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Schweizer Solidarität mit Schönheitsfehlern

Der Nationale Finanzausgleich ist ökonomisch sinnvoll. Allerdings: Nehmerkantone haben nur wenige Anreize, attraktiver zu werden.
Die Aufgabenentflechtung zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden bleibt ein Ziel des Finanzausgleichs. (Bild: Keystone)

Der Föderalismus ist tief in der institutionellen Tradition der Schweiz verwurzelt. Im Herzen des föderalen Systems stehen zwei Prinzipien: das Subsidiaritätsprinzip und die fiskalische Äquivalenz. Dem Subsidiaritätsprinzip folgend sollte der Bund nur Aufgaben übernehmen, welche Kantone oder Gemeinden nicht selber erfüllen können, so beispielsweise die Landesverteidigung. Das Prinzip der fiskalischen Äquivalenz besagt, dass die Nutzer öffentlicher Leistungen auch für deren Kosten aufkommen sollten. Ein Beispiel sind sogenannte Zentrumslasten: Wenn das kulturelle Angebot eines Kantons von Einwohnern eines anderen Kantons genutzt wird, müsste der Nachbarkanton ebenfalls Beiträge zur Finanzierung leisten, um die fiskalische Äquivalenz aufrechtzuerhalten. Mit der Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung (NFA) im Jahr 2008 wurden diese Prinzipien fest in der Bundesverfassung verankert.

Föderales Politiklabor

Doch wozu gibt es überhaupt die komplizierte dezentrale Organisation staatlicher Aufgaben? Weil öffentliche Leistungen auf lokaler Ebene tendenziell effizienter erbracht werden können als von einem Zentralstaat, argumentierte 1972 der US-amerikanische Ökonom Wallace E. Oates mit seiner Dezentralisierungstheorie.[1] Ihm zufolge kennen lokale Regierungen die lokal vorherrschenden Präferenzen ihrer Bürger besser als der weiter entfernte Zentralstaat, weshalb sie die Wünsche entsprechend passender adressieren können.

Die bessere Informationslage ist aber nicht der einzige Vorteil des Fiskalföderalismus. Der Föderalismus ist auch eine Art Politiklabor.[2] Denn wenn mehrere lokale Regierungen selbst über ihre Politik entscheiden können, werden häufiger unterschiedliche Lösungsansätze für dasselbe Problem ausprobiert. Das steigert die Innovationskraft des öffentlichen Sektors, während der potenzielle Schaden solcher Versuche für eine ganze Nation eher gering bleibt. Sollte ein Lösungskonzept nicht funktionieren, so werden die Kosten nur von einem begrenzten Teil der Bürger getragen. Funktioniert ein Lösungskonzept, können es die anderen Gliedstaaten übernehmen. In einem Zentralstaat hingegen müssten diese Kosten von allen getragen werden.

Disziplinierende Eigenverantwortung

Ein konsequenter Fiskalföderalismus setzt voraus, dass Gemeinden und Kantone über Einnahmen- und Ausgabenautonomie verfügen. Ist der Nutzerbereich einer öffentlichen Leistung auch räumlich klar abgegrenzt, ist die fiskalische Äquivalenz erfüllt. Die Eigenverantwortlichkeit hat zudem eine disziplinierende Wirkung auf regionale Finanzpolitiker und fördert den sorgfältigen Umgang mit Steuergeldern.[3]

Verstärkt wird diese Disziplin durch den Wettbewerb zwischen den Gebietskörperschaften. Denn die Bürger können «mit den Füssen abstimmen» und ziehen dorthin, wo das Angebot öffentlicher Leistungen und deren Kosten in Form von Steuern aus ihrer Sicht optimal ist. Der Wettbewerb führt dazu, dass das Angebot öffentlicher Güter besser mit den tatsächlichen Bedürfnissen der Einwohner übereinstimmt.[4]

Trotz dieser Vorteile birgt der fiskalische Wettbewerb auch Herausforderungen: Er kann die fiskalische Ungleichheit zwischen den Gebietskörperschaften verschärfen und zu einer Ressourcenkonzentration in einigen wenigen Regionen führen. Wenn attraktive Standort- und Steuerpolitiken einer Region steuerbare Ressourcen aus benachbarten Gebieten anziehen, geraten weniger wohlhabende Regionen womöglich ins Hintertreffen. Das kann dazu führen, dass sie nicht mehr in der Lage sind, ihre öffentlichen Aufgaben angemessen zu erfüllen.[5]

Das Trilemma des Finanzausgleichs

Um allfällige negative Effekte des Föderalismus abzumildern, kann ein Finanzausgleich helfen.[6] Dieser soll die finanziellen Lasten und Leistungen zwischen den staatlichen Akteuren ausgewogener verteilen, ohne die Autonomie von Gemeinden und Kantonen zu untergraben. Das soll die soziale und wirtschaftliche Kohäsion innerhalb des föderalen Systems stärken.

Wie man ein solches Finanzausgleichssystem gestaltet, ist auch eine politische Frage. Ähnlich wie in der Sozialpolitik gibt es nämlich Zielkonflikte. Konkret besteht ein Trilemma zwischen der Höhe der finanziellen Mindestausstattung pro Kanton, der Finanzierbarkeit und den effektiven Anreizen für die Kantone, ihre Finanzkraft ohne Transfers zu erhöhen.[7] Es können nur zwei dieser Funktionen gleichzeitig erfüllt werden. Will man effektive Anreize schaffen, muss man nämlich die Progression des Systems stark reduzieren. Will man gleichzeitig eine hohe finanzielle Mindestausstattung der Kantone sicherstellen, ist jedoch die langfristige Finanzierbarkeit nicht sichergestellt. Und umgekehrt genügt die Mindestausstattung wahrscheinlich nicht, wenn man die Finanzierbarkeit erhalten möchte. Ein System ohne Fehlanreize zu gestalten, ist deshalb politisch schwierig.

Ausgleich mit Fehlanreizen

Mit diesen Zielkonflikten kämpft auch der Schweizer Finanzausgleich. Dort wird die Ausgleichsfunktion primär durch den sogenannten Ressourcenausgleich erfüllt, der für etwa 80 Prozent der Umverteilung im Finanzausgleich verantwortlich ist. Er soll sicherstellen, dass jeder Kanton über genügend finanzielle Mittel zur Erfüllung seiner öffentlichen Aufgaben verfügt. Zur Berechnung dieser Transfers wird der sogenannte Ressourcenindex je Kanton herangezogen (siehe Kasten). Dieser bestimmt, welcher Kanton zahlt und wer etwas erhält (siehe Abbildung).

Die meisten Kantone profitieren vom Ressourcenausgleich (2023)

INTERAKTIVE GRAFIK
Lesebeispiel: Die Nehmerkantone links überhalb der 45-Grad-Linie stehen nach dem Ausgleich besser da als vorher. Für die Geberkantone rechts unterhalb der 45-Grad-Linie ist es umgekehrt.
Quelle: EFV (2023), eigene Darstellung der Autoren / Die Volkswirtschaft

Der Finanzausgleich erzielt eine Angleichung der Finanzkraft der Kantone. Allerdings: Er führt auch zu Fehlanreizen. Das gilt insbesondere für die Nehmerkantone. Ein Problem sind die sogenannten Grenzabschöpfungsquoten. Sie zeigen, um wie viel die Transferzahlungen an einen Nehmerkanton abnehmen beziehungsweise um wie viel sich die Zahlungen eines Geberkantons erhöhen, wenn das Ressourcenpotenzial wächst. Wenn ein Kanton also durch eine attraktive Standortpolitik ein neues Unternehmen zu sich lockt, trägt dessen Gewinn für den Kanton dazu bei, dass man weniger Transfers erhält oder mehr Gelder in den Finanzausgleich einbezahlen muss.

Viele Nehmerkantone wie etwa der Jura und das Wallis haben aufgrund hoher Grenzabschöpfungsquoten finanzpolitisch betrachtet nur geringe Anreize, ihre Standortattraktivität zu erhöhen. Das heisst: Ein Anstieg ihres Ressourcenpotenzials würde zu einem Rückgang der Transferzahlungen führen, den auch neue Steuereinnahmen nicht kompensieren können.[8] Zusätzlich zeigt die politische Ökonomie, dass Transfereinnahmen eher zur Ausgabenerhöhung als zur Reduktion der Steuerlast genutzt werden.[9] Dieser sogenannte Flypaper-Effekt verstärkt potenziell die Anreizproblematik.

Mindestausstattung reduzieren?

So weit die finanzpolitischen Herausforderungen. Gleichzeitig konnte der Nationale Finanzausgleich die bereits vor 2008 bestehende Tendenz einer zunehmenden Zentralisierung und Aufgabenverflechtung nicht aufhalten,[10] die sich etwa in der Bildungs- und der Gesundheitspolitik zeigt. Das kostet die Kantone politischen Handlungsspielraum und widerspricht den Zielen des Finanzausgleichs, die eigentlich einen Abbau der Aufgabenverflechtungen zwischen Bund und Kantonen fordern.

Weil der Finanzausgleich zum gesellschaftlichen Zusammenhalt beiträgt und einen fairen Föderalismus ermöglicht, sollte man ihm Sorge tragen. Um den genannten Problemen entgegenzuwirken und den Schweizer Föderalismus zu stärken, würden sich eine Adjustierung des Finanzausgleichs und ein Abbau der Aufgabenverflechtung zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden anbieten. Um die Problematik bei den Grenzabschöpfungsquoten zu mildern, könnten zum Beispiel Alternativen zum progressiven Verteilschlüssel diskutiert werden. Wegen der erwähnten Zielkonflikte würde dies allerdings bedeuten, dass eine Reduktion der Mindestausstattung womöglich notwendig wäre, um die Finanzierbarkeit des Systems aufrechtzuerhalten. In welche Richtung es gehen soll, gilt es bei zukünftigen Reformen des Finanzausgleichssystems auszuarbeiten.

  1. Oates (1972). []
  2. Oates (1999). []
  3. Olson (1969); Pitlik und Schmid (2000). []
  4. Tiebout (1956). []
  5. Wilson (1999). []
  6. Köthenbürger (2002). []
  7. Leisibach und Schaltegger (2019). []
  8. Leisibach und Schaltegger (2019). []
  9. Hines und Thaler (1995). []
  10. Siehe Schaltegger, Portmann und Winistörfer (2023) sowie Schaltegger und Winistörfer (2014). []

Literaturverzeichnis
  • Hines Jr, J. R. und Thaler, R. H. (1995). Anomalies: The Flypaper Effect. Journal of Economic Perspectives, 9(4), 217–226.
  • Köthenbürger, M. (2002). Tax Competition and Fiscal Equalization. International Tax and Public Finance, 9, 391–408.
  • Leisibach, P. und Schaltegger, C. A. (2019). Zielkonflikte und Fehlanreize: Eine Analyse der Anreizwirkungen im Schweizer Finanzausgleich. Perspektiven der Wirtschaftspolitik, 20(3), 254–280.
  • Oates, W. E. (1972). Fiscal Federalism. Harcourt Brace Jovanovich, New York.
  • Oates, W. E. (1999). An Essay on Fiscal Federalism. Journal of Economic Literature, 37(3), 1120–1149.
  • Olson, M. (1969). The Principle of «Fiscal Equivalence»: the Division of Responsibilities Among Different Levels of Government. The American Economic Review, 59(2), 479–487.
  • Pitlik, H. und Schmid, G. (2000). Zur politischen Ökonomie der föderalen Finanzbeziehungen in Deutschland. Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, 49(1), 100–124.
  • Schaltegger, C. A., Portmann, M. und Winistörfer, M. M. (2023). Die Schweiz wird zentralistischer – nicht nur wegen Covid-19.
  • Schaltegger, C. A. und Winistörfer, M. M. (2014). Zur Begrenzung der schleichenden Zentralisierung im Schweizerischen Bundesstaat. ORDO, 65(1), 183–228.
  • Tiebout, C. M. (1956). A Pure Theory of Local Expenditures. Journal of Political Economy, 64(5), 416–424.
  • Wilson, J. D. (1999). Theories of Tax Competition. National Tax Journal, 52(2), 269–304.

Bibliographie
  • Hines Jr, J. R. und Thaler, R. H. (1995). Anomalies: The Flypaper Effect. Journal of Economic Perspectives, 9(4), 217–226.
  • Köthenbürger, M. (2002). Tax Competition and Fiscal Equalization. International Tax and Public Finance, 9, 391–408.
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  • Wilson, J. D. (1999). Theories of Tax Competition. National Tax Journal, 52(2), 269–304.

Zitiervorschlag: Lukas Mair, Martin Mosler, Christoph A. Schaltegger (2024). Schweizer Solidarität mit Schönheitsfehlern. Die Volkswirtschaft, 12. April.

Ressourcenindex als Mass für das Steuerpotenzial

Zur Berechnung der Transfers im Ressourcenausgleich wird der sogenannte Ressourcenindex je Kanton herangezogen. Dieser bestimmt, welcher Kanton zahlt und wer etwas erhält. Die Ressourcenindizes werden berechnet, indem das kantonale Ressourcenpotenzial pro Einwohner (ein Schätzwert für die steuerbaren Einkommen und Vermögen natürlicher Personen und die Gewinne juristischer Personen) mit dem Schweizer Durchschnitt verglichen wird.

Kantone mit einem Ressourcenindex unter dem Durchschnitt von 100 Prozent erhalten als Nehmerkantone Transfers aus dem System. Kantonen mit einem Ressourcenindex von weniger als 70 Prozent wird ein Minimum von 86,5 Prozent der durchschnittlichen Schweizer Finanzkraft garantiert. Die restlichen Nehmerkantone erhalten progressive Zuwendungen, mit denen ihre Finanzkraft auf mehr als 86,5 Prozent des Durchschnitts angehoben wird. Will heissen: Je tiefer ihr Ressourcenpotenzial vor dem Ausgleich, desto stärker wird es durch die Transfers angehoben. Das führt etwa dazu, dass die Kantone Wallis und Uri nach dem Ressourcenausgleich beinahe gleichauf sind, obwohl der Kanton Uri vor Ausgleich mit 71 Prozent rund 7 Prozentpunkte höher lag.

Kantone mit einem Ressourcenindex über 100 Prozent des Schweizer Durchschnitts müssen als Geberkantone Transferzahlungen leisten. Die geschuldeten Beiträge werden linear ermittelt (siehe Abbildung). Die Geberkantone finanzieren insgesamt rund 40 Prozent des Systems, der Bund die restlichen 60 Prozent.