Die Schweiz navigiert in einer geopolitisch geprägten Weltwirtschaft
Der World Trade Report 2023 findet erste Anzeichen für die Neuausrichtung des Handels entlang geopolitischer Linien. Japans Premierminister Fumio Kishida auf dem G-20-Gipfel auf Bali im Jahr 2022. (Bild: Keystone)
Der Krieg gegen die Ukraine und zuvor die Covid-19-Pandemie zeigten eindrücklich, wie verzahnt die internationalen Wertschöpfungsketten sind. Viele Staaten beurteilen im Zuge dessen ihre gegenseitigen Abhängigkeiten neu. Im Zentrum steht neben der Effizienz vermehrt die Resilienz der Wertschöpfungsketten. Durch die bewusste Auswahl von Handelspartnern und das Zurückholen bestimmter sicherheitskritischer Wirtschaftszweige sollen wirtschafts- und sicherheitspolitische Risiken reduziert werden. Dies wird auch Re-, Near- oder Friendshoring genannt. Zudem sollen eigene Forschungs- und Produktionskapazitäten für kritische Technologien, wie zum Beispiel Halbleiter, auf- und ausgebaut werden.
Der World Trade Report 2023[1] der Welthandelsorganisation (WTO) findet erste Anzeichen für die Neuausrichtung des Handels entlang geopolitischer Linien. Allerdings ist es auch in ausgewählten Bereichen kaum möglich, die Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Wirtschaftsmächten komplett zu entflechten: Die direkten Abhängigkeiten werden durch indirekte und somit noch schwieriger rekonstruierbare Handelsströme abgelöst.
Weniger effiziente Weltwirtschaft
Die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) und der Internationale Währungsfonds (IWF) prognostizieren, dass bei einer weiter zunehmenden Fragmentierung die Weltwirtschaftsleistung stark zurückgehen würde.[2] Auch die internationale Zusammenarbeit, welche für die Bewältigung globaler Herausforderungen essenziell ist, wird durch die Rivalität zwischen den grossen Wirtschaftsmächten erschwert. Weiter beanspruchen aufstrebende Wirtschaftsnationen wie Indien, Indonesien oder Saudi-Arabien vermehrt Geltung. Formate wie die G-20[3] oder die Einladung von weiteren Ländern zur Brics[4] zeugen vom zunehmenden Gewicht dieser Staaten. Das multilaterale Regelsystem entwickelt sich im Gegenzug dazu nur langsam weiter. Für Verhandlungsergebnisse wird vermehrt auf plurilaterale Ansätze, und somit auf Lösungen zwischen verschiedenen Länderkoalitionen, zurückgegriffen. Regionale Handelsabkommen verdeutlichen die Entstehung neuer Handelszentren.[5]
Zunahme wirtschaftspolitischer Eingriffe
Im Zuge der Neubeurteilung der gegenseitigen Abhängigkeiten nahmen wirtschaftspolitische Massnahmen in Form von diskriminierenden Ursprungsbestimmungen, Zöllen, Netz- und Informationssperren sowie Export- und Kapitalverkehrsbeschränkungen zu.[6] Zudem ergriffen die grossen Wirtschaftsmächte vermehrt industriepolitische Massnahmen mit umfassenden Subventionsprogrammen (siehe Abbildung). Zwar steht ein grosser Teil der Massnahmen im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie oder der Dekarbonisierung; vollständig erklären lässt sich der starke Anstieg der Subventionen seit 2020 damit aber nicht.
Unter den industriepolitisch motivierten Programmen der USA ist der Inflation Reduction Act mit Massnahmen im Bereich der Klima-, der Gesundheits- und der Steuerpolitik hervorzuheben. Bei der Dekarbonisierung liegt der Fokus auch deshalb vermehrt auf Subventionen, weil alternative Instrumente, wie eine CO2-Abgabe, auf nationaler Ebene oft politisch nicht umsetzbar sind.
Die Europäische Union (EU) strebt im Rahmen ihrer Open Strategic Autonomy eine Balance zwischen offener Handelspolitik und sicherheitspolitisch abgesicherter Wirtschaftspolitik an. Darin gliedert sich der Green Deal Industrial Plan ein. Die USA und die EU investieren zudem Milliardenbeträge in die Forschung und die Produktion von Halbleitern. Auch China fördert seine Wirtschaft mit der Strategie Made in China 2025 in zehn Schlüsselindustrien, etwa der Elektromobilität, der Biomedizin oder der künstlichen Intelligenz.
Subventionen haben ab 2020 stark zugenommen
Offene schweizerische Aussenwirtschaftspolitik
Als mittelgrosse hoch spezialisierte Volkswirtschaft mit einem kleinen Binnenmarkt und relativ wenigen natürlichen Ressourcen ist die Schweiz stark vom internationalen Handel und der Einbindung in internationale Wertschöpfungsketten abhängig. Die industriepolitischen Initiativen sowie weitere sicherheitspolitisch motivierte Eingriffe des Auslands dürften sich ebenfalls auf Teile der Schweizer Wirtschaft auswirken – sowohl positiv als auch negativ.[8] Die Schweiz kann sich einer mehr staatlich gesteuerten Weltwirtschaft nicht entziehen.
Im geopolitischen Spannungsfeld sucht die Schweiz eine Position als unabhängige Akteurin zwischen den etablierten Wirtschaftsmächten. Sie unterhält im Sinne der Universalität Beziehungen mit verschiedenen Weltregionen. Aufgrund ihrer geografischen Lage und gemeinsamer Werte pflegt sie besonders enge Beziehungen mit der EU, den USA und weiteren gleichgesinnten Staaten.
Die Wahrung ihrer Interessen wird jedoch anspruchsvoller: Die zunehmenden Rivalitäten und die Verschränkung der sicherheits- und wirtschaftspolitischen Interessen bringen einen erhöhten Positionierungsdruck mit sich. Auch die Schweizer Wirtschaftspolitik sieht sich vermehrt mit sicherheitspolitischen Fragen konfrontiert. Beispiele dafür sind die Diskussionen über eine Investitionsprüfung[9], die Analyse ihrer Handelsabhängigkeiten, die Sanktionspolitik und die Exportkontrollen. Dabei wird die Schweiz als relativ kleines, aber wirtschaftlich bedeutsames und dem Neutralitätsrecht verpflichtetes Land mitten in Europa von verschiedenen Seiten kritisch beobachtet.
Innovative und wettbewerbsfreundliche Schweiz
Die Schweiz setzt auf die Schaffung und Erhaltung günstiger wirtschaftlicher Rahmenbedingungen. Dazu gehört neben wettbewerbsfreundlichen Regulierungen, der Verfügbarkeit von Bildung, Forschung und Innovation, einem gesunden Staatshaushalt, einer hohen Rechtssicherheit, einem flexiblen Arbeitsmarkt und einer effizienten Infrastruktur auch eine offene, breit abgestützte und regelbasierte Aussenwirtschaftspolitik.
Dieser Ansatz hat sich bislang bewährt: Die Schweiz ist eine der innovativsten und wettbewerbsfreundlichsten Volkswirtschaften weltweit. So belegt sie im Global Innovation Index auch 2023 den ersten Rang.[10] Zudem hat sie die wirtschaftlichen Schocks der letzten Jahre im internationalen Vergleich gut überstanden.
Auch auf industriepolitische Massnahmen hat die Schweiz in der Vergangenheit erfolgreich verzichtet. Sie hat weder dieselben geopolitischen Ambitionen wie die grossen Wirtschaftsmächte, noch verfügt sie über eine ausreichende Marktgrösse oder die notwendigen wirtschaftlichen Strukturen, um industriepolitische Mittel sinnvoll einzusetzen. Unabhängig davon ginge die Förderung einzelner Sektoren mit grossen finanziellen und strukturellen Risiken einher. So ist auch die empirische Evidenz für eine erfolgreiche Industriepolitik sehr durchwachsen.[11]
Resilienz durch Diversifizierung
Im Einklang mit ihrer Aussenwirtschaftsstrategie 2021 engagiert sich die Schweiz für multilaterale Lösungsansätze im Rahmen der WTO, prüft das Potenzial von regionalen Wirtschaftsabkommen und baut ihr Netz an Freihandels-, Investitionsschutz- und Doppelbesteuerungsabkommen aus. Dabei priorisiert die Schweiz ihre wichtigsten Handelspartner, wobei stabile Beziehungen mit der EU im Vordergrund stehen. Zudem sucht sie, beispielsweise für sichere Wertschöpfungsketten, zusätzliche Kooperationsmöglichkeiten.
Um ihren Wirtschaftsstandort zu fördern, ergreift sie darüber hinaus nationale Massnahmen, wie den auf den 1. Januar 2024 umgesetzten Industriezollabbau.[12] All diese Massnahmen sollen die Diversifizierung der Wertschöpfungsketten fördern und damit die Resilienz der Schweizer Volkswirtschaft stärken. Der Bericht zur Aussenwirtschaftspolitik 2023 ordnet diese und weitere Entwicklungen und Aktivitäten der Schweiz im Jahr 2023 ein.
- WTO (2023). World Trade Report 2023 – Re-globalization for a Secure, Inclusive and Sustainable Future. []
- Javorcik, Beata S. et al. (2022). Economic Costs of Friend-Shoring. EBRD Working Paper, No. 274; Georgieva K. (2023). Confronting Fragmentation Where It Matters Most: Trade, Debt, and Climate Action. IMFBlog; Aiyar, S. et al. (2023). Geoeconomic Fragmentation and the Future of Multilateralism. Staff Discussion Notes, No. 2023/001. []
- G-20-Mitglieder: Afrikanische Union, Argentinien, Australien, Brasilien, China, Deutschland, Europäische Union, Frankreich, Indien, Indonesien, Italien, Japan, Kanada, Mexiko, Republik Korea, Russland, Saudi-Arabien, Südafrika, Türkei, USA, Vereinigtes Königreich. []
- Die Brics-Mitglieder (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) beschlossen an ihrem Gipfeltreffen im August 2023, sich zu erweitern. Zusammen mit Ägypten, Äthiopien, dem Iran, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten formen sie ab 2024 die sogenannte Brics+. []
- Z. B. das Comprehensive and Progressive Agreement for Trans-Pacific Partnership (CPTPP) zwischen Australien, Brunei, Chile, Japan, Kanada, Malaysia, Mexiko, Neuseeland, Peru, Singapur und Vietnam oder die Regional Comprehensive Economic Partnership (RCEP) zwischen Australien, Brunei, China, Indonesien, Japan, Kambodscha, Laos, Malaysia, Myanmar, Neuseeland, den Philippinen, Singapur, Südkorea, Thailand und Vietnam. []
- Global Trade Alert (2023). Global Dynamics. []
- Evenett, S.J. und Espejo, F.M. (2023). Commercial Policy Dataset Series Briefing 1, Corporate Subsidy Inventory 2.1. []
- Ronald Indergand (2023). Brandgefährlicher Subventionswettlauf. Die Volkswirtschaft, 14. Juli 2023. []
- Medienmitteilung des Bundesrats vom 15.12.2023 «Investitionsprüfgesetz: Bundesrat verabschiedet Botschaft». []
- World Intellectual Property Organization (Wipo) (2023). Global Innovation Index 2023, Innovation in the Face of Uncertainty. []
- Criscuolo, C. et. al. (2022). Are Industrial Policy Instruments Effective? A Review of the Evidence in OECD Countries. OECD Science, Technology and Industry Policy Papers, No. 128. []
- Zimmermann, Thomas A. (2023). Wie die Schweiz vom Abbau der Industriezölle profitiert. Die Volkswirtschaft, 4. Dezember 2023. []
Zitiervorschlag: Schönenberger, Simone; Lukaszuk, Piotr; Brengard, Marcel (2024). Die Schweiz navigiert in einer geopolitisch geprägten Weltwirtschaft. Die Volkswirtschaft, 10. Januar.