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Inflationserwartungen: Ein wertvoller Indikator für die Geldpolitik

Inflationserwartungen sind ein unverzichtbarer Indikator für die Schweizerische Nationalbank. Auch während des jüngsten Inflationsanstiegs spielten sie eine wichtige Rolle bei der Bestimmung der notwendigen geldpolitischen Straffung.
Die Inflationserwartungen von Haushalten sind in vielen Fällen zu hoch, etwa weil sie Preisänderungen von Alltagsgütern zu stark gewichten. (Bild: Alamy)

Die Schweizerische Nationalbank hat die Aufgabe, die Preisstabilität zu gewährleisten und dabei der konjunkturellen Entwicklung Rechnung zu tragen. Unter Preisstabilität versteht die Nationalbank eine Inflation im Bereich von 0 bis 2 Prozent.[1] Einen bedeutenden Einfluss auf die Inflation und die Konjunkturentwicklung haben die Inflationserwartungen.

Diese Erwartungen von Haushalten und Unternehmen zur künftigen Inflation haben nämlich einen Einfluss darauf, welche Löhne und Preise sie heute fordern. Weil Lohnverhandlungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern meist nur einmal jährlich stattfinden und auch die Güterpreise nicht jederzeit angepasst werden können, versuchen Haushalte und Unternehmen die künftige Teuerung mit einzubeziehen. Auch für ihre Entscheidungen, wie viel sie konsumieren oder investieren sollen, spielen die Inflationserwartungen eine wichtige Rolle.

Indikator für glaubwürdige Geldpolitik

Längerfristige Inflationserwartungen sind zudem ein wichtiger Indikator dafür, wie glaubwürdig und damit wirkungsvoll die Geldpolitik ist.[2] Sind die längerfristigen Inflationserwartungen gut im Bereich der Preisstabilität verankert, gehen Haushalte und Unternehmen bei Schwankungen der Inflation davon aus, dass diese entweder von selbst abklingen oder dass die Zentralbank wirksame Massnahmen zur Stabilisierung ergreift. Sind die längerfristigen Inflationserwartungen hingegen nicht gut verankert, besteht die Gefahr, dass Haushalte und Unternehmen jegliche Inflationsschwankungen als dauerhaft einschätzen und in ihre heutigen Lohn- und Preissetzungsentscheide mit einbeziehen. Damit wird es für die Zentralbank immer schwieriger, die Inflation zu stabilisieren. Die Verankerung der Inflationserwartungen ist daher zentral für die Ausrichtung der Geldpolitik.

Da Inflationserwartungen nicht direkt beobachtbar sind, werden sie häufig durch Umfragen ermittelt.[3] Diese richten sich an professionelle Prognostiker oder direkt an Unternehmen oder Haushalte. Für die Schweiz sammeln Consensus Economics und KOF Consensus die Inflationsprognosen von Instituten wie der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich (KOF), vom Basler Forschungsinstitut BAK Economics oder von Banken und Versicherungen. Wichtige Unternehmensumfragen sind die Gespräche der SNB-Delegierten für regionale Wirtschaftskontakte, die Deloitte-CFO-Umfrage und die KOF-Konjunkturumfragen.[4] In der UBS-CFA-Finanzmarktumfrage werden Analysten befragt, und das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) ermittelt bei der Umfrage zur Konsumentenstimmung die Erwartungen der Haushalte.[5]

Kurzfristige Inflationserwartungen beziehen sich auf das laufende oder das kommende Jahr oder auf einen fixen Zeitraum von sechs bis zwölf Monaten in der Zukunft. Sie werden meist monatlich oder quartalsweise erhoben. Längerfristige Inflationserwartungen beziehen sich auf einen Zeitraum von zwei Jahren und mehr. Sie werden weniger oft aktualisiert, meist quartalsweise oder auch nur halbjährlich. Gefragt wird überwiegend nach einer Einschätzung für die Inflation gemessen am Konsumentenpreisindex. Zusätzlich enthalten einige Umfragen Angaben zur Prognosestreuung sowie Wahrscheinlichkeiten.

Professionelle Prognosen sind treffsicherer

Studien zeigen, dass die kurzfristigen Inflationserwartungen von professionellen Prognostikern rückblickend im Durchschnitt näher an der tatsächlichen Inflation lagen als diejenigen von Haushalten oder Unternehmen.[6] Zudem herrscht unter professionellen Prognostikern mehr Einigkeit über ihre Inflationserwartungen. Ihre längerfristigen Erwartungen sind auch weniger volatil (siehe Abbildung 1) und reagieren weniger empfindlich auf aktuelle Entwicklungen. Die Inflationserwartungen von Haushalten und Unternehmen sind indes in vielen Fällen systematisch zu hoch.[7] Wichtige Informationen lassen sich daher eher aus den Veränderungen als aus ihrem Niveau ziehen.

Trotzdem sind die Inflationserwartungen von Haushalten und Unternehmen informativ für die Geldpolitik, da sie nah am Wirtschaftsgeschehen sind und strukturelle Änderungen frühzeitig erfassen können.

Abb. 1: Umfragen bei Prognostikern zur längerfristigen Inflation sind stabiler (Jan 2013–Okt 2023)

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Quelle: Consensus Economics / CFA Society Switzerland und UBS / Deloitte / KOF / SNB / Die Volkswirtschaft

Ab 2021: Anstieg der Inflationserwartungen

Im Zuge des beharrlichen Inflationsanstiegs nach der Corona-Pandemie erhöhten sich auch die Inflationserwartungen in der Schweiz. Vor allem für fernere Erwartungshorizonte legten allerdings die Inflationserwartungen der Unternehmen und Analysten insgesamt deutlich stärker zu als diejenigen der professionellen Prognostiker (siehe Abbildung 1). Diese Entwicklungen liessen keine eindeutigen Schlüsse darüber zu, ob die längerfristigen Inflationserwartungen noch verankert waren. Deshalb analysierte die Nationalbank die Inflationserwartungen vertieft im Hinblick auf das Risiko einer Entankerung.

So untersuchte die Nationalbank die geschätzten Wahrscheinlichkeitsverteilungen der längerfristigen Inflationserwartungen aus den Umfragen von UBS CFA, Deloitte und KOF Consensus. In diesen Umfragen geben die Teilnehmer neben den Punktschätzungen für die Inflationsrate auch Wahrscheinlichkeiten dafür an, dass die Inflation in bestimmten Intervallen liegen wird. In den Jahren 2021 und 2022 erhöhten sich diese Wahrscheinlichkeiten für hohe Inflationsraten spürbar (siehe Abbildung 2). Die Wahrscheinlichkeit, dass die Inflation mittelfristig gar über 2 Prozent zu liegen kommt, erreichte Mitte 2022 in allen drei Umfragen neue Höchstwerte. Dies war ein klares Signal dafür, dass das Risiko einer Entankerung der Inflationserwartungen zugenommen hatte.

Abb. 2: Finanzanalysten hielten 2022 eine längerfristige Inflation von über 2 Prozent für wahrscheinlicher

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Anmerkung: Die Abbildung zeigt die Wahrscheinlichkeitsverteilung der erwarteten Inflation gemäss der Finanzmarktumfrage UBS CFA für die kommenden drei bis fünf Jahre für ausgewählte Quartale.
Quelle: CFA Sociey Switzerland, UBS / Die Volkswirtschaft

Zudem analysierte die Nationalbank, inwieweit sich Veränderungen in den Inflationserwartungen mit näherem Erwartungshorizont auf die längere Frist übertrugen. Sind die längerfristigen Inflationserwartungen gut verankert, sollten sie nicht auf vorübergehende wirtschaftliche Entwicklungen reagieren. Die Analysen der Nationalbank zeigten allerdings, dass die längerfristigen Inflationserwartungen ab Mitte 2021 zusehends empfindlicher reagierten. Zwar blieb die Übertragung insgesamt begrenzt, aber bereits ihr Auftreten war ein weiteres Indiz dafür, dass sich das Risiko einer Entankerung der längerfristigen Inflationserwartungen erhöht hatte.

Die Nationalbank reagiert entschlossen

Die Nationalbank bezog diese Entwicklungen in ihre geldpolitischen Entscheidungen mit ein und straffte die Geldpolitik entschlossen: Zuerst liess sie bereits im Jahr 2021 eine gewisse Aufwertung des Frankens zu, und ab Mitte 2022 erhöhte sie den SNB-Leitzins in mehreren Schritten um insgesamt 2,5 Prozentpunkte bis auf aktuell 1,75 Prozent. In der Folge verringerte sich die Inflation; sie liegt seit Herbst 2023 wieder im Bereich der Preisstabilität. Gleichzeitig sanken auch die Inflationserwartungen kontinuierlich, und das Risiko einer Entankerung der längerfristigen Erwartungen hat sich wieder normalisiert.

Die Erfahrung in den Jahren 2021 und 2022 hat gezeigt, dass verschiedene Inflationserwartungsindikatoren unterschiedliche Eigenschaften haben und daher zuweilen uneindeutige Signale geben können. Deswegen ist es für die Nationalbank wichtig, ein breites Portfolio an Indikatoren zu analysieren.

  1. Siehe Tschudin und Lenz (2023). []
  2. Siehe etwa Bernanke (2007). []
  3. Eine Alternative sind marktbasierte Indikatoren, die von Finanzprodukten mit Inflationsbezug abgeleitet werden. In der Schweiz existieren solche Produkte nicht, unter bestimmten Annahmen können aber marktbasierte Inflationserwartungen von ausländischen Finanzprodukten abgeleitet werden. Siehe Gerlach-Kristen et al (2017). []
  4. Seit Oktober 2022 erhebt die KOF Unternehmenserwartungen zur Inflations- und Lohnentwicklung. []
  5. Letztere wird seit den 1970er-Jahren erhoben, bislang jedoch nur qualitativ und für die kurze Frist. Eine Quantifizierung kann nur mit weiteren Annahmen vorgenommen werden. Siehe Fluri und Spörndli (1989) sowie Rosenblatt und Scheufele (2015). Dies ändert sich jetzt mit den neuen quantitativen Fragen, die das Seco eingeführt hat. []
  6. Siehe Carroll (2003) für die USA sowie Kleinewerfers (1997) oder Rosenblatt und Scheufele (2015) für die Schweiz. []
  7. Haushalte gewichten Preise höher, wenn sie ihnen häufiger ausgesetzt sind (z. B. stark schwankende Energie- und Nahrungsmittelpreise). Gleichzeitig nehmen sie Preiserhöhungen stärker wahr als Preisreduktionen. Siehe Weber et al (2022). []

Literaturverzeichnis
  • Bernanke, B. S. (2007). Inflation Expectations and Inflation Forecasting. Speech at the Monetary Economics Workshop of the National Bureau of Economic Research Summer Institute, Cambridge, MA, 10. Juli.
  • Carroll, C. D. (2003). Macroeconomic Expectations of Households and Professional Forecasters, The Quarterly Journal of Economics, 118, 269–298.
  • Fluri, R. und Spörndli, E. (1989). Rationalität von Inflationserwartungen, Quartalsheft der Schweizerischen Nationalbank Nr. 2/1989, 164–174.
  • Gerlach, P., Moessner, R. und Rosenblatt-Wisch, R. (2017). Computing Long‐Term Market Inflation Expectations for Countries Without Inflation Expectation Markets, Working Papers 2017-09, Swiss National Bank.
  • Kleinewefers Lehner, A. (1997). Rationalität der Inflationserwartungen in der Schweiz und in Deutschland, Schweizerische Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik, Vol. 133, 557–574.
  • Rosenblatt-Wisch, R. und Scheufele, R. (2015). Quantification and Characteristics of Household Inflation Expectations in Switzerland. Applied Economics, 47, 2699–2716.
  • Tschudin, P. und Lenz, C. (2023). Das geldpolitische Konzept der SNB bewährt sich. Die Volkswirtschaft, 02. November.
  • Weber, M., D’Acunto, F., Gorodnichenko, Y. und Coibion, O. (2022). The Subjective Inflation Expectations of Households and Firms: Measurement, Determinants, and Implications, Journal of Economic Perspectives, 157–184.

Bibliographie
  • Bernanke, B. S. (2007). Inflation Expectations and Inflation Forecasting. Speech at the Monetary Economics Workshop of the National Bureau of Economic Research Summer Institute, Cambridge, MA, 10. Juli.
  • Carroll, C. D. (2003). Macroeconomic Expectations of Households and Professional Forecasters, The Quarterly Journal of Economics, 118, 269–298.
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  • Weber, M., D’Acunto, F., Gorodnichenko, Y. und Coibion, O. (2022). The Subjective Inflation Expectations of Households and Firms: Measurement, Determinants, and Implications, Journal of Economic Perspectives, 157–184.

Zitiervorschlag: Christian Hepenstrick, Inske Pirschel, Rolf Scheufele (2024). Inflationserwartungen: Ein wertvoller Indikator für die Geldpolitik. Die Volkswirtschaft, 11. März.