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Innovation – eine schwierige Aufgabe für KMU

Innovationsprojekte werden für kleine und mittlere Unternehmen immer komplexer. Die Firmen müssen grosse Datenmengen analysieren, Nachhaltigkeitsanforderungen erfüllen und immer mehr Vorschriften einhalten.
Zum Beispiel Fleischersatzprodukte: Innovative Lebensmittelfirmen müssen sich zunehmend mit regulatorischen Fragen auseinandersetzen. (Bild: Keystone)

Seit mehr als zwanzig Jahren ist im Schweizer Innovationssystem eine besorgniserregende Entwicklung zu beobachten: Der Anteil Unternehmen, die selber Forschung und Entwicklung (F&E) betreiben, hat seit dem Jahr 2000 abgenommen (–13 Prozentpunkte) – ebenso wie der Anteil Unternehmen, die sich als Produkt- oder Prozessinnovatoren bezeichnen[1] (–17 Prozentpunkte)[2] (siehe Abbildung). Auch wenn es zuletzt Anzeichen für eine Trendwende gegeben hat, widerspiegelt diese Entwicklung eine langfristige strukturelle Veränderung der Innovationsbedingungen und -prozesse am Forschungsstandort Schweiz.

Markanter Rückgang des Anteils innovativer Unternehmen in der Schweiz (1997–2020)

INTERAKTIVE GRAFIK
Anmerkung: Als Berechnungsgrundlage dienen alle Unternehmen mit mehr als fünf Beschäftigten in der Schweiz. Der Anteil der Unternehmen mit Produkt- und Prozessinnovationen (violette Kurve) ergibt sich aus der Addition von grüner und grauer Kurve.
Quelle: KOF, Innovationsumfragen 1999 bis 2020 / Die Volkswirtschaft

Angesichts der Bedeutung von Innovationen für die Schweizer Wirtschaft muss jede Veränderung in diesem Bereich sorgfältig analysiert werden. Aus diesem Grund haben das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) und die Autoren dieses Artikels im September 2022 gemeinsame «Hearings»[3] in Olten organisiert. Im Rahmen dieser Anhörungen wurden fünf Haupttrends herausgearbeitet, die in allen Wirtschaftssektoren zu beobachten sind und offenbar dazu beitragen, die Komplexität der Innovationsprozesse zu erhöhen.

Die Kundschaft im Fokus

Der erste Trend besteht darin, die Konsumenten in den Mittelpunkt des Innovationsprozesses zu stellen. Die Unternehmen versuchen, ihre Produkte an die spezifischen Bedürfnisse und den Geschmack der Verbraucherinnen anzupassen. Durch den Einsatz leistungsfähiger digitaler Instrumente können sie sich mittlerweile ein genaues Bild davon machen, wie sich die Vorlieben ihrer Kundschaft im Laufe der Zeit verändern. Verbindet man beispielsweise Daten von gekauften Sportartikeln, Uhren und Kleidungsstücken, dann entsteht eine Fülle von Informationen darüber, wie die Nutzer diese Gegenstände verwenden. Die dadurch gewonnenen Daten helfen den Firmen dabei, künftige Innovationsfelder zu identifizieren. Die Unternehmen können zusätzlich auch Kommentare von Verbraucherinnen in den sozialen Netzwerken verwerten. Fest steht: Die Fähigkeit der Unternehmen, spezifische, massgeschneiderte Lösungen anzubieten, gewinnt immer mehr an Bedeutung.

Der zweite Trend ist eng mit dem ersten verbunden. Er betrifft die Digitalisierung innovativer Produkte und Dienstleistungen. Das «Internet der Dinge» revolutioniert beispielsweise die Prozesse von Unternehmen des Transport- und Logistiksektors. Durch die Analyse der Datenströme, welche digitale Geräte kontinuierlich produzieren, können die Firmen, das Verhalten ihrer Kundschaft beobachten und verstehen. Dies erlaubt es ihnen, ihre Produktionsplanung und die Wartung zu optimieren.

Nachhaltigkeitsanforderungen erfüllt?

Der dritte Trend, der alle Branchen betrifft, hängt mit den Nachhaltigkeitsanforderungen zusammen. Die Unternehmen integrieren die Kriterien einer nachhaltigen Entwicklung in ihren Innovationsprozess. Dabei geht es unter anderem um CO2-Emissionen, die Verlängerung des Lebenszyklus der Produkte, die Wiederverwertbarkeit materieller Güter oder ein modulares Produktdesign, das die Reparatur oder den Austausch defekter Teile erlaubt.

Der vierte Trend besteht in der zunehmenden Bedeutung regulatorischer Vorgaben für den Innovationsprozess. Die meisten Branchen müssen sich nämlich mit Sicherheits-, Vertraulichkeits- oder Umweltschutzfragen auseinandersetzen. Das gilt insbesondere für Unternehmen in der Lebensmittelindustrie und in der Medizintechnik. Ob sich ein Innovationsprojekt durchführen lässt, ist somit nicht mehr nur eine technologische oder eine wirtschaftliche, sondern oft auch eine regulatorische Frage.

Der fünfte und letzte Trend betrifft schliesslich das veränderte Wettbewerbsumfeld: Vor allem die extrem leistungsfähige asiatische Konkurrenz bricht mittlerweile in Marktnischen ein, die bis vor Kurzem noch die Domäne von Schweizer Unternehmen waren. Das ist zum Beispiel im Präzisionsmaschinenbau und in der Elektronikindustrie der Fall. Diese Sparten, in denen die Schweiz (und einige andere Länder) unlängst noch einen Technologievorsprung hatten, werden nun auch von Industrieunternehmen aus Asien bedient.

Fünf neue Innovationspraktiken

Innovationswillige Unternehmen versuchen, dieser wachsenden Komplexität des Innovationsprozesses zu begegnen, indem sie neue Organisationspraktiken entwickeln und bestimmte Innovationsformen bevorzugen. Insbesondere fünf solche Praktiken sind hervorzuheben. Sie können von den Unternehmen auch kombiniert werden.

Die erste Praxis betrifft die Rekrutierung neuer Kompetenzen. Innovative Unternehmen suchen primär nach Mitarbeitenden, die auf Datascience, Verbraucher- und Kundenanalysen spezialisiert sind und zusätzlich zu einer fachlichen Ingenieurqualifikation auch die Arbeit mit Daten und die Berücksichtigung von Umweltbelangen beherrschen.

Die zweite Praxis ist die Einführung neuer digitaler Geschäftsmodelle zur Vermarktung von kundengerechteren Waren und Dienstleistungen. Sie sollen den Geschäftsertrag sichern. Die Unternehmen konzentrieren sich auf die Entwicklung digitaler Dienstleistungen. Denn die Informationstechnologie spielt eine zentrale Rolle bei der Individualisierung des Angebots und der Integration der Verbraucherer­fahrungen. Beispiele für diese Tendenz sind Firmen, die schrittweise vom Verkauf eines Produkts auf den Verkauf von digitalisierten Dienstleistungen (Installation, Wartung, Reparatur) umstellen. Bei diesem Modell kauft die Kundschaft nicht mehr nur eine Ware, sondern erwirbt einen langfristigen Service.

Eine dritte Praxis ist die Spezialisierung der Firmen: Sie konzentrieren ihre Innovationsanstrengungen auf eine Komponente eines grösseren Technologiepakets, das sie allein nicht bewältigen können. Dies führt zu einer «vertikalen Desintegration» der Wertschöpfungskette – also einer Aufteilung des Innovationsprozesses auf mehrere Unternehmen.

Innovationen schrittweise angehen

Im Rahmen der vierten Praxis wird ein schrittweiser Innovationsansatz bevorzugt – dieser Prozess führt in Etappen zu zahlreichen, potenziell sehr schnell erfolgenden Produktanpassungen. Bei dieser Form des «Gradualismus» wird den Kunden eine Schlüsselrolle im Erprobungsprozess zugewiesen. Dieses Vorgehen unterscheidet sich somit vom klassischen Innovationsprojekt, bei dem die Produkte «fertig» auf den Markt gebracht werden, der Innovationsprozess abgeschlossen ist und das Produkt über längere Zeit nicht mehr verändert wird. Der schrittweise Ansatz reduziert das Risiko für die Unternehmen: Zum einen spaltet er Investitionen in mehrere Tranchen auf, und zum anderen steigen die Chancen, dass das Ergebnis den Kundenbedürfnissen gerecht wird.

Die fünfte und letzte Praxis ergibt sich aus den ersten vier. Sie besteht in einer intensiveren Zusammenarbeit mit öffentlichen Forschungseinrichtungen[4] und anderen Akteuren wie Lieferanten, Kunden, Fachabteilungen für Forschung, Entwicklung und Engineering und sogar Konkurrenten. Diese Kooperationen ermöglichen es den Unternehmen, die Kosten für Innovation zu senken und auf Fähigkeiten und Kenntnisse zuzugreifen, die sie nicht intern entwickelt haben.

Im Innovationsbereich weltweit führend bleiben

Dass die Innovationsprozesse immer komplexer werden, scheint für das Triptychon aus Start-ups, Grossunternehmen und Hochschulen kein grosses Problem zu sein. Sie bilden ein erfolgreiches Innovationsökosystem und stehen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.

KMU, die das Start-up-Stadium hinter sich gelassen haben, müssen ihre Innovationsmethoden hingegen oftmals allein anpassen. Der Bund sollte bei der Erneuerung seiner Innovationspolitik deshalb den Innovationsprozessen und den neuen Praktiken von kleinen und mittleren Unternehmen Rechnung tragen, damit die Schweizer Firmen im Innovationsbereich auch künftig weltweit führend bleiben.

  1. «Innovation» im Sinne der OECD-Standarddefinition: neue oder deutlich verbesserte Produkte und Dienstleistungen, die Bestandteile oder wesentliche Merkmale aufweisen, welche sich deutlich von jenen bestehender Produkte und Dienstleistungen unterscheiden (siehe OECD und Eurostat, 2018). []
  2. Siehe König et al. (2022). []
  3. Siehe Barjak, Foray und Wörter (2023). []
  4. Siehe Barjak et al. (2020), Foray und Wörter (2021) sowie Foray et al. (2022) für die jüngsten empirischen Studien zur praktischen Zusammenarbeit zwischen Unternehmen und öffentlichen Institutionen in der Schweiz. []

Literaturverzeichnis

Bibliographie

Zitiervorschlag: Franz Barjak, Dominique Foray, Martin Wörter (2024). Innovation – eine schwierige Aufgabe für KMU. Die Volkswirtschaft, 29. Februar.