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Effizienzsteigerungen ermöglichen mehr Lohn und Freizeit

Die Produktivitätsgewinne der letzten Jahrzehnte haben zu höheren Löhnen und kürzeren Arbeitszeiten je erwerbstätiger Person verholfen. Gleichzeitig ist die Zeit im Ruhestand stark gestiegen.
Männer in Paarhaushalten reduzieren ihre Arbeitszeit – teilweise für mehr Freizeit. (Bild: Keystone)

Die Produktivität der Schweizer Wirtschaft ist seit 1950 jährlich um rund 1,9 Prozent gewachsen. Durch die effizientere Produktion von Waren und Dienstleistungen entstand zusätzlicher Wohlstand, sodass der zu verteilende Kuchen sprichwörtlich grösser geworden ist. In einem nachhaltigen Wirtschaftsmodell, das eine gewisse soziale Ausgeglichenheit berücksichtigt, sollten langfristig auch die Erwerbstätigen an diesen Wohlstandsgewinnen partizipieren. Meist geschieht dies über höhere Löhne. Häufig übersehen wird jedoch eine andere Möglichkeit, wie die Beschäftigten vom Wohlstandswachstum profitieren können: durch reduzierte Arbeitszeit.

Wie haben sich Arbeit, Freizeit und Produktivität in der Schweiz langfristig entwickelt? Inwiefern werden Wohlstandsgewinne für Erwerbstätige auch durch kürzere Arbeitszeiten realisiert? Und wozu nutzen die Haushalte die reduzierte Arbeitszeit? Im Auftrag des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) ist das Basler Beratungsunternehmen BSS gemeinsam mit der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich (KOF) und der Universität St. Gallen diesen Fragen nachgegangen.[1] Anlass dafür war die Ressortforschung 2023/24 des Seco (siehe Kasten).

Viermal produktiver als 1950

Zwischen 1950 und 2022 ist die Arbeitsproduktivität – gemessen als reales Bruttoinlandprodukt pro gearbeitete Stunde – um rund 300 Prozent gestiegen (siehe Abbildung 1). Das zeigen Daten des Bundesamts für Statistik (BFS) und eines Nationalfondsprojekts von Michael Siegenthaler[2]. Konkret bedeutet die Produktivitätssteigerung: Mit gleich viel geleisteten Arbeitsstunden wie 1950 können wir heute ein BIP erwirtschaften, das viermal grösser ist. Und dies äussert sich im Lohn: Unsere Analysen zeigen, dass die Löhne – gemessen als reales Arbeitnehmerentgelt[3] pro Stunde – über den gleichen Zeitraum sogar um 400 Prozent zugenommen haben. In der Folge ist der Anteil des Arbeitnehmerentgelts am BIP («Lohnquote») zwischen 1950 und 2022 von 45 auf 56 Prozent gestiegen.

Im gleichen Zeitraum sind die jährlich geleisteten Arbeitsstunden pro erwerbstätige Person um 37 Prozent gesunken. Das Produktivitätswachstum hat sich historisch also sowohl in Lohnerhöhungen als auch in einem Rückgang der Arbeitszeit niedergeschlagen. Auch wenn das Lohnwachstum deutlich stärker war, ist der Hinzugewinn an freier Zeit durch die Arbeitszeitverkürzungen dennoch bedeutsam.

Abb. 1: Wächst die Wirtschaft, nehmen Lohn und Freizeit zu (1950–2021)

INTERAKTIVE GRAFIK
Anmerkungen: Die Abbildung zeigt das prozentuale Wachstum der Faktoren Arbeitsproduktivität (BIP pro gearbeitete Stunde), Löhne (Arbeitnehmerentgelt pro gearbeitete Stunde) und jährliche Stunden pro erwerbstätige Person relativ zum Wert von 1950. Lesebeispiel: Im Vergleich zum Wert von 1950 ist das Bruttoinlandprodukt pro Arbeitsstunde im Zeitraum 1950–2021 um rund 300% gestiegen.
Quelle: Siegenthaler (2017), BFS, eigene Berechnungen der Autoren / Die Volkswirtschaft

Für die Reduktion der jährlichen Arbeitszeit im Zeitraum 1950–2022 sind vor allem zwei Entwicklungen verantwortlich: Den grössten Beitrag leistete erstens der Rückgang der durchschnittlichen Wochenarbeitszeit aller erwerbstätigen Personen von 48 auf 33 Stunden. Dies wiederum erklärt sich aus kürzeren Arbeitszeiten bei Vollzeit (Normalarbeitszeit) sowie durch die vermehrte Teilzeitarbeit. Einen kleineren Beitrag zur Reduktion der jährlichen Arbeitszeit leistete zweitens die Erhöhung der vertraglich vereinbarten Ferien, welche im Untersuchungszeitraum von 1,3 auf 5,1 Wochen pro Jahr angestiegen sind.

Wir verbringen viel mehr Zeit im Ruhestand

Im betrachteten Zeithorizont erfolgte eine weitere Entwicklung, die in den obigen Zahlen nicht abgebildet ist: Die Zeit, die wir im Ruhestand verbringen, hat stark zugenommen. Dies ist vor allem auf den Anstieg der Lebenserwartung zurückzuführen. Das ordentliche Rentenalter hat sich demgegenüber seit 1950 kaum verändert. Jenes der Männer liegt seit Einführung der AHV bei 65 Jahren. Jenes der Frauen wurde zwischenzeitlich auf 62 Jahre reduziert und jüngst wieder auf 65 Jahre angehoben. Gemäss unseren Berechnungen ist die Lebenserwartung bei Erreichen des Rentenalters zwischen 1915 und 1985 bei den Frauen von 17 auf 26 Jahre gestiegen. Bei den Männern war der Anstieg von 10 auf 23 Jahre.[4] Auch dieser Hinzugewinn an freier Zeit ist ein bedeutsamer Nutzen der wohlstandsmehrenden Produktivitätsentwicklung, denn die mit den Produktivitätsgewinnen einhergehenden Lohnzuwächse ermöglichten zusätzliche Spielräume, auch in der Sozialversicherung.

Im europäischen Vergleich steht die Schweiz in Bezug auf Arbeitszeit, Produktivität und Löhne gut da. Das Schweizer Produktivitätswachstum ist insbesondere ab den 1990er-Jahren hoch und die Lohnentwicklung dynamisch. Auch die Arbeitsstunden pro erwerbstätige Person sanken ähnlich stark wie in anderen europäischen Ländern. Zwar ist es weiterhin so, dass Schweizer Vollzeit-Erwerbstätige mit mehr als 41 Stunden pro Woche überdurchschnittlich viel arbeiten. Da aber in der Schweiz gleichzeitig auch viele Erwerbstätige in Teilzeit arbeiten, resultiert daraus im Durchschnitt eine ähnlich lange Wochenarbeitszeit wie in anderen europäischen Ländern.

Paarhaushalte arbeiten heute mehr

Die Teilzeitarbeit ist in der Schweiz – gemessen an der hierzulande üblichen Definition[5] – in den vergangenen Jahrzehnten markant gestiegen. Die hohe Teilzeitquote in der Schweiz hat jüngst zu politischen Diskussionen geführt.[6] Insbesondere besteht die Sorge, ob dieser Trend für den Staatshaushalt nachhaltig sein kann, da hierdurch Einnahmeausfälle entstehen. In unseren Analysen wird jedoch sichtbar, dass der dabei häufig verwendete Fokus auf das Individuum zu kurz greift. Die Schweizer Arbeitskräfteerhebung (Sake) gibt ab 1997 Aufschluss darüber. Zumindest bei der kombinierten Arbeitszeit von Paarhaushalten kann von einem Arbeitszeitrückgang nicht die Rede sein (siehe Abbildung 2). Im Gegenteil: Die kombinierte Arbeitszeit von Paaren ist zwischen 1997 und 2020 von 55 auf 59,4 Stunden pro Woche gestiegen.

Getrieben wurde diese Entwicklung durch die stärkere Erwerbsbeteiligung von Frauen, deren Arbeitsstunden von durchschnittlich 14 auf fast 22 Wochenstunden angestiegen sind. Demgegenüber sind die Arbeitsstunden von Männern in Paarhaushalten leicht gesunken.

Abb. 2: Paarhaushalte: Männer arbeiten kürzer – Frauen länger (1997–2020)

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Anmerkung: Die Abbildung zeigt die Entwicklung der geleisteten wöchentlichen Arbeitsstunden von Paaren, die in einem gemeinsamen Haushalt leben.
Quelle: BFS, Sake / eigene Berechnungen der Autoren / Die Volkswirtschaft

Eltern haben weniger Freizeit

Dabei ist zu beachten, dass weniger Arbeitszeit nicht automatisch mehr Freizeit bedeutet. Auch dies zeigen die Sake-Daten, die alle drei Jahre die Zeitnutzung mit Fragen zur Haus-, Familien- und Freiwilligenarbeit erheben. Unterschiede gibt es insbesondere zwischen Frauen und Männern sowie zwischen Personen mit und ohne Kinder. Männer mit Kindern unter 15 Jahren nutzen die reduzierte Arbeitszeit nicht als zusätzliche Freizeit, sondern verbringen mehr Zeit mit Kinderbetreuung, Pflege und Haushaltsarbeit.

Frauen mit Kindern unter 15 Jahren steigern nicht nur ihre Arbeitszeit, sondern auch die aufgewendete Zeit für Kinderbetreuung und Pflege. Sie kompensieren dies teilweise mit weniger Wochenstunden für Hausarbeit, unter dem Strich ist ihre Freizeit allerdings gesunken. Für Männer und Frauen ohne Kinder unter 15 Jahren bleiben die aufgewendeten Stunden für Freizeit, Hausarbeit und Pflege im Zeitverlauf weitgehend konstant.

Zusammenfassend ist die Steigerung der Produktivität also kein Selbstzweck, sondern kommt den Beschäftigten in Form von höheren Löhnen, kürzeren Arbeitszeiten und allenfalls auch mehr Freizeit langfristig zugute.

  1. Die vollständige Studie finden Sie auf Seco.admin.ch. []
  2. Siegenthaler, M. (2017). Vom Nachkriegsboom zum Jobwunder – der starke Rückgang der Arbeitszeit in der Schweiz seit 1950. Social Change in Switzerland, 9. []
  3. Das Arbeitnehmerentgelt setzt sich zusammen aus den Bruttolöhnen und den Sozialversicherungsbeiträgen der Arbeitgeber. []
  4. Den Berechnungen liegt die Annahme zugrunde, dass das heute gültige Rentenalter auch für den Renteneintritt des Jahrgangs 1985 gültig sein wird. []
  5. Gemäss Bundesamt für Statistik gilt in der Schweiz ein Beschäftigungsgrad von weniger als 90 Prozent als Teilzeit. []
  6. Siehe etwa Fontana, Katharina (2023). Die Schweiz wird zur Dolce-Vita-Gesellschaft. NZZ vom 25. Februar. []

Zitiervorschlag: Boris Kaiser, Lukas Mergele, Tino Schönleitner, Damian Wehrli, Michael Siegenthaler, Reto Föllmi (2024). Effizienzsteigerungen ermöglichen mehr Lohn und Freizeit. Die Volkswirtschaft, 22. Februar.