BIP-Zahlen: Das lange Warten hat ein Ende
Die Schweiz ist schnell: Erste BIP-Schätzungen veröffentlicht das Staatssekretariat für Wirtschaft neu bereits nach 45 Tagen. Im Bild: Die Schweizer Hürdenläuferin Ditaji Kambundji. (Bild: Keystone)
Gerade in Krisenzeiten sind schnell verfügbare Daten zur Messung der wirtschaftlichen Aktivität wichtig. Das zeigte sich in den vergangenen, konjunkturell äusserst bewegten Jahren. Das Bruttoinlandprodukt (BIP) ist aufgrund seiner internationalen Vergleichbarkeit und der harmonisierten methodischen Grundlagen der wichtigste Indikator, um die Wirtschaftsleistung eines Landes zu messen. Entsprechend fragen Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Öffentlichkeit nach zeitnahen und genauen Berechnungen.
International schätzt man schnell
Die reguläre Veröffentlichung der vierteljährlichen BIP-Daten erfolgt international rund 60 Tage nach Quartalsende. In den letzten Jahren haben jedoch Schnellschätzungen des BIP – sogenannte Flash‑BIP – als Frühindikatoren für die Wirtschaftsleistung stark an Bedeutung gewonnen. Das Statistische Amt der Europäischen Union (Eurostat) veröffentlicht bereits seit 2016 rund 30 Tage nach Quartalsende eine erste Schätzung für das vierteljährliche BIP der Europäischen Union (EU) und des Euroraums («Preliminary Flash Estimate»). Nach 45 Tagen folgt der etwas genauere «Flash Estimate».
Auch die meisten EU‑Mitgliedsstaaten haben in den letzten zehn Jahren damit begonnen, eine vierteljährliche BIP‑Schnellschätzung bereits nach 30 oder 45 Tagen zu publizieren.[1] Die USA veröffentlichen bereits seit 1969 eine erste BIP‑Quartalsschätzung nach 30 Tagen. Andere Länder, wie etwa das Vereinigte Königreich, gehen noch weiter: Sie veröffentlichen das BIP nicht nur vierteiljährlich, sondern gar monatlich. Erste Schätzungen dazu erscheinen dort jeweils 45 Tage nach Ende der Referenzperiode (siehe Abbildung 1).
Abb. 1: BIP-Schnellschätzungen nach 30 und 45 Tagen sind in Europa verbreitet
Auch die Schweiz kann Flash‑BIP
In der Schweiz werden die vierteljährlichen BIP-Daten für das abgelaufene Quartal regulär nach 60 Tagen veröffentlicht.[2] Im Rahmen einer Testphase führt das Ressort Konjunktur des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) seit einigen Jahren zusätzlich BIP-Schnellschätzungen nach 30 und 45 Tagen durch. Die Resultate wurden in einer umfassenden Machbarkeitsanalyse[3] im Hinblick auf eine künftig raschere Publikation untersucht. Dabei zeigte sich, dass insbesondere die BIP-Schnellschätzung nach 45 Tagen eine gute Genauigkeit aufweist.
Die Resultate der regulären BIP-Berechnung nach 60 Tagen können sich trotzdem von jenen der Schnellschätzung nach 45 Tagen unterscheiden. Diese Revisionen sind im Fall der Schweiz ähnlich hoch wie in gewichtigen anderen europäischen Wirtschaften und nur leicht höher als im gesamten Euroraum. In den vergangenen zwei Jahren war das reale BIP‑Wachstum gemäss der Schnellschätzung nach 45 Tagen in fünf von acht Quartalen gleich hoch wie jenes in der regulären Publikation nach zwei Monaten (siehe Abbildung 2). Das Vorzeichen der BIP-Entwicklung – also ob die Wirtschaft wächst oder schrumpft – wurde in allen Fällen korrekt angezeigt. Auch kann man nicht sagen, dass das Flash-BIP das BIP-Wachstum im Vergleich zur regulären Veröffentlichung nach 60 Tagen systematisch über- oder unterschätzt. Dennoch: Mit gewissen Anpassungen der Resultate von Schnellschätzungen muss gerechnet werden.
Zielkonflikt zwischen Genauigkeit und Schnelligkeit
Die Revisionen sind bei der Schnellschätzung nach 30 Tagen erheblich grösser als nach 45 Tagen (siehe Abbildung 2). Aber warum gibt es solche Abweichungen zwischen den Schnellschätzungen und der regulären Publikation des BIP nach 60 Tagen? Der Grund ist, dass bei Schnellschätzungen naturgemäss weniger Informationen vorliegen als für die später stattfindenden regulären BIP‑Berechnungen. Insbesondere ist es möglich, dass gewisse Grunddaten wie etwa Umsätze oder Preise noch nicht vollständig vorliegen. Um diese Informationslücken zu überbrücken, werden fehlende Datenpunkte anhand statistischer Modelle prognostiziert. In diese Berechnungen fliessen früh verfügbare Umfrageresultate oder hochfrequente Informationen ein, wie gewisse Finanzmarktdaten. In der Konsequenz entstehen «Schätzfehler».
Zwischen der Schnelligkeit der Veröffentlichung und der Genauigkeit der Resultate gilt es also abzuwägen. Technisch ist es immer möglich, Schätzungen früher zu erstellen. Es ist aber nicht in jedem Fall zielführend: Je früher Schnellschätzungen durchgeführt werden, desto stärker haben diese einen Prognosecharakter, da für die Berechnungen eine geringere Menge an gesicherten statistischen Informationen zur Verfügung steht. Damit können Schnellschätzungen gerade in konjunkturell herausfordernden Zeiten oder in Phasen starker Datenvolatilität sehr unsicher sein. Überwiegt der Nutzen einer frühen Publikation also? Oder ist das Risiko zu gross, dass diese ein zu ungenaues Signal bezüglich der BIP-Entwicklung aussendet?
BIP-Schnellschätzung ab Mai 2024
Die ausführliche Testphase der vergangenen Jahre hat gezeigt: Zumindest nach 45 Tagen ist die Publikation einer BIP-Schnellschätzung für die Schweiz in ausreichend guter Qualität möglich. Ab Mai 2024 veröffentlicht das Seco daher jedes Quartal eine solche Schnellschätzung. Ähnlich wie in anderen Ländern beschränkt sich die Publikation auf die Wachstumsrate des realen, saison-, kalender- und Sportevent-bereinigten BIP. Die übrigen Resultate der vierteljährlichen Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, namentlich die Wertschöpfungsentwicklung auf Branchenebene sowie die Verwendungs- und Einkommensseiten des BIP, werden unverändert erst nach rund 60 Tagen veröffentlicht.
Mit der zusätzlichen Veröffentlichung einer BIP-Schnellschätzung kommen wir unserem Auftrag als öffentliche Statistikproduzenten nach. Wir bieten den Datennutzenden möglichst vollständige, akkurate, aber auch frühzeitige Informationen zur BIP‑Entwicklung in der Schweiz. In der Einführungsphase wird die Schnellschätzung noch im Sinne einer «experimentellen Statistik» vertieft analysiert und gegebenenfalls weiterentwickelt. Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass in Zukunft die Publikation einer noch früheren Schnellschätzung des Schweizer BIP-Wachstums möglich wird. Wir arbeiten weiter daran.
Abb. 2: BIP-Wachstum: Wenige Revisionen des Flash-BIP nach 45 Tagen gegenüber regulärer Veröffentlichung
INTERAKTIVE GRAFIK
- 12 von 27 EU‑Mitgliedsstaaten veröffentlichen eine BIP‑Schnellschätzung nach 30 Tagen, 23 Staaten veröffentlichen eine solche nach 45 Tagen. []
- Publiziert werden die Produktions-, die Verwendungs- und die Einkommensseite des BIP, unbereinigte, saison- und kalenderbereinigt sowie zusätzlich Sportevent-bereinigt. Siehe Seco.admin.ch/bip. []
- Die Machbarkeitsstudie ist online verfügbar auf Seco.admin.ch. []
Zitiervorschlag: Kemeny, Felicitas; Wegmüller, Philipp (2024). BIP-Zahlen: Das lange Warten hat ein Ende. Die Volkswirtschaft, 10. Juni.
Konjunkturtendenzen Sommer 2024
Wirtschaftslage Schweiz – Im 1. Quartal 2024 setzte sich das moderate Wirtschaftswachstum der Vorquartale fort.
Konjunkturprognose – Die Expertengruppe erwartet für 2024 ein deutlich unterdurchschnittliches Wachstum des Sportevent-bereinigten BIP der Schweiz (1,2%; Prognose von Dezember: 1,1%). Im Zuge einer allmählichen Erholung der Weltwirtschaft sollte sich das Wachstum 2025 bei 1,7% normalisieren.
Weltwirtschaft – Das Wachstum der Weltwirtschaft hat sich im 1. Quartal 2024 etwas beschleunigt. Die Heterogenität zwischen den einzelnen Ländern war dabei hoch.