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Seniorenbetreuung: Die Unterstützung durch Angehörige ist wichtig

Gemäss dem Genfer Rechnungshof spart der Kanton Genf jedes Jahr mehrere Hundert Millionen Franken, weil ältere Menschen durch ihre Angehörigen unterstützt werden.
Im Jahr 2050 wird es in der Schweiz voraussichtlich mehr als eine Million über 80-Jährige geben. Ein Teil von ihnen wird auf die Hilfe von Gesundheitsfachleuten oder pflegenden Angehörigen angewiesen sein. (Bild: Keystone)

Die Bevölkerung wird immer älter. Dieses weltweite Phänomen macht auch vor der Schweiz nicht halt. Gemäss den Prognosen des Bundesamts für Statistik (BFS) dürfte der Anteil der über 65-Jährigen in der Schweiz ansteigen und von 19 Prozent im Jahr 2020 auf 26 Prozent im Jahr 2050 klettern. Der Anteil der über 80-Jährigen könnte sich bis dahin sogar verdoppeln und 2050 mehr als eine Million Menschen betragen.[1] Trotz Fortschritten im Gesundheitswesen steigen mit zunehmendem Alter die Häufigkeit chronischer Krankheiten (wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs oder Diabetes) und der Autonomieverlust. In der Schweiz kann jede sechste Person über 65 nicht mehr autonom Alltagstätigkeiten wie Kochen und andere Haushaltsarbeiten ausführen oder öffentliche Verkehrsmittel benützen. Bei den über 80-Jährigen beträgt dieser Anteil sogar 32 Prozent[2], und in den kommenden Jahren dürfte der Betreuungsbedarf für ältere Menschen noch weiter steigen.

Mangel an Gesundheitsfachkräften erwartet

Parallel zu dieser Entwicklung wird sich wahrscheinlich auch der Mangel an Gesundheitsfachkräften verstärken. Gemäss dem Schweizerischen Gesundheitsobservatorium[3] dürfte der Nachwuchs an Gesundheitspersonal im Jahr 2029 nur 67 Prozent des erwarteten Bedarfs und 80 Prozent des Bedarfs an anderen Pflege- und Betreuungsberufen abdecken. Diese Prognosen berücksichtigen sowohl die Bedarfsentwicklung bei der Gesundheitsversorgung als auch den Ersatzbedarf beim Personal (aufgrund von Ausbildungswegen, aber auch von Pensionierungen). Gemäss Prognosen fehlen 2029 in der Schweiz 14’500 Pflegefachkräfte sowie 5500 Pflegeassistierende und Fachleute Gesundheit.

Pflegende Angehörige sind zentral

Mehrere Kantone haben deshalb Massnahmen entwickelt. Ihr Ziel ist es, den Verbleib älterer Menschen in ihrem Zuhause zu unterstützen. Damit wollen sie den Herausforderungen des Alterns nachkommen sowie dem Wunsch vieler Senioren, möglichst lange in den eigenen vier Wänden zu leben. Die Unterstützung der pflegenden Angehörigen erfolgt zwar weiterhin informell, da sie keiner offiziellen Reglementierung durch die Behörden unterliegen. Dennoch hat der Kanton Genf ein Massnahmenpaket zu ihren Gunsten entwickelt, das sie als «unverzichtbare Akteure» beim Verbleib älterer Menschen in der eigenen Wohnung anerkennt.

Die Massnahmen umfassen die Einrichtung von Anlaufstellen für den Austausch und den Dialog, Ausbildungskurse sowie Entlastungsangebote für zu Hause.[4] Um die Relevanz und den Umfang dieser Angebote zu bewerten, hat der Genfer Rechnungshof die Rolle der pflegenden Angehörigen untersucht und die finanzielle Bedeutung ihrer Unterstützung ermittelt.

Vielfältige Unterstützungsleistungen

Gemäss der Untersuchung des Genfer Rechnungshofs und den Daten der Schweizerischen Gesundheitsbefragung[5] unterstützen mehr als 27’000 in Genf ansässige Personen einen über 65-jährigen Angehörigen. Von Unterstützungsleistungen ihrer Angehörigen profitieren in erster Linie ältere Verwandte (46% der Fälle). Danach folgen Ehegatten (20%), Kinder oder Enkel (10%) und seltener auch befreundete Personen (9%).

Die Unterstützung ist vielfältig. Sie reicht von emotionalem Support über Hilfe beim Einkaufen, im Haushalt oder bei administrativen Aufgaben (z. B. Ausfüllen von Formularen, finanzielle oder juristische Beratung) bis hin zur Unterstützung bei der Einnahme von Medikamenten (siehe Abbildung 1).

Die Angehörigen geben an, dass sie im Schnitt schätzungsweise rund 12,2 Stunden pro Woche für die Unterstützung aufwenden. Abzüglich der Zeit für die Anwesenheit, die Gesellschaft, die emotionale Unterstützung sowie die Aufsicht sind es noch 7,5 Stunden pro Woche. Das entspricht insgesamt 388 Stunden pro Jahr.[6]

Abb. 1: Pflegende Angehörige unterstützen vor allem emotional, im Haushalt und bei administrativen Aufgaben (Kanton Genf, 2023)

INTERAKTIVE GRAFIK
Quelle: Rechnungshof des Kantons Genf (2023) / Die Volkswirtschaft

Substitutionseffekt nachgewiesen

In der Wirtschaftsliteratur gibt es zahlreiche Studien, die den Zusammenhang untersuchen zwischen der Unterstützung durch pflegende Angehörige und der Inanspruchnahme von Pflegedienstleistungen der öffentlichen Hand, sei es zu Hause oder in einem Alters- und Pflegeheim. Die meisten dieser Analysen mit nordamerikanischen oder europäischen Daten kommen zum Schluss, dass es einen Substitutionseffekt zwischen diesen beiden Formen der Unterstützung gibt.

Die Situation in der Schweiz war bisher noch nie Gegenstand einer solchen Untersuchung, und falls doch, liessen die Studien den Eintritt in ein Alters- und Pflegeheim unberücksichtigt. Der Genfer Rechnungshof führte daher eine Längsschnittstudie mit den Schweizer Daten des Panels durch, die den fünf letzten Befragungswellen zu Gesundheit, Alterung und Pensionierung in Europa (Befragung «Share») zwischen 2011 und 2020 entstammen.[7] Die Ergebnisse bestätigen: Es gibt tatsächlich einen Substitutionseffekt zwischen der Unterstützung durch einen Angehörigen und der Inanspruchnahme von offiziellen Gesundheitsdienstleistungen: Wurde jemand während der vorhergehenden Befragungswelle durch einen Angehörigen unterstützt, sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass er in der folgenden Befragungswelle eine staatlich finanzierte Pflegedienstleistung in Anspruch nimmt, um 39 Prozentpunkte.

Mehrere Hundert Millionen Franken gespart

Ein Substitutionseffekt zwischen der Unterstützung durch Angehörige und den offiziellen Gesundheitsdienstleistungen durch Fachleute existiert also. Nur, wie viel wird dadurch eingespart? Oder anders gefragt: Wie viel würde es kosten, wenn pflegende Angehörige ihre Unterstützung einstellen würden und Gesundheitsfachpersonen diese übernehmen müssten? Der Genfer Rechnungshof hat versucht, diese Frage zu beantworten. Dabei stützte er sich auf Umfragedaten sowie auf Vergütungstabellen für Gesundheitsfachpersonen im Kanton Genf.

Methodisch hat sich der Rechnungshof bei der Berechnung der Kosten an einer Studie des Beratungsunternehmens Ecoplan aus dem Jahr 2019[8] orientiert, welche die Betreuungskosten von demenzkranken Personen in der Schweiz ermittelt hat. Die Berechnung erfolgt dreistufig: Zunächst wird die Zahl der pflegenden Angehörigen im Kanton eruiert, danach die Anzahl Stunden, die sie für die Betreuung aufwenden. Diese Daten werden mithilfe von Umfragen erhoben. Die letzte Stufe besteht darin, die ermittelten Stunden mit den Lohnkosten der Fachleute zu verrechnen, welche die pflegenden Angehörigen ersetzen müssten (siehe Abbildung 2).

Abb. 2: Berechnung der Kosten für den Ersatz von pflegenden Angehörigen im Kanton Genf

Quelle: Rechnungshof des Kantons Genf (2023) / Die Volkswirtschaft

Die Berechnung der Ersatzkosten ergibt eine jährliche Einsparung von 568,7 Millionen Franken. Gemäss Konfidenzintervall liegt der tatsächliche Wert mit hoher Wahrscheinlichkeit zwischen 218 und 990 Millionen Franken. Diese Schätzung berücksichtigt jedoch nicht die Stunden, die für Leistungen wie «Gesellschaft, Anwesenheit und emotionale Unterstützung» erbracht werden. Denn es ist kaum möglich, für diese Form der Unterstützung Ersatzleistungen zu finden.

Die auf konservativen Annahmen beruhenden Schätzungen zeigen, wie wichtig die Angehörigen bei der Pflege und Betreuung von älteren Menschen sind. Natürlich hat die Analyse auch Grenzen, etwa weil sie sich auf die direkten Ersatzkosten konzentriert und die indirekten Kosten, beispielsweise für Beschäftigung und Sozialversicherungen, ausblendet. Dennoch ist die finanzielle Quantifizierung der Tätigkeit von pflegenden Angehörigen ein nützlicher Indikator für die Steuerung der Politik zur häuslichen Betreuung älterer Menschen im Kanton Genf. Unsere Ergebnisse bestätigen: Die Unterstützung von pflegenden Angehörigen gehört auf die politische Agenda. Und sie rechtfertigen die institutionelle Verankerung des kantonalen Unterstützungsangebots für pflegende Angehörige.

  1. Siehe BFS (2020). []
  2. Siehe BFS (2019). []
  3. Siehe Schweizerisches Gesundheitsobservatorium (2021). []
  4. Weitere Informationen zu den Massnahmen des Kantons Genf: siehe Website «Ge suis proche aidant». []
  5. Siehe Zufferey (2020). []
  6. Diese Zahlen wurden vom Rechnungshof des Kantons Genf mithilfe einer Umfrage bei der Genfer Bevölkerung erhoben. Ausführliche Informationen sind im Evaluationsbericht des Genfer Rechnungshofs nachzulesen. []
  7. Die fünf ausgewerteten Befragungswellen wurden in den Jahren 2011, 2013, 2015, 2017 und 2019–2020 in der Schweiz durchgeführt. Frühere Befragungswellen wurden nicht berücksichtigt, da sie die in Alters- und Pflegeheimen lebenden Personen ausschliessen. Für die schweizerische Stichprobe wurden 3997 Personen befragt, von denen über die Hälfte auf mindestens vier Befragungswellen geantwortet hat. Siehe Börsch-Supan (2022). []
  8. Siehe Ecoplan (2019). []

Literaturverzeichnis

Bibliographie

Zitiervorschlag: Maria Masood Dechevrens (2024). Seniorenbetreuung: Die Unterstützung durch Angehörige ist wichtig. Die Volkswirtschaft, 25. März.