Rolle, wie Nachbefragungen zu Abstimmungen regelmässig zeigen. Auch gibt es immer mehr Abstimmungen, bei denen diese Frage prominent erscheint. Gleichzeitig korreliert der Öffnungs-Traditions-Konflikt mit der Bevölkerungsdichte, also dem Mass für den Stadt-Land-Konflikt. Dieser weist eine klare territoriale Dimension auf und kann somit kartografisch gut dargestellt werden (siehe Abbildung 2). Darüber hinaus korreliert der Öffnungs-Traditions-Konflikt mit den Sprachregionen und weist damit eine weitere regionale Dimension auf. So sind Traditionswerte in deutschsprachigen Gemeinden deutlich stärker ausgeprägt als in französischsprachigen.

Abb. 2: Dicht besiedelte und öffnungsaffine versus weniger dicht besiedelte und traditionsaffine Gemeinden

Anmerkung: Interaktion des Stadt-Land- und des Öffnungs-Traditions-Konflikts. Je dunkler eine Gemeinde abgebildet ist, desto höher ist ihre Einwohnerdichte (logarithmiert) und desto höher war zugleich ihre Ablehnung der Begrenzungsinitiative 2020.
Quelle: Erstellt mit RSwissMaps (Zumbach 2019) / Die Volkswirtschaft

Problematisch für den gesellschaftlichen Zusammenhalt wäre es folglich, wenn vor allem über Themen gestritten und abgestimmt würde, die diese Konfliktlinien aktivieren – umso mehr dann, wenn immer dieselbe Seite siegreich wäre. Es gibt aber verschiedene andere Konflikte, die mit den oben genannten Konfliktlinien deutlich weniger stark zusammenhängen, etwa der Staat-Markt-Konflikt (CC mit Öffnung-Tradition: 0,93).[11] Die Konfliktlinie Staat-Markt korreliert allerdings ihrerseits vergleichsweise stark mit dem Zentrum-Peripherie-Konflikt und mit der Einkommensstärke einer Gemeinde. Und sie weist ebenfalls eine regionale Komponente auf: Es sind vor allem französischsprachige Gemeinden, die für mehr staatliche Eingriffe votieren.

Als Fazit kann also die gängige These bestätigt werden, dass es in der Schweiz gerade dank der Vielzahl an gesellschaftlichen Konflikten zu keiner dominanten Spaltung gekommen ist. Auch die stärkste Korrelation – jene zwischen dem kommunalen Anteil an Konfessionslosen und dem durchschnittlichen Einkommen der Einwohnerinnen und Einwohner einer Gemeinde – bleibt knapp unter 0,5. Das heisst, dass auch bei den grössten Unterschieden zwischen Gemeinden oder gar Regionen auf einer Dimension immer noch gewisse Gemeinsamkeiten auf einer anderen bestehen. Gerade weil die Gräben teilen, verbinden sie uns.

  1. Z. B. Selway 2011. []
  2. Siehe z. B. Kriesi 2013, Linder et al. 2008. []
  3. Wenn möglich verwenden wir strukturelle Variablen, falls nötig greifen wir auf ideologische Variablen (in Form von Abstimmungsresultaten) zurück. []
  4. Wir messen den Religionskonflikt durch den Anteil der Katholiken und Konfessionslosen in einer Gemeinde am Total der permanenten Wohnbevölkerung (BFS 2000). []
  5. Logarithmiert; BFS 2019. []
  6. Wir messen den Sprachkonflikt durch den Anteil Personen mit Deutsch als Hauptsprache in einer Gemeinde am Total der permanenten Wohnbevölkerung (BFS 2014). []
  7. Eigene Berechnungen mithilfe des R-Packages «OSRMR», 2023. []
  8. Einwohnerzahl pro km2[]
  9. Wir verwenden hier den Mittelwert aus der Zustimmung zur Volksabstimmung über die teilweise Abschaffung der Verrechnungssteuer (Abstimmung vom September 2022) und zu jener über die Stempelsteuer (Abstimmung vom Februar 2022) sowie aus der Ablehnung der 99-Prozent-Initiative (Abstimmung vom September 2021; BFS 2021–22). []
  10. Wir messen ihn durch die Zustimmung zur Begrenzungsinitiative anlässlich der Volksabstimmung vom September 2020 (BFS 2020). []
  11. In Individualdaten findet man nicht selten eine starke Korrelation zwischen den Präferenzen bezüglich Staat-Markt und Öffnung-Tradition. In den von uns untersuchten Gemeindedaten findet sich jedoch nur für einzelne Abstimmungsvorlagen eine stärkere Korrelation – für die meisten hingegen nicht. []

Literaturverzeichnis
  • BFS 2000–2022. Diverse Datensätze. Bundesamt für Statistik. Neuchâtel.
  • Kriesi, Hanspeter (2013). Restructuration of Partisan Politics and the Emergence of a New Cleavage Based on Values. In The Structure of Political Competition in Western Europe, hg. Enyedi Zsolt und Kevin Deegan-Krause.
  • Linder, Wolf, Regula Zürcher und Christian Bolliger (2008). Gespaltene Schweiz – geeinte Schweiz. Baden: hier+jetzt.
  • Mueller, Sean und Anja Heidelberger (2022). Den Röschtigraben vermessen: Breite, Tiefe, Dauerhaftigkeit. In Direkte Demokratie in der Schweiz. Neue Erkenntnisse aus der Abstimmungsforschung, hg. Hans-Peter Schaub und Marc Bühlmann (S. 137–158). Seismo Verlag.
  • Selway, Joel S. (2011). The Measurement of Cross-cutting Cleavages and Other Multidimensional Cleavage Structures. Political Analysis 19:48–65.
  • Staempfli, Adrian und Adrian Strauss (2022). Osrmr – R-Package.
  • Zumbach, David (2019). RSwissMaps – R-Package.

Bibliographie
  • BFS 2000–2022. Diverse Datensätze. Bundesamt für Statistik. Neuchâtel.
  • Kriesi, Hanspeter (2013). Restructuration of Partisan Politics and the Emergence of a New Cleavage Based on Values. In The Structure of Political Competition in Western Europe, hg. Enyedi Zsolt und Kevin Deegan-Krause.
  • Linder, Wolf, Regula Zürcher und Christian Bolliger (2008). Gespaltene Schweiz – geeinte Schweiz. Baden: hier+jetzt.
  • Mueller, Sean und Anja Heidelberger (2022). Den Röschtigraben vermessen: Breite, Tiefe, Dauerhaftigkeit. In Direkte Demokratie in der Schweiz. Neue Erkenntnisse aus der Abstimmungsforschung, hg. Hans-Peter Schaub und Marc Bühlmann (S. 137–158). Seismo Verlag.
  • Selway, Joel S. (2011). The Measurement of Cross-cutting Cleavages and Other Multidimensional Cleavage Structures. Political Analysis 19:48–65.
  • Staempfli, Adrian und Adrian Strauss (2022). Osrmr – R-Package.
  • Zumbach, David (2019). RSwissMaps – R-Package.

Zitiervorschlag: Anja Heidelberger, Sean Müller (2023). Welche Gräben halten die Schweiz zusammen. Die Volkswirtschaft, 08. Dezember.