Regeln sind essenziell für eine funktionierende Marktwirtschaft. Das bringt Ordnung ins System. (Bild: Keystone)
Im Frühling 2009 kochte in deutschen Medien eine Auseinandersetzung um die Ausrichtung von Lehrstühlen in der Volkswirtschaftslehre auf. Die Ordnungspolitik wurde dabei vielfach als altertümlich abgetan. Ähnliches las man dann 2011 auch in angelsächsischen Medien im Zuge der Schuldenkrise im Euroraum, als die deutsche Politik auf eine ordnungspolitische Ausrichtung der Europäischen Währungsunion pochte. Ordnungspolitik sei oldschool, hiess es, und man müsse die regelgebundene Wirtschaftspolitik Europas beenden, um eine stärker expansive Fiskalpolitik betreiben zu können. Die aktuelle Diskussion um die Schweizer und die deutsche Schuldenbremse – eine die Finanzpolitik zügelnde Regel – verdeutlicht dies ebenfalls.
Abgesehen davon, dass ein völlig veralteter Ansatz wohl nicht diese Aufmerksamkeit in der politischen Debatte erhielte, stellt sich die Frage, was Ordnungspolitik überhaupt ist, welche Ursprünge sie hat und was sie heute bedeutet. Dies lässt sich einerseits für die Ökonomie als Wissenschaft betrachten, andererseits für die politische Diskussion.
Ordnungsökonomik ist liberal
Walter Eucken, Franz Böhm und der deutsche Wirtschaftsminister und Bundeskanzler Ludwig Erhard sind die Begründer dieser Denkschule. Die Ordnungstheorie beschreibt und erklärt, wie Regeln entstehen und wirken. Es geht somit darum, welche (Kombinationen von) Institutionen welche Wirkungen auf Individuen und deren Interaktion haben und welche Konsequenzen sich hieraus auf die sich bildende Wirtschaftsordnung ergeben. Ordnungspolitik gestaltet Spielregeln in der Wirtschaftspolitik, zielt also auf generell wünschenswerte Ergebnisse ab und nicht darauf, spezifische Ergebnisse für bestimmte Gruppen zu sichern.
Politische Fragen sind naturgemäss umstritten und selten unabhängig von den individuellen Wertvorstellungen derjenigen, die politische Vorschläge unterbreiten. Die eigentliche normative Grundlage, auf welche die Ordnungsökonomik abstellt, ist der normative Individualismus. Normativer Individualismus bedeutet, dass die ordnungsökonomische Analyse keine übergeordnete Wertvorstellung akzeptiert – keine religiös oder naturrechtlich motivierte und erst recht keine absolutistische oder ideologische Vorstellung einer Einheitspartei. Wertvorstellungen haben gemäss dem normativen Individualismus nur die Individuen selbst. Dies ist eine urliberale Vorstellung, schon konsequent in der Aufklärung begründet, und akzeptiert den Menschen als mündiges Individuum, so wie es ist. Insofern liegt die Bezeichnung Ordoliberalismus für die Ordnungsökonomik nahe.
Entstehung des Ordoliberalismus
Der Ordoliberalismus entstand, je nach gewählter Perspektive, zum Ende der 1920er- oder zum Beginn der 1930er-Jahre und ist wesentlich mit der Freiburger Schule verbunden. Im Jahr 1927 wechselte Walter Eucken von Tübingen auf eine Professur an der Universität Freiburg im Breisgau und gründete dort zusammen mit den Juristen Franz Böhm und Hans Grossmann-Doerth bald eine Forschungsgemeinschaft von Juristen und Ökonomen. Im Mittelpunkt ihres interdisziplinären Interesses stand die Frage der Macht: zunächst der Vermachtung der deutschen Wirtschaft durch Kartelle, Monopole und marktbeherrschende Stellungen, dann die Rolle politischer Macht.
Als Gründungsdokument wird vielfach ein Aufsatz Euckens mit dem Titel «Staatliche Strukturwandlungen und die Krisis des Kapitalismus» im Weltwirtschaftlichen Archiv von 1932 gesehen. Darin stellt Eucken auf die Bedeutung wirtschaftlicher Machtgruppen ab, die seit dem Kaiserreich in Deutschland einen immer stärkeren Einfluss auf die Politik gewonnen hatten. Dies mache das Preissystem als Regulationsmechanismus der Wirtschaft zunehmend funktionsunfähig, weil Monopolpreise Marktverzerrungen verursachten. Von diesem Einfluss der Interessengruppen müsse der Staat sich frei machen, er müsse über den Partikularinteressen stehen. In diesem Sinne sei ein starker Staat erforderlich.
Regelbasierte Wirtschaftspolitik ist wegweisend
Eucken richtete sein Forschungsprogramm darauf aus, einen Grundkanon für eine regelbasierte Wirtschaft zu erarbeiten, der die Grundlage für die soziale Marktwirtschaft bildete. Dieser Grundkanon besteht aus sieben konstituierenden und vier regulierenden Prinzipien. Im Zentrum steht ein funktionsfähiges Preissystem bei vollständiger Konkurrenz. Darin zeigt sich die Zielsetzung der Freiburger Schule, Marktmacht zu unterbinden. Dem folgt das Primat der Währungspolitik, bei dem Eucken Preisstabilität im Blick hatte. Drei weitere Prinzipien – offene Märkte, Privateigentum, Vertragsfreiheit – sind dem klassischen Liberalismus entlehnt, wobei die Wettbewerbspolitik in die Vertragsfreiheit eingreifen solle, um Marktmacht zu verhindern. Komplettiert wird dieser Teil des Kanons durch das Haftungsprinzip und die Konstanz der Wirtschaftspolitik. Das Haftungsprinzip soll sicherstellen, dass Entscheidungsträger, Nutzniesser und Kostenträger einer ökonomischen Entscheidung nicht auseinanderfallen; die Konstanz der Wirtschaftspolitik zielt auf stabile Rahmenbedingungen ab.
Hinzu kommen die regulierenden Prinzipien: Monopolkontrolle, Korrektur externer Effekte (Wirtschaftsrechnung), Einkommenspolitik (Umverteilung) und Vorkehrungen gegen anomales Angebotsverhalten, etwa wenn Arbeitnehmer ihr Arbeitsangebot bei sinkenden Löhnen ausweiten. Die regulierenden Prinzipien verdeutlichen jeweils Ansatzpunkte für wirtschaftspolitisches Handeln und somit die Abkehr des Ordoliberalismus vom klassischen (Laissez-faire-)Liberalismus des 19. Jahrhunderts. Zugleich wendet sich Eucken damit aber gegen planwirtschaftliche Vorstellungen. Staatliche Lenkung, indem der Staat ins Marktgeschehen eingreift, um bestimmte Ergebnisse zu erzielen, lehnte er ab.
Die Freiburger Schule war nicht die einzige, die regelbasierte Wirtschaftspolitik als wegweisend für die Wirtschaftsordnung betrachtete. In den USA ist in erster Linie die alte Chicago-Schule an der University of Chicago zu nennen. Vor allem Henry Simons entwickelte parallel zu Eucken ähnliche wettbewerbspolitische Vorstellungen und machte mit seinen Ideen zur regelbasierten Geldpolitik Furore. Bis heute zeigt sich somit in zwei Strängen ökonomischer Forschung eine enge Verwandtschaft mit dem Ordoliberalismus – einerseits die fortwährende Debatte um Rules versus Discretion in der Makroökonomik und andererseits die Constitutional Economics/Public Choice. Anwendungsbeispiele wie etwa die Architektur der Europäischen Währungsunion mit dem Ziel der Trennung von Geld- und Finanzpolitik sowie deren Ergänzung durch die europäischen Fiskalregeln, die Ausgestaltung von nationalen Fiskalregeln (Schuldenbremsen), die Wettbewerbspolitik, die Industriepolitik zeugen von der Aktualität des Ordoliberalismus.
Zitiervorschlag: Feld, Lars P. (2024). Die Freiburger Schule: Zwischen Laissez-faire und Diktatur. Die Volkswirtschaft, 11. Juni.