Wie funktionieren Mengenrabatte im öffentlichen Verkehr?
Wer oft mit dem öffentlichen Verkehr reist, sollte Rabatte erhalten. Das ist gesamtwirtschaftlich sinnvoll. (Bild: Keystone)
Zum vergangenen Fahrplanwechsel präsentierte Alliance Swiss Pass, die Branchenorganisation des öffentlichen Verkehrs, das sogenannte Halbtax Plus. Dabei handelt es sich um ein ÖV-Guthaben zu unterschiedlichen Beträgen. Das Angebot richtet sich an Reisende zwischen Halbtax und GA. Erste Reaktionen liessen nicht lange auf sich warten: «Wozu die immer grössere Auswahl? Früher kaufte man sich einfach ein Billett, das funktionierte auch.»
Die Frage ist also erlaubt, ob es nicht besser wäre, nur einen Fahrausweis-Typ anzubieten. Doch wie sollte dieser aussehen? Um dies herauszufinden, machen wir es uns zunächst einfach und stellen uns vor, der öffentliche Verkehr (ÖV) hätte nur eine einzige Kundin.
Ein Fahrausweis für alle?
Will der ÖV dieser Kundin jede Reise einzeln verrechnen, wie er es mit Streckenbilletten tut? Oder will er sie, wie etwa mit dem Generalabonnement (GA), nur einmal pro Jahr zur Kasse bitten?
Es stellt sich heraus, dass er mit dem GA mehr verdienen kann. Er weiss, dass die Kundin – sobald sie ein GA hat – mehr Reisen mit dem ÖV unternimmt. Jede Reise, stiftet sie einen noch so kleinen Nutzen, wird unternommen, denn sie hat kein Preisschild. Steht die Kundin nun am SBB-Schalter, weiss der ÖV, dass sie vorhat, viel zu reisen, und kann daher ordentlich einkassieren.
Aus volkswirtschaftlicher Sicht ist das Ergebnis grundsätzlich begrüssenswert, da die Kundin die optimale Menge wählt: Wann immer der Nutzen einer weiteren Reise deren Kosten übersteigt, sollte sie getätigt werden. Und für den Moment abstrahieren wir von diesen Kosten, welche tatsächlich vernachlässigbar sind, solange das ÖV-Angebot ohnehin besteht. Ohne GA hingegen unternimmt die Kundin einige Reisen nicht, weil die Kosten eines Streckenbilletts den Nutzen übersteigen (siehe Abbildung 1 – beim Halbtax-Abo und beim GA entspricht der Nutzen der Kundin dem maximalen Betrag, den der ÖV für das Abo verlangen kann).
Doch die Welt besteht nicht nur aus einer Kundin, sondern aus unterschiedlichen Reisenden. Viele besitzen ein Auto und weisen für ÖV-Reisen somit eine tiefere Zahlungsbereitschaft auf. Will der ÖV mit dem GA-Tarifmodell auch diese Personen erreichen, müsste er den GA-Preis stark reduzieren – und zwar für alle. Dies würde zu einer massiven Senkung des ÖV-Eigenfinanzierungsgrades führen. Bereits heute bezahlt die öffentliche Hand mehr als die Verkehrsnutzenden selbst an den ÖV.[1]
Abb. 1: Ohne Abos werden manche ÖV-Reisen nicht unternommen
Quellen: HSLU / Die Volkswirtschaft
Preisdifferenzierung nach Lehrbuch
Nutzt der ÖV hingegen die Möglichkeit der Preisdifferenzierung nach Menge, kann er unserer Kundin das GA weiterhin zu einem ansprechenden Preis verkaufen und gleichzeitig Automobilisten Einzelbillette anbieten, welche diese zu ein paar ÖV-Ausflügen motivieren. In der Spieltheorie gemäss ökonomischem Lehrbuch nennt sich dies «Screening»: Der ÖV macht nicht ein einziges Angebot, sondern offeriert ein ganzes Menü. Ein Reisender, der im Gegensatz zum ÖV seine eigene Zahlungsbereitschaft kennt, wählt daraus das für ihn beste Angebot.
Schon vor 50 Jahren haben sich Ökonomen mit Screening beschäftigt und dabei zwei Dinge gezeigt:[2] Erstens haben Unternehmen ein Interesse daran, grössere Mengen zu einem tieferen Preis je zusätzlicher Mengeneinheit anzubieten. Im ÖV Schweiz übernehmen das Halbtax und das GA diese Funktion – wer im Besitz eines dieser Abonnemente ist, für den ist die einzelne Reise günstiger. Zweitens wollen Unternehmen, dass jene Kunden mit der höchsten Zahlungsbereitschaft den geringsten marginalen Ausgaben gegenüberstehen. Auch dies gilt im ÖV Schweiz: Mit dem GA und anderen Flatrate-Angeboten bezahlen ÖV-affine Kunden für die zusätzliche Reise nichts. Seltennutzende hingegen kaufen Einzelbillette und haben damit positive marginale Ausgaben. Mit diesen Angeboten, dem Halbtax und dem neuen Halbtax Plus macht der ÖV damit, zumindest aus unternehmerischer Sicht, nichts falsch.
Eine sinnvolle Preisstruktur
Doch gilt das auch volkswirtschaftlich? Auch hier lohnt sich ein Blick in ökonomische Lehrbücher: Bereits vor knapp 100 Jahren hat der Ökonom Frank P. Ramsey in einem bahnbrechenden Aufsatz[3] Prinzipien für die optimale Besteuerung verschiedener Güter und Einkommensarten hergeleitet. Er wollte unerwünschte Verzerrungen durch Steuern vermeiden und betonte, dass Steuern dort vorsichtig eingesetzt werden sollten, wo Menschen sensibel darauf reagieren – indem sie deswegen etwa weniger arbeiten oder konsumieren. Auch diese Logik lässt sich auf den ÖV übertragen, denn gleich wie Steuern bewirken auch Preise, dass volkswirtschaftlich erwünschte Transaktionen vermieden werden.
Doch wer ist besonders preissensitiv und sollte daher Rabatte erhalten? Pauschal gesagt – und vielleicht überraschenderweise – sind dies die Vielnutzenden. Um dies zu verstehen, vergegenwärtigen wir uns, dass Preiserhöhungen für Personen, die den ÖV 200-mal pro Jahr nutzen, stärker ins Gewicht fallen als für jene, die nur einmal pro Jahr mit dem Zug fahren (zum Auto-Salon). Bei einem einheitlichen Preis wären es daher Vielnutzende, die nach Preiserhöhungen als Erstes abspringen würden. Gemäss Ramsey sind Mengenrabatte im ÖV also auch gesamtwirtschaftlich sinnvoll – zumindest was die Struktur der Preise angeht.
Abb. 2: Mit Ausnahme der Corona-Jahre zunehmende Marktdurchdringung des GA
Quellen: Alliance Swiss Pass / SBB / Bundesamt für Statistik / HSLU / Die Volkswirtschaft
Alles bestens also?
Eine richtige Struktur bedeutet aber nicht, dass auch die einzelnen Preise stimmen. Gemäss Theorie sollen nur die ÖV-affinsten Personen einen Flatrate-Tarif wählen. In der Schweiz hatten per Ende 2022 aber mehr als 431’000 Personen ein GA und viele mehr ein Verbund-Abo. Die im Vergleich mit Einzelbilletten günstigen Abos haben zudem zur Folge, dass bei heutigen Preisen die GA-Kunden nicht besonders preissensitiv sind: Obschon die GA-Preise in den letzten Jahren nach oben zeigten, nahm die GA-Marktdurchdringung – abgesehen von den Covid-Jahren 2020 bis 2022 – kontinuierlich zu (siehe Abbildung 2).
Weiter haben wir in unseren bisherigen Überlegungen von Kosten abstrahiert. Ein hoher Flatrate-Anteil kann gerade zu Stosszeiten auch dazu führen, dass bestehende Kapazitäten überstrapaziert werden. Dies kann insbesondere im Infrastrukturbereich zu massiven Sprungfixkosten führen. Allerdings gilt es beim GA (anders als beim Strecken- und beim Verbund-Abo) zu bedenken, dass Preiserhöhungen zunächst wohl nicht Pendler, sondern eher sogenannte Convenience-Kunden vertreiben würden. Diese – dazu gehören besonders auch Pensionierte – sind jedoch vermehrt in Nebenverkehrszeiten und damit in ziemlich leeren Zügen unterwegs.[4]
Abschliessend gilt: Nicht jede Preisdifferenzierung ist wünschenswert. So gibt es im ÖV Schweiz nicht nur den vorliegend diskutierten Mengenrabatt, sondern eine Fülle verschiedener Tageskarten, Spezialaktionen, Zonen-, Strecken- und Kurzstreckentarife, darunter auch die eine oder andere tarifarische Kuriosität. Ob hinter jedem Angebot eine Preisdifferenzierung mit ökonomischem Kalkül steckt, lassen wir für diesen Moment als offene Frage stehen.
- Hinsichtlich Verkehrsmittel- und Infrastrukturkosten betrug der Anteil der öffentlichen Hand im Jahr 2020 64,2 Prozent (öffentlicher Strassenverkehr) und 54,2 Prozent (Personenverkehr auf der Schiene). Im Jahr 2019 (vor Corona) betrugen diese Werte 55,0 Prozent und 52,9 Prozent. Siehe BFS (2022, 2023). []
- Siehe Mirrlees (1971), Rothschild und Stiglitz (1976), Mussa und Rosen (1978) sowie Maskin und Riley (1984). []
- Siehe Ramsey (1927). []
- Im Jahr 2022 betrug die durchschnittliche Auslastung im SBB-Fernverkehr rund 27 Prozent. Siehe SBB (2024). []
Literaturverzeichnis
- BFS (2022, 2023). Statistik der Kosten und der Finanzierung des Verkehrs (KFV).
- Maskin, E., und J. Riley (1984). Monopoly with Incomplete Information. The RAND Journal of Economics, 15(2), 171–196.
- Mirrlees, J. A. (1971). An Exploration in the Theory of Optimum Income Taxation. The Review of Economic Studies, 38(2), 175–208.
- Mussa, M., und S. Rosen (1978). Monopoly and Product Quality. Journal of Economic Theory, 18(2), 301–317.
- Ramsey, F. P. (1927). A Contribution to the Theory of Taxation. The Economic Journal, 37(145), 47–61.
- Rothschild, M., und J. Stiglitz (1976). Equilibrium in Competitive Insurance Markets: An Essay on the Economics of Imperfect Information. The Quarterly Journal of Economics, 90(4) 629–649.
- SBB (2024). Die SBB in Zahlen und Fakten.
Bibliographie
- BFS (2022, 2023). Statistik der Kosten und der Finanzierung des Verkehrs (KFV).
- Maskin, E., und J. Riley (1984). Monopoly with Incomplete Information. The RAND Journal of Economics, 15(2), 171–196.
- Mirrlees, J. A. (1971). An Exploration in the Theory of Optimum Income Taxation. The Review of Economic Studies, 38(2), 175–208.
- Mussa, M., und S. Rosen (1978). Monopoly and Product Quality. Journal of Economic Theory, 18(2), 301–317.
- Ramsey, F. P. (1927). A Contribution to the Theory of Taxation. The Economic Journal, 37(145), 47–61.
- Rothschild, M., und J. Stiglitz (1976). Equilibrium in Competitive Insurance Markets: An Essay on the Economics of Imperfect Information. The Quarterly Journal of Economics, 90(4) 629–649.
- SBB (2024). Die SBB in Zahlen und Fakten.
Zitiervorschlag: Sticher, Silvio; Wallimann, Hannes; von Arx, Widar (2024). Wie funktionieren Mengenrabatte im öffentlichen Verkehr? Die Volkswirtschaft, 21. Februar.