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Wie Institutionen den sozialen Zusammenhalt fördern

Covid-Krise, Stadt-Land-Graben, Teilzeitdebatte: Driftet die Schweiz auseinander? Vieles deutet darauf hin, dass die Schweizer Bevölkerung solche Themen diskutieren kann, ohne zu zerbrechen. Ein politökonomischer Blick auf Vertrauen und Kooperation.
Das Vertrauen in die Mitbürger ist in der Schweiz höher als in ihren Nachbarländern. Ein Bungee-Jumper im freien Fall. (Bild: Keystone)

Etliche Probleme in der Gesellschaft können nur gelöst werden, wenn ihre Mitglieder bereit sind, zusammenzuarbeiten. Viele Menschen in der Schweiz sehen diese Zusammenarbeit und damit den gesellschaftlichen Zusammenhalt jedoch in Gefahr. Die breite Debatte in den letzten Jahren um eine angemessene Covid-Politik, der wieder erstarkende Fokus auf Interessenkonflikte zwischen Stadt- und Landbevölkerung und die zunehmende emotionale (fachsprachlich auch «affektive») Polarisierung machen ihnen Sorgen. Doch stimmt diese Wahrnehmung? Wenn ja: Wo sind die wunden Punkte? Und was lässt sich dagegen tun?

Wie analysiert man «Zusammenhalt»?

Wenn wir die Kooperationsbereitschaft als eine beeinflussbare Grösse erfassen wollen, dann benötigen wir einen Ansatz, der auf die institutionellen und wirtschaftlichen Bedingungen abzielt, die den Zusammenhalt fördern oder schwächen.

Gemäss Studien[1] sind Faktoren, die zu einer höheren Kooperation beitragen, etwa die soziale Inklusion, das Sozialkapital, das heisst ein starkes Netz informeller Beziehungen, oder die soziale Mobilität. Vor dem Hintergrund dieser Bedingungen sind ein Gefühl der Zugehörigkeit oder ein ausgeprägtes Vertrauen in die Mitmenschen zugleich Ergebnis wie Hinweis auf eine kohäsive Gesellschaft.

Hohes generelles Vertrauen in der Schweiz

In der Schweiz ist das Vertrauensniveau gegenüber Mitmenschen im internationalen Vergleich relativ hoch. Auf die Frage im European Social Survey[2], einer grossen sozialwissenschaftlichen Umfrage, ob man auf einer Skala von null bis zehn ganz allgemein gesprochen «nicht vorsichtig genug sein kann» (0) oder «den meisten Leuten vertraut werden kann» (10), ergibt sich für die Schweiz ein durchschnittliches Vertrauensniveau im Zeitraum zwischen 2002 und 2020 von 5,76. Der Wert liegt zwar unter dem Durchschnitt von 6,52 in skandinavischen Ländern, wo das generelle Vertrauen weltweit am höchsten ist, er ist aber höher als der Durchschnitt von 4,79 in unseren Nachbarländern. Zudem scheint das Vertrauensniveau in der Schweiz relativ stabil und in den letzten Jahren in der Tendenz sogar leicht steigend (siehe Abbildung).

Soziales Vertrauen in der Schweiz höher als in den Nachbarländern (2002–2020)

INTERAKTIVE GRAFIK
Anmerkungen: 0 = «Man kann nicht vorsichtig genug sein», 10 = «Man kann den meisten Leuten vertrauen». Die skandinavischen Länder umfassen mit gleichem Gewicht Dänemark, Finnland, Norwegen und Schweden. Die Nachbarländer umfassen mit gleichem Gewicht Deutschland, Frankreich, Italien und Österreich. Fehlende Jahreswerte für einzelne Länder (Dänemark, Italien und Österreich) wurden inter- resp. extrapoliert.
Quelle: European Social Survey (2020) / Die Volkswirtschaft

Soziale Inklusion und Mobilität stärken den Zusammenhalt

Hoch ist in der Schweiz auch das Niveau sozialer Inklusion. Die Möglichkeit, dass viele Menschen am gesellschaftlichen Leben teilhaben können, wird gestützt durch das ausgebaute soziale Sicherheitsnetz, aber auch einen flexiblen Arbeitsmarkt, der Eigenverantwortung belohnt, die Arbeitslosigkeit tief hält und so zu einer im internationalen Vergleich geringen Ungleichheit bei der primären Einkommensverteilung (d. h. vor staatlicher Umverteilung) beiträgt. Letzteres steht auch im Einklang mit der empirischen Forschung, die wiederholt einen negativen Zusammenhang zwischen ökonomischer Ungleichheit und generellem Vertrauen gegenüber anderen Menschen gefunden hat.[3]

Mit der sozialen Inklusion eng verknüpft ist die soziale Aufwärtsmobilität, das heisst der soziale Aufstieg gegenüber der bildungsmässigen, beruflichen oder wirtschaftlichen Situation der Eltern. Die Möglichkeiten für diesen Aufstieg stärkt in der Schweiz beispielsweise das duale System mit Berufslehre und Berufsmatur, das viel Durchlässigkeit erlaubt. Weiter zeichnet sich die Schweiz aus durch einen ausgeprägten Milizgedanken in öffentlichen Organisationen und ein reiches Vereinsleben. Beides ist einer breiten Vernetzung über sozioökonomische Schichten hinweg förderlich.

Die Angst ums Kuchenstück

Trotzdem sorgen sich selbst in der Schweiz Menschen darum, den bisherigen Lebensstandard aufrechterhalten und nach den bisherigen Gewohnheiten leben zu können. Die Sorge um das eigene Kuchenstück führt in der Sozialpolitik schnell zur Frage, ob die Umverteilung die tatsächlich Bedürftigen erreicht. Dass eine wenig zielgenaue Sozialpolitik den Zusammenhalt gefährden kann, zeigt sich in der aktuellen Debatte über die Teilzeitarbeit, aber auch in jener zur Finanzierung der familienexternen Kinderbetreuung oder zur Wohnraumpolitik. Neue Ideen sind deshalb gesucht. In einer Gesellschaft mit einer starken Norm zur wirtschaftlichen Selbstverantwortung könnte zum Beispiel überlegt werden, ob subventionierte Angebote in Zukunft stärker an Anforderungen an die Stunden in einer bezahlten Beschäftigung geknüpft werden sollen. Im Hinblick auf den Zusammenhalt ist zudem der Anstieg der Immobilienpreise im Auge zu behalten, da diese ein elementarer Treiber der Vermögensungleichheit sind.

Neben materiellen Bedenken besteht auch die Sorge, dass Gewissheiten über die Gepflogenheiten des Lebens oder generell die Kultur sich ändern. Herausforderungen ergeben sich dabei typischerweise durch die Zuwanderung, aber auch im Rahmen des gesellschaftlichen Diskurses zu Geschlechteridentität und Geschlechterrollen, welcher bisherige Normen hinterfragt.

Resiliente Problemlösungsprozesse

Materielle Unsicherheit und Identitätsängste bergen die Gefahr, dass Anbieter von einfachen Rezepten auftreten und dass Sündenböcke gesucht und gefunden werden. Doch wie einfach haben es Problembewirtschafter, die zur Stärkung der eigenen Stellung Gräben vertiefen? Oder umgekehrt: Was trägt dazu bei, dass mit den Sorgen konstruktiv umgegangen wird? Es sind beides Fragen zur Organisation der politischen Problemlösungsprozesse. In der Schweiz gibt es Institutionen wie den Föderalismus, die vergleichsweise flexibel mit den Grenzen der Probleme, was den Kreis der Betroffenen betrifft, umgehen können. Dabei lösen wir Probleme parallel auf verschiedenen Ebenen (Gemeinden, Kantone, Bund), sodass verschiedene Gruppen bei der Suche nach Kompromissen sich beim einen Mal mit gegenläufigen Interessen gegenüberstehen und sich bei einem anderen Mal wieder Seite an Seite finden.

Eine andere Institution, die es Problembewirtschaftern erschwert, Gräben zu schaffen, ist die direkte Demokratie. Sie erlaubt es den Bürgern, über Initiativen einzelne Themen in der politischen Arena zur Entscheidung zu bringen. Durch diese Entbündelung werden besonders umstrittene Fragen getrennt von Wahlen entschieden, wodurch Kandidierende, die sich bei diesen Themen extrem positionieren, weniger Aufmerksamkeit erhalten.

Eine noch wenig bekannte vereinende Kraft liegt zudem im Schweizer Wahlsystem. Der Nationalrat wie auch die kantonalen Parlamente werden im Proporz gewählt. Die resultierende breite Vielfalt an Parteien erlaubt es, die Wählerinteressen besonders gut zu repräsentieren. Gleichzeitig werden in fast allen Kantonen die Mitglieder der Exekutive im Majorz gewählt. Dies bietet gerade den Parteien an den Polen einen Anreiz, moderate Kandidierende zu nominieren, wenn sie in der Regierung vertreten sein wollen.[4] Und entsprechend wahrscheinlicher wird eine produktive Zusammenarbeit in diesem Gremium.

Weiterentwicklung der Regeln zur Konfliktbewältigung

Der soziale Zusammenhalt kann als eine der grundlegendsten Voraussetzungen für das friedliche und produktive menschliche Zusammenleben und eine hohe individuelle Wohlfahrt – sowohl gemessen an den materiellen Lebensverhältnissen als auch an der individuellen Lebenszufriedenheit – angesehen werden. Solch sozialer Zusammenhalt setzt ein gewisses Mass an Vertrauen unter den Mitgliedern der Gesellschaft voraus.

Sozialer Zusammenhalt bedeutet dabei jedoch nicht die Absenz von Interessengegensätzen oder Konflikten. Wichtig ist vielmehr, dass eine Gesellschaft latente Konflikte früh erkennt und angeht, indem die Menschen die Regeln für die Konfliktbewältigung akzeptieren. Doch auch diese Regeln unterliegen notwendigerweise der Veränderung, wenn sie effektiv bleiben sollen. Denn der technologische Wandel verändert unser Zusammenleben in allen Bereichen. Den sozialen Zusammenhalt kann die Schweiz deshalb umso besser erhalten, je erfolgreicher und breiter abgestützt sie ihre Problemlösungsprozesse weiterentwickelt.

  1. Siehe etwa OECD (2011). []
  2. Siehe European Social Survey (2020). []
  3. Siehe z. B. Algan und Cahuc (2014). []
  4. Siehe Eichenberger et al. (2021). []

Literaturverzeichnis
  • Algan, Yann und Pierre Cahuc (2014). Trust, Growth, and Well-Being: New Evidence and Policy Implications. In: P. Aghion und S. N. Durlauf (Hrsg.). Handbook of Economic Growth, Vol. 2. San Diego: Elsevier: 49–120.
  • Eichenberger, Reiner, Marco Portmann, Patricia Schafer und David Stadelmann (2021). Mehrheitswahlen in Mehrpersonenwahlkreisen: Ein Schweizer Erfolgsrezept? Perspektiven der Wirtschaftspolitik 22(4): 315–329.
  • European Social Survey (2020). European Social Survey Round 1–10 Data. Sikt – Norwegian Agency for Shared Services in Education and Research, Norway – Data Archive and Distributor of ESS Data for ESS ERIC.
  • OECD (2011). Perspectives on Global Development 2012: Social Cohesion in a Shifting World. Paris: OECD.

Bibliographie
  • Algan, Yann und Pierre Cahuc (2014). Trust, Growth, and Well-Being: New Evidence and Policy Implications. In: P. Aghion und S. N. Durlauf (Hrsg.). Handbook of Economic Growth, Vol. 2. San Diego: Elsevier: 49–120.
  • Eichenberger, Reiner, Marco Portmann, Patricia Schafer und David Stadelmann (2021). Mehrheitswahlen in Mehrpersonenwahlkreisen: Ein Schweizer Erfolgsrezept? Perspektiven der Wirtschaftspolitik 22(4): 315–329.
  • European Social Survey (2020). European Social Survey Round 1–10 Data. Sikt – Norwegian Agency for Shared Services in Education and Research, Norway – Data Archive and Distributor of ESS Data for ESS ERIC.
  • OECD (2011). Perspectives on Global Development 2012: Social Cohesion in a Shifting World. Paris: OECD.

Zitiervorschlag: Alois Stutzer, Benjamin Jansen (2023). Wie Institutionen den sozialen Zusammenhalt fördern. Die Volkswirtschaft, 12. Dezember.