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«Am liebsten bezahle ich die Gemeindesteuern»

Bundesrätin Karin Keller-Sutter ist überzeugte Föderalistin. Je grösser das Gebilde, desto eher versickere das Geld. Zudem spricht die Finanzministerin über fürstliche Managerlöhne, die Grenzen des Finanzausgleichs und ihr Occasionsvelo.

«Am liebsten bezahle ich die Gemeindesteuern»

Bundesrätin Karin Keller-Sutter in ihrem Büro in Bern: «Ich stelle fest, dass die Kantone zunehmend einen Bettelföderalismus betreiben.» (Bild: Keystone / Susanne Goldschmid)
Frau Bundesrätin Keller-Sutter, wie viel Taschengeld gab es als Kind?

Genau erinnere ich mich nicht. Sicher nicht viel, vielleicht so drei Franken pro Woche. Was ich aber noch ganz genau weiss: Wenn ich im Restaurant meiner Eltern mitgeholfen habe, gab es manchmal etwas dazu.

Haben Sie damals auf etwas Besonderes gespart?

Ja, ein Occasionsvelo. Das war in der fünften oder sechsten Klasse, und es kostete 80 Franken. Eigentlich wollte ich immer ein Töffli. Damals waren bei den Mädchen diese Ciao-Mofas in Mode. Aber das kam für meine Eltern überhaupt nicht infrage – auch wenn ich es selbst bezahlt hätte.

Mussten Sie den Gürtel für den Velokauf enger schnallen?

Ja, andere Ausgaben mussten zurückstehen.

Auch der Bund muss auf Ausgaben verzichten. Sie betonen stets, die Bundesfinanzen seien aus dem Lot. Wie kann das trotz Schuldenbremse passieren?

Aktuell haben wir das Problem, dass die Ausgaben schneller wachsen als die Einnahmen. Dadurch ist in den Finanzplanjahren ein strukturelles Defizit von jährlich 3 bis 4 Milliarden entstanden. Strukturell bedeutet, dass das Minus nicht konjunkturell bedingt ist und dieser Betrag gekürzt werden muss, wenn wir die Schuldenbremse einhalten wollen. Diese verlangt, dass Einnahmen und Ausgaben auf Dauer im Gleichgewicht sind und sich der Bund nicht längerfristig verschulden kann.

Welche Ausgaben wachsen?

Praktisch alle. Aber ein besonders starker Treiber ist die demografische Entwicklung. Diese hat Mehrausgaben bei der AHV zur Folge. Die angenommene AHV-Initiative verschärft diese Situation zusätzlich. Weitere Haupttreiber sind das Ausgabenwachstum bei der Armee, welche das Parlament beschlossen hat, Ergänzungsleistungen, Invalidenversicherung und Prämienverbilligungen.

Und die Flüchtlinge aus der Ukraine?

Im Moment ist das ein grosser Posten – jährlich über eine Milliarde Franken. Aber diese Ausgaben sind nicht langfristig. Wenn der Krieg einmal vorbei ist, wird dieses Engagement abnehmen. Bei den Sozialwerken, insbesondere der AHV und der Armee, sind die Ausgaben dauerhaft.

 

Bundesrätin Karin Keller-Sutter im Eidgenössischen Finanzdepartement in Bern: «Die Schuldenbremse ist nicht für das schöne Wetter gemacht.» (Bild: Keystone / Susanne Goldschmid)

 

Ihre Antwort lautet Sparen. Steuererhöhungen schliessen Sie aus. Warum?

Weil wir ein Ausgabenproblem haben. Die Schuldenbremse ist nicht für das schöne Wetter gemacht. Sie ist genau für Zeiten gemacht, in denen Begehrlichkeiten ins Kraut schiessen und alle mehr Geld verlangen. Die Schuldenbremse zwingt das Parlament dazu, Prioritäten zu setzen. Wenn das Parlament die Steuern erhöhen will, kann es das. Die Einnahmequellen des Bundes sind aber in erster Linie die Mehrwertsteuer und die direkte Bundessteuer. Will man diese erhöhen, braucht es eine Verfassungsänderung und damit eine Volksabstimmung. Das sind sehr hohe Hürden.

Gibt es eine «Der Staat hat für alles Geld»-Mentalität?

Ich glaube, es gibt einen gesellschaftlichen Wandel hin zu einem übertriebenen Individualismus: Man geht selber Risiken ein, bei einem Scheitern ruft man aber nach dem Staat. Das gilt für Private wie für Unternehmen. Diese Mentalität gab es schon vor der Corona-Krise, sie hat sich in der Pandemie aber noch verschärft.

Wie ändert man dieses gesellschaftliche Denken?

Das kann man nicht einfach so ändern. Es ist eine Frage der Werthaltung. Ich habe als Kind gelernt, dass man verzichten muss und nicht alles haben kann. Meine Eltern wären die Letzten gewesen, die in irgendeiner Weise den Staat zu Hilfe gerufen hätten. Wenn es nicht ging, haben sie sich zuerst selber eingeschränkt.

Fehlen uns vielleicht die Vorbilder?

Ich glaube, in einem Teil der Gesellschaft ist diese Werthaltung schon noch vorhanden. Aber mit dem gestiegenen Wohlstand hat das Bewusstsein abgenommen, dass man zuerst etwas erwirtschaften muss, bevor man es verteilen kann.

Womit hat das zu tun?

Diese Mentalität hat sich mit der Corona-Krise verfestigt, als der Bund wie von Zauberhand alles übernommen hat. Der Bund hat sich in dieser Zeit um 30 Milliarden verschuldet. Ich erinnere mich an Bundesratssitzungen, da haben wir nur noch über Milliarden gesprochen – nicht mehr über Millionen. In den Köpfen der Bevölkerung ist das wohl hängen geblieben: Ja, der Staat richtet es dann schon. Ich bezahle ja Steuern, dann sollen sie für mich schauen.

Bei der Credit-Suisse-Rettung wurden ebenfalls riesige Beträge an einem Wochenende bereitgestellt.

Bei der Credit Suisse ging es darum, der Nationalbank Garantien zu geben, damit sie der Credit Suisse genug Liquidität ausleihen konnte. Diese Garantieverträge wurden inzwischen vollumfänglich aufgehoben – und nicht nur das: 200 Millionen Franken an Zinsen und Gebühren flossen in die Bundeskasse. Aber darum ging es nicht. Das Hauptziel war die Stabilisierung des Finanzsystems. Ich bin überzeugt: Hätten wir nicht gehandelt, wäre die Schweiz in eine Wirtschaftskrise geschlittert mit internationalem Ansteckungsrisiko. Auch die Realwirtschaft wäre davon betroffen gewesen.

 

Ich habe grosses Verständnis dafür, dass in Teilen der Bevölkerung ein Gefühl der Ungerechtigkeit aufkam.

 

Förderte die CS-Rettung nicht diese Anspruchshaltung gegenüber dem Staat?

Ich habe grosses Verständnis dafür, dass in Teilen der Bevölkerung ein Gefühl der Ungerechtigkeit aufkam. Da wähnte man sich im falschen Film: Jahrelang wurden Manager fürstlich entlöhnt, obwohl die Bank in den Abgrund gewirtschaftet wurde. Aber die Garantien waren dafür da, Schlimmeres zu verhindern.

Sie waren zwölf Jahre Regierungsrätin im Kanton St. Gallen. Hat sich Ihr Bild vom Bund geändert, seit Sie die Seite gewechselt haben?

Nicht wirklich. Ich war immer eine überzeugte Föderalistin. Allerdings stelle ich fest, dass die Kantone zunehmend einen Bettelföderalismus betreiben: Sobald der Bund fünf Franken bezahlt, sind die Kantone bereit, Kompetenzen abzugeben. Das ist schädlich für den Föderalismus – genauso wie auch das Verschieben von Aufgabenlasten an den Bund.

Woran denken Sie konkret?

Zum Beispiel die Kinderbetreuung. Das ist klar eine kantonale Aufgabe. Trotzdem befürwortet die Sozialdirektorenkonferenz, dass der Bund diese Aufgabe übernimmt. Das ist neu.

Der Bund zentralisiert, weil die Kantone dazu immer mehr bereit sind?

Es ist beides. Natürlich ist man auch im Parlament eher geneigt, eine Aufgabe zu zentralisieren. Denn dadurch hat das Parlament auch das Sagen und die Kontrolle. Auch mit Volksinitiativen wird diese Zentralisierung befeuert. Denken Sie etwa an die Prämienentlastungsinitiative, über die wir im Juni abstimmen. Die Prämienverbilligungen – heute in der Kompetenz der Kantone – würden bei einer Annahme immer stärker zur Bundesaufgabe. Mit entsprechender Kostenfolge für den Bundeshaushalt.

Im März haben Sie eine externe Expertengruppe zur Aufgaben- und Subventionsprüfung eingesetzt. Was versprechen Sie sich davon?

Wir erwarten im Bundeshaushalt ein strukturelles Defizit von jährlich 4 Milliarden Franken. Damit das Budget auch weiterhin mit der Schuldenbremse konform ist, braucht es massive Entlastungen. Dafür müssen alle Aufgaben des Bundes auf ihre Notwendigkeit, Effizienz und Zuständigkeit überprüft werden. Sind die Finanzströme mit den Transferzahlungen des Bundes noch richtig angelegt? Ist jede Steuervergünstigung und jede Subvention gerechtfertigt? Alle diese Fragen gehören auf den Tisch.

 

Wir wollen den finanzpolitischen Handlungsspielraum wiedergewinnen.

 

Gibt es überhaupt Spielraum? Zwei Drittel der Bundesausgaben sind doch gebunden.

Deshalb braucht es diese Überprüfung. Wir wollen den finanzpolitischen Handlungsspielraum wiedergewinnen: sowohl für das Parlament als auch für den Bundesrat. Wir mussten in den letzten beiden Jahren und wohl auch dieses Jahr wieder sogenannte Querschnittskürzungen vornehmen, sprich, alle schwach und ungebundenen Ausgaben werden um den gleichen Prozentsatz gekürzt. Das ist sehr unbeliebt und auch nicht wirklich strategisch. Ein erstes Ziel wäre, solche Querschnittskürzungen für das Jahr 2026 vermeiden zu können.

Werden die Ergebnisse der Expertengruppe 2026 schon wirken?

Möglicherweise. Es wäre wünschenswert, bereits kurzfristig Entlastungen zu realisieren – zum Beispiel mittels rascher durchführbarer Verordnungsanpassungen. Und längerfristig könnten Gesetzesänderungen eingeleitet werden.

Wie viel soll die Expertengruppe gemäss Ihrem Auftrag einsparen?

Vier Milliarden Franken. Das ist unser strukturelles Defizit.

Was sagen die Kantone dazu?

Es wird sich zeigen, wo die Kantone überhaupt betroffen sind. Sehen wir konkrete Einsparungsmöglichkeiten, dann sprechen wir mit den Kantonen und den Sozialpartnern.

40 Prozent des kantonalen Finanzausgleichs werden aktuell von acht Kantonen finanziert. Der Rest kommt vom Bund. Wie erklären Sie einer ausländischen Amtskollegin den Schweizer Finanzausgleich?

Die wirtschaftlich starken Kantone und der Bund helfen den wirtschaftlich schwächeren Kantonen. Damit wird der Zusammenhalt in der föderalen Schweiz gestärkt.

Wieso sind die reichen Kantone bereit, in den Ausgleich einzubezahlen?

Der nationale Zusammenhalt kann nur gelingen, wenn es diesen Ausgleich gibt. Das ist wie in einer Familie. Trotz den 26 Gliedstaaten sind wir ein Land und für alle verantwortlich. Im Puschlav müssen die staatlichen Leistungen grundsätzlich in gleicher Qualität zur Verfügung stehen wie in Zürich oder Genf. Wenn das nicht mehr funktioniert, fällt das Land auseinander. Das sieht man ja in Ländern, wo die Unterschiede zwischen den Regionen gross sind.

Wie ist die Stimmung unter den Finanzdirektoren?

Ich nehme diese als gut wahr, solange keiner übertreibt. Sprich, solange finanzstarke Kantone die Steuern nicht übermässig senken und Nehmerkantone sich keine unverhältnismässig teuren staatlichen Leistungen gönnen.

Gibt es Grenzen dieser Solidarität?

Ich denke schon, und zwar auf beiden Seiten, also bei den Nehmer- wie auch den Geberkantonen. Der Zürcher Finanzdirektor Ernst Stocker hat im Zusammenhang mit der OECD-Mindestbesteuerung einmal gesagt, dass man nach deren Einführung bei den kleineren Kantonen nicht alles akzeptiere. Damit meint er, dass Zürich bereits grosse Zentrumslasten trägt, beispielsweise in den Bereichen Bildung und Soziales, und irgendwann auch die Finanzen des grossen Geberkantons knapp werden. Umgekehrt gibt es Nehmerkantone mit schwierigen topografischen Voraussetzungen. Dass es da einen Ausgleich braucht, sieht jeder ein. Aber man darf das System auf beiden Seiten nicht überstrapazieren.

 

Es müsste doch das Ziel und der Ehrgeiz eines jeden Kantons sein, ein Geberkanton zu werden.

 

Ökonomen bemängeln: Finanzschwache Kantone haben zu wenig Anreize, ihre Standortattraktivität zu erhöhen.

Es ist so, dass Kantone weniger Geld aus dem Ressourcenausgleich erhalten, wenn sie sich verbessern. Daraus ergibt sich ein Zeitraum, in dem die Kantone unter dem Strich trotz Bemühen kein grösseres Finanzbudget haben. Dafür werden sie längerfristig attraktiver. Vor allem aber: Es müsste doch das Ziel und der Ehrgeiz eines jeden Kantons sein, ein Geberkanton zu werden.

Die Kantone profitieren im Finanzausgleich, wenn sie ihr Steuersubstrat kleinrechnen, zum Beispiel Immobilien zu tief einschätzen. Braucht es mehr Bundesaufsicht?

Ich glaube nicht, dass die Kantone einen Bundesvogt brauchen oder wollen. Das wird auch politisch immer wieder verneint.

Generell: Muss man die Spielregeln im Finanzausgleich anpassen?

Im Moment gibt es keinen grossen Änderungsbedarf. Das zeigt der eben vom Bundesrat veröffentlichte Wirksamkeitsbericht 2020 bis 2025.

Als Finanzministerin haben Sie genauen Einblick in die Bundesfinanzen. Wie gerne zahlen Sie Steuern?

Früher habe ich immer gesagt: Am liebsten bezahle ich die Gemeindesteuern, denn da sehe ich die Wirkung direkt. Je grösser das Gebilde, desto eher versickert das Geld.

Und heute?

Diesen Eindruck habe ich eigentlich noch immer. (lacht) Und deshalb ist der Föderalismus so gut. Denn je überschaubarer die Staatsebene, desto eher sind die Bürger bereit zu bezahlen: für eine neue Mehrzweckhalle oder einen neuen Kinderspielplatz etwa. Da sieht man einen unmittelbaren Nutzen. Zudem kann man auch ganz konkret darüber abstimmen. Diese Mitbestimmung ist beim Bund natürlich viel geringer.

Wollen wir dennoch festhalten, Sie bezahlen gerne Steuern?

Gerne ist etwas übertrieben. Es ist eine Bürgerinnenpflicht.

Zitiervorschlag: Guido Barsuglia, Matthias Hausherr (2024). «Am liebsten bezahle ich die Gemeindesteuern». Die Volkswirtschaft, 15. April.

Karin Keller-Sutter

Die 60-jährige Bundesrätin steht seit 2023 dem Eidgenössischen Finanzdepartement (EFD) vor. Sie ist ausgebildete Dolmetscherin (Deutsch-Französisch und Deutsch-Englisch) sowie Mittelschullehrerin. Von 2000 bis 2012 war Karin Keller-Sutter Regierungsrätin und Chefin des Justiz- und Sicherheitsdepartements des Kantons St. Gallen. Bevor sie 2019 Bundesrätin wurde, hatte die FDP-Politikerin mehrere Präsidiums- und Verwaltungsratsmandate inne, unter anderem bei der Anlagestiftung Pensimo, der Versicherungsgruppe Baloise, dem Detailhandelsverband, dem Schweizerischen Arbeitgeberverband und der NZZ-Mediengruppe.

Dem EFD unterstehen unter anderem das Staatssekretariat für internationale Finanzfragen (SIF), die Eidg. Finanzverwaltung (EFV), die Eidg. Steuerverwaltung (ESTV), das Bundesamt für Zoll und Grenzsicherheit (BAZG), das Eidg. Personalamt (EPA), das Bundesamt für Informatik und Telekommunikation (BIT), das Bundesamt für Bauten und Logistik (BBL). Das EFD beschäftigt rund 8700 Personen.