Arbeitslosigkeit: Je nach Statistik unterschiedlich hoch

Nur auf den ersten Blick gleich: Wie bei Zwillingen gibt es auch bei den beiden Arbeitslosenstatistiken Unterschiede. (Bild: Keystone)
Die Arbeitslosenzahlen und -quoten sind neben den Zahlen zur Beschäftigungsentwicklung die wohl wichtigste Grösse, um die Arbeitsmarktlage zu beurteilen. Gemäss Definition der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) wird eine Person dann als arbeitslos oder erwerbslos gezählt, wenn sie in einem bestimmten Zeitpunkt (1) keiner bezahlten Erwerbstätigkeit nachgeht, (2) aktiv nach einer Erwerbsarbeit sucht und (3) unmittelbar für einen Stellenantritt zur Verfügung steht.
Sowohl das Bundesamt für Statistik (BFS) mit der Erwerbslosenstatistik als auch das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) mit der Arbeitslosenstatistik richten sich nach diesen drei Kriterien. Dennoch liegt die Erwerbslosenquote des BFS deutlich höher: Im ersten Quartal 2024 betrug sie 4,3 Prozent. Die Arbeitslosenquote des Seco im gleichen Quartal lag bei 2,4 Prozent.
Der Hauptunterschied der beiden Statistiken liegt darin, dass sich die monatlichen Zahlen des Seco auf die bei einem Regionalen Arbeitsvermittlungszentrum (RAV) gemeldeten Stellensuchenden beschränken. Die Zahlen des BFS werden hingegen mit einer Stichprobenbefragung im Rahmen der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung (Sake) ermittelt, auf die Bevölkerung hochgerechnet und quartalsweise publiziert. Im Jahr 2023 zählte das Seco im Durchschnitt 93’500 registrierte Arbeitslose. Beim BFS waren es mit 204’000 Erwerbslosen mehr als doppelt so viele.
Vor- und Nachteile der Statistiken
Die Zahlen der Arbeitslosen und der Erwerbslosen zeigen seit 2010 auf unterschiedlichen Niveaus einen ähnlichen Verlauf (siehe Abbildung 1). Die Zahl des Seco ist dabei jeweils bereits am Monatsanfang für den Vormonat verfügbar. Zudem entwickelt sie sich regelmässiger, womit sie auch feine Veränderungen im Arbeitsmarkt anzeigt. Die rasche Verfügbarkeit und ihre Genauigkeit machen sie für die Konjunkturbeobachtung besonders wertvoll. Ein weiterer grosser Vorteil der Seco-Statistik ist, dass sie auch für sehr kleine Untergruppen und Regionen zuverlässige Informationen zur Arbeitsmarktlage liefert.
Demgegenüber gibt die Erwerbslosenzahl des BFS ein umfassenderes Bild der Erwerbslosigkeit. Wichtig ist dies vor allem auch für internationale Vergleiche, da entsprechende Zahlen im Ausland ebenfalls im Rahmen von Arbeitskräfteerhebungen ermittelt werden. Ein weiterer Vorteil der Erwerbslosenstatistik liegt darin, dass sie im Gegensatz zu den Seco-Zahlen nicht beeinflusst wird, wenn sich die Regeln zum Bezug von Arbeitslosengeldern verändern.[1]
Aber auch die Erwerbslosenzahlen haben Nachteile: Auch nach einer Saisonbereinigung weisen sie von Quartal zu Quartal grössere Sprünge auf, was vor allem damit zu tun hat, dass es sich um eine Stichprobe handelt, deren Hochrechnung mit statistischer Unsicherheit behaftet ist. Dies erschwert einerseits die Bestimmung des aktuellen konjunkturellen Verlaufs und begrenzt andererseits die Möglichkeiten, statistisch verlässliche Aussagen für Untergruppen zu machen.
Abb. 1: Arbeitslosigkeit und Erwerbslosigkeit entwickeln sich ähnlich
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Nicht alle beim RAV sind arbeitslos
Mit der Statistik des Seco können Auswertungen für alle bei den RAV angemeldeten Personen gemacht werden. 2023 waren jeweils Ende Monat durchschnittlich 160’100 Stellensuchende registriert. Allerdings: 66’600 von ihnen galten nicht als arbeitslos (siehe Abbildung 2).
Von diesen nicht Arbeitslosen befanden sich 45 Prozent in einem sogenannten Zwischenverdienst. Das heisst, sie waren erwerbstätig, erhielten aber auch einen Lohnzuschuss durch die Arbeitslosenversicherung, weil der erzielte Lohn geringer als die Arbeitslosenentschädigung ausfiel. Weitere 12 Prozent befanden sich in einer arbeitsmarktlichen Massnahme, etwa einer Weiterbildung oder einem Programm zur vorübergehenden Beschäftigung. Und rund 31 Prozent waren noch erwerbstätig – in der Regel jedoch war ihnen bereits gekündigt worden. Schliesslich waren weitere 12 Prozent etwa aufgrund einer Krankheit oder eines Unfalls zum Stichtag nicht vermittlungsfähig. Sie alle werden nicht zu den Arbeitslosen gezählt. Der Grund: Da sie entweder nicht unmittelbar verfügbar sind oder einer bezahlten Erwerbstätigkeit nachgehen, erfüllen sie nicht alle drei Kriterien der ILO.
Abb. 2: Untergruppen von Stellensuchenden und Erwerbslosen gemäss ILO (2023)
Quellen: BFS, Sake / Seco, Arbeitsmarktstatistik und Auswertung / Die Volkswirtschaft
Wer sind die nicht registrierten Erwerbslosen?
Der Grund, weshalb die Erwerbslosenquote des BFS deutlich höher ist als die Arbeitslosenquote des Seco, sind die nicht registrierten Erwerbslosen. Denn im Rahmen der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung, auf welcher die Erwerbslosenquote des BFS basiert, werden auch Erwerbslose gezählt, die nicht auf einem RAV gemeldet sind und deshalb nicht in die Arbeitslosenquote einfliessen: Von den 204’000 Erwerbslosen gemäss ILO waren im Jahr 2023 61 Prozent nicht bei einem RAV angemeldet. Rund ein Drittel von diesen befand sich unmittelbar vor der Erwerbslosigkeit in Ausbildung, und gut ein Viertel war nicht erwerbstätig. Die hohen Anteile dieser beiden Gruppen deuten darauf hin, dass sich insbesondere Personen ohne Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung oft nicht bei einem RAV anmelden. Erwerbslos gemäss ILO sind sie trotzdem. Grundsätzlich ist eine Anmeldung bei einem RAV auch für diese Personen möglich, sie ist aber freiwillig.
Eine wiederkehrende Frage ist, in welcher Arbeitsmarktsituation sich Personen befinden, die ihren Anspruch auf Leistungen der Arbeitslosenversicherung ausgeschöpft haben und ausgesteuert worden sind. Durch eine Verknüpfung der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung des BFS mit Arbeitsmarktdaten des Seco lässt sich diese Frage für den Zeitraum 2010–2022 wie folgt beantworten. Gut die Hälfte der Ausgesteuerten ging noch im ersten Jahr nach einer Aussteuerung wieder einer Erwerbstätigkeit nach. Fünf Jahre nach der Aussteuerung stieg dieser Anteil auf 64 Prozent (siehe Abbildung 3). Gleichzeitig verringerte sich der Anteil der Erwerbslosen, die weiterhin eine Stelle suchen, auf 14 Prozent. Und der Anteil der Nichterwerbstätigen, die nicht mehr auf Stellensuche sind, erhöhte sich auf 22 Prozent.[3]
Abb. 3: Knapp zwei Drittel der Ausgesteuerten sind nach fünf Jahren wieder erwerbstätig (Durchschnitt 2010-2022)
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Die Statistiken von Seco und BFS ergänzen sich
Das Phänomen der Arbeitslosigkeit kann mit der Erwerbslosenstatistik des BFS und der Arbeitsmarktstatistik des Seco gut analysiert werden. Während die Zahlen des Seco für die Konjunkturbeobachtung und für detaillierte Analysen nach Kantonen, Berufen oder kleineren Bevölkerungsgruppen unerlässlich sind, ist für internationale Vergleiche die BFS-Statistik zu verwenden. Oft sollten für eine umfassende Analyse jedoch beide Statistiken herangezogen werden. Durch Verknüpfung der beiden Datenquellen kann zudem auch die Situation von Personen analysiert werden, die früher bei einem RAV eingeschrieben waren und sich etwa nach einer Aussteuerung abgemeldet haben.
- Im Verlauf der 1990er-Jahre wurde bspw. die Leistungsbezugsdauer in der Arbeitslosenversicherung in mehreren Schritten verlängert. 2011 wurde sie für einen Teil der Leistungsbezüger etwas verkürzt. []
- Siehe Thomas Oesch (2020). Genauer erfasste Arbeitslosigkeit dank Automatisierung. Die Volkswirtschaft, 25. Februar. []
- Diese Auswertungen beruhen auf Zahlen der Statistik «Soziale Sicherheit und Arbeitsmarkt (Sesam)» des BFS. []
Zitiervorschlag: Weber, Bernhard (2024). Arbeitslosigkeit: Je nach Statistik unterschiedlich hoch. Die Volkswirtschaft, 08. Juli.