Leere während der Corona-Pandemie: In Extremsituationen braucht es den Staat, um die Wirtschaft anzukurbeln. (Bild: Keystone)
Gerät eine Volkswirtschaft ins Straucheln, steht die Politik vor der Herausforderung, einen möglichst schnellen und reibungslosen Weg aus der Krise zu finden. Doch wie soll das geschehen, und wie viel Staat braucht es dafür? Während die einen auf die Wirkung automatischer Stabilisatoren – wie Arbeitslosenversicherung, Schuldenbremse oder Einkommenssteuer – setzen, plädieren andere für aktive staatliche Eingriffe mittels diskretionärer Fiskalpolitik, sprich spezifischer Ausgaben, um die Wirtschaft anzukurbeln. Der vorliegende Artikel beschäftigt sich mit der Frage, warum, wie und in welchem Umfang der Staat in Krisenzeiten stabilisierend eingreifen soll.
Kernaufgabe des Staats
Die Stabilisierung der Wirtschaft ist eine Kernaufgabe des Staats. Im konjunkturellen Abschwung kommt es zu einer sinkenden Nachfrage, Arbeitslosigkeit und tieferen Einkommen. Der Staat kann durch geeignete Massnahmen versuchen, diesen Abwärtszyklus (umgekehrt auch den Aufwärtszyklus) abzuschwächen, und dadurch eine stabile wirtschaftliche Entwicklung fördern. Neben den kurzfristig positiven Effekten auf Beschäftigung und Löhne fördert eine stabile Wirtschaftsentwicklung auch das langfristige Wachstum und damit den Wohlstand der Gesellschaft. Dies, da Unternehmen – aber auch Privatpersonen – in einem Umfeld mit Planungssicherheit eher bereit sind, zu investieren und damit Innovationen voranzutreiben.
Eine instabile Wirtschaft kann hingegen zu sozialen Ungleichheiten und Spannungen führen, da bestimmte Bevölkerungsgruppen von wirtschaftlichen Krisen stärker betroffen sind als andere. Indem der Staat die Wirtschaft stabilisiert, trägt er daher zur Förderung der sozialen Gerechtigkeit und der wirtschaftlichen Effizienz bei.
Expansive Fiskalpolitik
Wie kann der Staat in Krisenzeiten stabilisierend eingreifen? Mittels expansiver Fiskalpolitik kann er die gesamtwirtschaftliche Nachfrage ankurbeln: entweder indem er die Staatsausgaben erhöht oder die Steuern senkt. Beides führt zu einem steigenden Budgetdefizit. Aus theoretischer Sicht lassen sich zwei Hauptargumente für eine Stabilisierung der Wirtschaft durch eine kurzfristige Erhöhung der Staatsverschuldung ableiten.[1]
Zum einen das neoklassische Argument, das auf der Prämisse basiert, dass die meisten Steuern und staatlichen Programme zu Verhaltensverzerrungen führen. In einer Rezession sind Steuererhöhungen oder Subventionskürzungen, die notwendig wären, um den Staatshaushalt auszugleichen, wahrscheinlich kontraproduktiv. Denn sie würden die ohnehin geschwächte Wirtschaft weiter belasten und die Rezession verschärfen. Zum anderen die keynesianische Sichtweise, die Rezessionen als Zeiten betrachtet, in denen die privaten Ersparnisse zu hoch und damit die privaten Ausgaben zu niedrig sind, als es gesellschaftlich wünschenswert wäre. Erhöht der Staat seine Ausgaben oder senkt er die Steuern, verringert er die öffentlichen Ersparnisse – und damit die Ersparnisse insgesamt – und bringt die Wirtschaft näher an das gewünschte Gleichgewicht: die Vollauslastung der wirtschaftlichen Produktionskapazitäten, bei der Beschäftigung, Einkommen und Steuereinnahmen über dem Krisenniveau liegen, das sich ohne staatliches Eingreifen eingestellt hätte.
Die Rolle automatischer Stabilisatoren
Es gibt eine Vielzahl von staatlichen Massnahmen, die sowohl auf der Ausgabenseite wie auch auf der Einnahmenseite als automatische Stabilisatoren ausgestaltet werden können. Das bedeutet, dass sie auf konjunkturelle Schwankungen reagieren, ohne dass spezifische politische Massnahmen entwickelt und umgesetzt werden müssen.
Auf der Einnahmenseite spielt das Steuersystem dabei eine zentrale Rolle. In konjunkturellen Abschwungphasen sinken Einkommen, Unternehmensgewinne und Umsätze und damit automatisch auch die Steuereinnahmen. Diese geringere Steuerbelastung kann dazu beitragen, das Arbeitsangebot, die Kaufkraft der Konsumierenden und die Investitionen der Unternehmen zu stabilisieren. Umgekehrt kann die höhere Steuerbelastung in Boomphasen die wirtschaftliche Aktivität dämpfen und dazu beitragen, die Wirtschaft vor einer Überhitzung zu schützen.
Auch auf der Ausgabenseite gibt es Massnahmen, die in diese Richtung wirken. Dazu zählt beispielsweise die Arbeitslosenversicherung, die im Falle von Arbeitslosigkeit finanzielle Unterstützung bietet. In Abschwungphasen mit steigender Arbeitslosigkeit steigt automatisch die Zahl der Anspruchsberechtigten. Durch das Arbeitslosengeld bleibt ihre Kaufkraft erhalten. Dies dämpft den Rückgang der verfügbaren Einkommen und stabilisiert so den Konsum und die Wirtschaft.
Automatische Stabilisatoren leisten einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung der Wirtschaft, ohne dass der Staat aktiv eingreifen muss. Ihre Beliebtheit beruht auf ihrer Effizienz, ihrer politischen Unabhängigkeit und ihrer Rolle bei der Förderung der sozialen Gerechtigkeit. Allerdings haben sie auch ihre Grenzen. So sind sie nicht in der Lage, auf alle Arten von wirtschaftlichen Schocks zu reagieren. Dazu zählen unter anderem plötzliche Veränderungen im internationalen Handelsumfeld, zum Beispiel Lieferengpässe – wie zuletzt während der Covid-19-Pandemie erlebt –, oder geopolitische Ereignisse wie Kriege oder Ölpreisschocks. In solchen Situationen können diskretionäre fiskalpolitische Massnahmen erforderlich sein, um die Wirtschaft zu stabilisieren.
Mittelfristig sorgt die Schuldenbremse für einen ausgeglichenen Bundeshaushalt
Quelle: Eidgenössisches Finanzdepartement / Die Volkswirtschaft
Die Schweizer Schuldenbremse
Ein weiterer automatischer Stabilisator ist die Schuldenbremse, die mittelfristig für einen ausgeglichenen (Bundes)haushalt sorgt: Die ordentlichen Ausgaben werden auf das Niveau der strukturellen, das heisst der konjunkturell bereinigten Einnahmen begrenzt (siehe Abbildung).[2]
Die Schuldenbremse spielt bei der Stabilisierung der Konjunktur eine ambivalente Rolle. Einerseits fördert sie die langfristige Finanzstabilität, was der diskretionären Fiskalpolitik Spielraum verschafft, indem sie die Bruttoverschuldung gering hält.[3] Andererseits beschränkt sie das Ausmass der fiskalpolitischen Reaktion in der Rezession, da die ordentlichen Ausgaben maximal dem Niveau der mittelfristigen Einnahmen entsprechen dürfen. Daher lässt die weitgehend starre Ausgestaltung der Schweizer Schuldenbremse die Stabilisierung der Wirtschaft in begrenztem Masse zu.[4] In Anbetracht der sehr niedrigen Verschuldung der Schweiz wird deshalb zunehmend die Frage aufgeworfen, ob die strenge Schuldenbremse gelockert werden sollte, um mehr Spielraum für staatliche Investitionen oder Steuersenkungen zu schaffen.[5] Allerdings bestehen bereits spezielle Investitionsfonds[6], und auch die Schuldenbremse erlaubt ausserordentliche Ausgaben in ausserordentlichen Situationen.
In schweren Wirtschaftskrisen kann es vorkommen, dass automatische Stabilisatoren nicht ausreichend sind, um die Wirtschaft zu stützen. In solchen Fällen ist es erforderlich, dass der Staat als Ultima Ratio zu einer diskretionären Fiskalpolitik greift und Ausgaben über die Grenzen der Schuldenbremse hinaus tätigt, um die Schweizer Wirtschaft zu stabilisieren und vor einem Einbruch zu bewahren. Während der Finanzkrise im Jahr 2008 war der Bund gezwungen, die UBS vorübergehend zu stützen. Und während der Covid-19-Pandemie hat er Garantien in Höhe von circa 100 Milliarden Franken[7] und tatsächliche ausserordentliche Ausgaben von rund 30 Milliarden Franken getätigt.
Das optimale Niveau an staatlicher Intervention
Wie viel staatliche Intervention ist in Krisenzeiten angemessen? Dies bleibt eine stete Herausforderung für die Politik, die unter Unsicherheit agiert. Im Nachhinein lässt sich immer einfacher beurteilen, ob ein Konjunkturprogramm zu zurückhaltend oder zu expansiv war. Die Wirtschaftsgeschichte zeigt, dass staatliche Interventionen in unterschiedlichem Masse erfolgreich waren. Dabei kann der fiskalische Stimulus entweder zu gering, genau richtig oder zu hoch gewesen sein.
Es wird zweifellos schwierig sein, in der nächsten Krise zum richtigen Zeitpunkt und im richtigen Ausmass zu reagieren. Die Schweiz kann sich glücklich schätzen, auch nach der Bewältigung der Covid-19-Pandemie in einer komfortablen Lage zu sein: Sie verfügt über eine sehr geringe Staatsverschuldung, was ihr den nötigen Handlungsspielraum verschafft, um auf künftige wirtschaftliche Herausforderungen rasch, flexibel und gegebenenfalls umfassend reagieren zu können. Es ist von entscheidender Bedeutung, diese Resilienz und Flexibilität zu bewahren, um die Stabilität und das Wachstum der Schweizer Wirtschaft langfristig zu sichern und gleichzeitig den Anliegen der sozialen Gerechtigkeit Rechnung zu tragen.
- Siehe Brunnermeier und Reis (2023). []
- Das Sozialversicherungssystem ist nicht enthalten. []
- Siehe die Diskussion in Baselgia und Martínez (2023). []
- Siehe Kemeny und Wegmüller (2023). []
- Siehe Brülhart (2023). []
- Die Verkehrsausgaben werden bereits heute zu einem grossen Teil aus zweckgebundenen Steuermitteln finanziert, insbesondere aus dem Bahninfrastrukturfonds (BIF) und dem Nationalstrassen- und Agglomerationsverkehrsfonds (NAF). Die beiden Verkehrsfonds finanzieren den Betrieb, den Unterhalt und den Ausbau der Verkehrsinfrastrukturen. []
- Siehe Schaltegger (2021). []
Literaturverzeichnis
- Baselgia, E., und I. Z. Martínez (2023). Wealth-Income Ratios in Free Market Capitalism: Switzerland, 1900–2020. The Review of Economics and Statistics.
- Blanchard, O. (2023). Fiscal Policy Under Low Interest Rates. MIT Press.
- Brülhart, M. (2023). Ist die Schweizer Schuldenpolitik zu streng? Die Volkswirtschaft. 13. November.
- Brunnermeier, M. K., und R. Reis (2023). A Crash Course on Crises: Macroeconomic Concepts for Runups, Collapses, and Recoveries. Princeton University Press.
- Kemeny, F. und P. Wegmüller (2023). Wie die Schuldenbremse die Konjunktur berücksichtigt. Die Volkswirtschaft. 14. November.
- Schaltegger, C. (2021). Stärkste Stützung der Wirtschaft seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Volkswirtschaft. 25. Mai.
Bibliographie
- Baselgia, E., und I. Z. Martínez (2023). Wealth-Income Ratios in Free Market Capitalism: Switzerland, 1900–2020. The Review of Economics and Statistics.
- Blanchard, O. (2023). Fiscal Policy Under Low Interest Rates. MIT Press.
- Brülhart, M. (2023). Ist die Schweizer Schuldenpolitik zu streng? Die Volkswirtschaft. 13. November.
- Brunnermeier, M. K., und R. Reis (2023). A Crash Course on Crises: Macroeconomic Concepts for Runups, Collapses, and Recoveries. Princeton University Press.
- Kemeny, F. und P. Wegmüller (2023). Wie die Schuldenbremse die Konjunktur berücksichtigt. Die Volkswirtschaft. 14. November.
- Schaltegger, C. (2021). Stärkste Stützung der Wirtschaft seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Volkswirtschaft. 25. Mai.
Enea Baselgia, Jan-Egbert Sturm (2024). Staatseingriffe: Ja und nein. Die Volkswirtschaft, 10. Juni.
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