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Anarchie: Gedanken aus der politischen Philosophie

Eine funktionierende Wirtschaft braucht durchsetzbare Eigentumsrechte. Der Staat garantiert diese. Aber soll er sich im anarcho-liberalen Idealmodell auch um Chancengleichheit und die Umverteilung von Einkommen kümmern?
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Talent allein generiert keinen ökonomischen Mehrwert: Wenn Roger Federer nicht täglich trainiert hätte, wäre er nicht so erfolgreich gewesen. (Bild: Keystone)

«Die Gesellschaft, die die Produktion auf Grundlage freier und gleicher Assoziation der Produzenten neu organisiert, versetzt die ganze Staatsmaschine dahin, wohin sie dann gehören wird: ins Museum der Altertümer, neben das Spinnrad und die bronzene Axt.» Dieses Ideal einer Gesellschaft frei wirtschaftender Menschen ohne Staat – ich nenne es in der Folge das anarcho-liberale Ideal – stammt von Friedrich Engels, dem berühmten Mitstreiter von Karl Marx.[1] Er unterstellte im Jahr 1884, dass sich die Gesellschaft mit raschen Schritten auf diesen Zustand hinbewege. Da dies nie eintraf, nahmen sozialistische Systeme durch Verstaatlichung der Produktion und zentrale Planwirtschaft eine staatliche «Abkürzung» hin zur staatsfreien Gesellschaft. Anstatt den Staat loszuwerden, endeten sie ihrerseits in einem unterdrückerischen Staat.

Es gibt heute im Rahmen der Digitalisierung einen ähnlichen Richtungsstreit bezüglich der Zukunft des Staats. Von Blockchain erwarten einige die dezentrale Sicherung der Verträge und Transaktionen frei wirtschaftender Menschen, die den Staat überflüssig mache. Von der künstlichen Intelligenz (KI) erwarten hingegen andere die Lösung des hayekschen Wissensproblems, nach dem es keine Instanz geben kann, die ohne Markt über das Wissen verfügt, das durch die Preisbildung des freien Markts entsteht. Die KI könnte, so die These, dieses Wissensproblem lösen und die zentrale Planwirtschaft ermöglichen. Die Frage, ob sich überhaupt eine der Vorhersagen durchsetzen wird, muss die Philosophie unbeantwortet lassen. Sie kann aber fragen: Ist am anarcho-liberalen Ideal etwas grundsätzlich falsch oder unvollständig?

Der Staat sorgt für Sicherheit

Eine Entgegnung lautet, dass die Möglichkeit von Gewalt und Bedrohung – dies kann auch unabsichtlich sein, wie in einer Pandemie – als Grundkonstante angenommen werden muss. Daraus ergibt sich die Begründung einer höchsten politischen Autorität, die allein das elementare Gut der Sicherheit bereitstellen kann: durch Gewaltmonopolisierung, Trittbrettfahrerverbote, Gewaltverbot, Zertifizierung und Gewaltprävention. Besonders Letztere begründet nicht nur das Argument für einen Minimalstaat: Alle und insbesondere die erfolgreich wirtschaftenden Menschen haben einen vernünftigen Grund, einen Staat gutzuheissen, der so auf die Gesellschaft einwirkt, dass alle ihr erwirtschaftetes Eigentum in Sicherheit wissen können. Da der Staat als mächtiger Sicherheitsgarant selbst zu einer Quelle grosser Unsicherheit werden kann, sollte er durch Gesetze, institutionelle Gleichgewichte und soziale sowie wirtschaftliche Gegenkräfte eingeschränkt werden.

Ein weiteres Problem betrifft die Ungleichheit der Bedingungen bei der wirtschaftlichen Tätigkeit: Sowohl die inneren Ressourcen der Menschen (Talente, Fähigkeiten etc.) als auch die äusseren materiellen Ressourcen sind sehr ungleich verteilt. Gemäss dem anarcho-liberalen Ideal gehört das Produkt den Produzierenden, alles andere ist Ausbeutung. Dadurch rechtfertigt sich eine ungleiche Wohlstandsverteilung durch ungleiche Leistung. An der Frage, wie viel und welche Art von Gleichheit die Gerechtigkeit zwischen den wirtschaftenden Menschen und ihren Gruppen (Kooperativen, Firmen etc.) erfordert, scheiden sich die Geister.

Aus dem bereits genannten Sicherheitsargument lassen sich gewisse staatliche Massnahmen gegen krasse materielle Ungleichheit in den Produktions- und Tauschergebnissen begründen, weil diese empirisch oft mit Unsicherheit korreliert.[2] Die Umverteilung, um Sicherheit zu befördern, ist aber zweischneidig, weil Umverteilung die Unsicherheit des Eigentums erhöht. Unter den Bedingungen des beständigen freien Produzierens – dazu gehört auch das beständige Produzieren von Dingen, die ihrerseits als Produktionsmittel verwendet werden können und damit die Wertschöpfung ihrer Produzenten exponentiell steigern – sowie des freien Tauschens und Schenkens wird sich trotzdem nie eine materielle Ergebnisgleichheit zwischen den freien Produzenten einstellen. Diese könnte nur erreicht werden, wenn das freie Produzieren und Transferieren unterbunden wird. Wenn am Sicherheitsargument festgehalten wird, sollte materielle Ergebnisungleichheit reduziert werden – aber nicht, um materielle Gleichheit zu erreichen, sondern nur bis zum Punkt, an dem von der Ungleichheit keine Sicherheitsgefährdung mehr ausgeht. Wo sich dieser Punkt befindet, ist kontextabhängig.

Chancengleichheit um jeden Preis?

Wie steht es aber mit der Gleichheit der Voraussetzungen, sprich der Chancengleichheit? In einer glücksegalitaristischen Variante widerspricht Chancengleichheit dem staatsfreien anarcho-liberalen Ideal, weil sie einen Staat erfordert, der alle zufälligen Bedingungen – also Glück – ausgleicht. Es wird nicht hingenommen, dass Menschen mit einem ungleichen Mass an Talent, Charakterstärke, Intelligenz etc. ungleich erfolgreich wirtschaften. Konkret hiesse das, dass der Staat Roger Federer jenen Anteil an seinem Einkommen hätte wegnehmen müssen, der auf seinem natürlichen Tennistalent beruhte. Dieser Anteil hätte an alle zu gleichen Teilen verteilt werden müssen. Denn, so die Theorie, Talent ist eine natürliche Ressource, die im Prinzip allen zusteht, aber durch einen natürlichen Lottogewinn nur einigen zukommt. Diese Überlegung müssten wir auf jede Person ausdehnen, und daraus ergibt sich die Forderung massiver staatlicher Umverteilung.

Dem Glücksegalitarismus kann aber unter anderem entgegengehalten werden, dass Talente und das soziale Umfeld an sich keinen ökonomischen Mehrwert produzieren. Das Talent von Roger Federer ist ein Interaktionsresultat, zu dem er beständig einen notwendigen Beitrag leisten musste: Wenn er nicht täglich trainiert hätte, hätte er auch keinen Erfolg gehabt.
Das anarcho-liberale Ideal kann dem Glücksegalitarismus standhalten. Von der Chancengleichheit übrig bleibt dann, dass in einer Gesellschaft der Zugang zu Befähigung, sozialen Positionen und produktivem Kapital für all diejenigen gerecht gestaltet sein muss, die sich darum bemühen. Dass dies ohne Staat am besten funktioniert, wie das anarcho-liberale Ideal unterstellt, wäre zu beweisen.

Die freiwillig und unfreiwillig Unproduktiven

Ferner muss die Möglichkeit bedacht werden, dass einige Menschen unfreiwillig unzureichend produktiv sind. Wenn wir davon ausgehen, dass ihnen geholfen werden sollte, aber nicht allen durch zivilgesellschaftliche Solidarität geholfen wird, muss eine Institution subsidiär dafür aufkommen, wie zum Beispiel eine Alters-, Hinterbliebenen- oder Invalidenversicherung (AHV/IV). Für den Fall, dass diese zu wenig freiwillige Zuwendungen erhält, müsste sie ihre Tätigkeit durch Zwangsabgaben finanzieren, also mit Kompetenzen des Staats ausgestattet werden.

Es gilt auch zu bedenken, dass nicht alle Menschen wirtschaftlich produktiv sein wollen. Wird das anarcho-liberale Ideal nicht übertrumpft vom übergeordneten liberalen Ideal der weltanschaulichen Neutralität, das den Menschen ein Recht auf Austritt aus der Produktivität gewährt? Es ist aus Sicht der anarcho-liberalen Produzierenden kein Problem, solche weltanschauungsneutralen Freiräume zu gewähren. Die aus der Produktivität freiwillig Ausgetretenen müssen ihrerseits anerkennen, dass sie keine berechtigten materiellen Forderungen an die Produzierenden stellen können, wie zum Beispiel die eines bedingungslosen Grundeinkommens.

Es stellt sich aber die Frage, wer diese Freiräume – zum Beispiel autonome Gebiete von Menschen mit nicht industriellen, pastoralen Lebensformen – garantiert für den Fall, dass die Produktiven diese bedrohen. Es brauchte dann wiederum eine Institution, die sie schützt. Dies wiederum bedeutet, dass die freiwillig Unproduktiven zumindest so viel produzieren müssen, um ihren Teil der Sicherheitsleistung des Staats mit einer Steuer abzugleichen. Denn dies zu bezahlen, können die freiwillig Unproduktiven nicht von den Produzierenden verlangen. Das Gegenargument der weltanschaulichen Neutralität ist also für beide Seiten unbequem. Anarcho-Liberale müssen einem Staat zustimmen, der das Grundrecht der freien Wahl von – unter Umständen weniger produktiven, nicht industriellen – Lebensformen garantiert. Den freiwillig Unproduktiven hingegen wird vorgeführt, dass sie um ein bestimmtes Mass an Produktivität, das über das reine Überleben hinausgeht und besteuert wird, nicht herumkommen – für den Fall, dass sie vom Staat einen Schutz ihrer alternativen Lebensform erwarten.

Aus diesen Überlegungen ergibt sich, dass es am anarcho-liberalen Ideal hinsichtlich des freien Produzierens und Assoziierens unter gleichen Bedingungen nichts Grundsätzliches auszusetzen gibt, durch die prinzipielle Ablehnung des Staats wird es aber in sich widersprüchlich. Ferner schulden Anarcho-Liberale den freiwillig Unproduktiven die Garantie von Freiräumen und den unfreiwillig unzureichend Produktiven Unterstützung – also die Anerkennung eines Staats, der beides garantiert.

  1. Siehe Engels (1884). []
  2. Siehe Krammer et al (2022). []

Literaturverzeichnis
  • Engels, F. (1884). Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats. Zürich, S.168.
  • Krammer, S. et al. (2022). Income Inequality, Social Cohesion, and Crime Against Businesses: Evidence from a Global Sample of Firms. Journal of International Business Studies. Volume 54, pages 385–400.

Bibliographie
  • Engels, F. (1884). Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats. Zürich, S.168.
  • Krammer, S. et al. (2022). Income Inequality, Social Cohesion, and Crime Against Businesses: Evidence from a Global Sample of Firms. Journal of International Business Studies. Volume 54, pages 385–400.

Francis Cheneval (2024). Anarchie: Gedanken aus der politischen Philosophie. Die Volkswirtschaft, 11. Juni.