Aufgepasst mit Chemikalien am Arbeitsplatz!
Bei der Arbeit mit Chemikalien soll man sich schützen. Ein Bauer beim Austragen von Fungiziden auf einem Feld. (Bild: Keystone)
Die Schweiz importiert jährlich 5 Millionen Tonnen Chemikalien im Wert von 15 Milliarden Franken.[1] Diese Menge hat in den letzten 30 Jahren stark zugenommen (siehe Abbildung 1). Mit den steigenden Importmengen steigt auch die Zahl der Arbeitnehmenden, die mit Chemikalien in Kontakt kommen. Deshalb ist es wichtig, dass der Gesundheitsschutz in den Betrieben korrekt umgesetzt wird.
Das Schweizer Chemikalienrecht erfordert einen Registrierungsprozess für neue Stoffe, Pflanzenschutzmittel und Biozidprodukte[2]. Im Rahmen dieses Prozesses beurteilt das Ressort Chemikalien und Arbeit des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco), ob die Produkte bei der dafür vorgesehenen Tätigkeit die Gesundheit der Arbeitnehmenden beeinträchtigen können. Um dieses Risiko zu reduzieren, legt das Seco Schutzmassnahmen fest, die in erster Linie im Sicherheitsdatenblatt, auf der Etikette oder auf der Gebrauchsanweisung der Chemikalie als Information für die Verwenderin erscheinen sollen. Das kann eine technische Schutzmassnahme sein wie etwa eine Lüftungspflicht, eine organisatorische Massnahme wie ein Zugangsverbot für Nicht-Fachpersonal oder aber eine personenbezogene Massnahme wie das Tragen von Handschuhen beim Umgang mit der Chemikalie.
Ein Beispiel ist ein Pflanzenschutzmittel mit Glyphosat als Wirkstoff. Diese Chemikalie selbst ist gemäss Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV)[3] zwar gefährlich für den Menschen. Gemäss Seco ist aber bei geringem Kontakt – etwa bei geschlossener Traktorenkabine – das Risiko für den Landwirt gering, durch das Ausbringen einen gesundheitlichen Schaden zu erleiden.
Der Registrierungsprozess des Chemikalienrechts erfasst jedoch nur knapp 5 Prozent aller in der Schweiz in Verkehr gebrachten Chemikalien. Rund 250’000 Industriechemikalien gelangen ohne Registrierungsprozess – im Rahmen der Selbstkontrolle durch die Unternehmen – auf den Markt.
Abb. 1: Schweizer Import und Export von chemischen Produkten (1991–2023)
INTERAKTIVE GRAFIK
Sorgfältiger Umgang mit Chemikalien am Arbeitsplatz
In der Schweiz ist jede Arbeitgeberin gesetzlich verpflichtet, die Gesundheit ihrer Arbeitnehmenden selbst zu schützen. Kontrollen der kantonalen Arbeitsinspektorate zeigen jedoch seit Längerem Mängel beim Umgang mit Chemikalien in Betrieben.
Auch eine Umfrage des Seco im Jahr 2019 bei allen rund 80 Trägerschaften von Branchenlösungen[4] hat gezeigt, dass das Thema Gesundheitsschutz beim Umgang mit Chemikalien bisher vernachlässigt wurde. Zwei Drittel der befragten Trägerschaften gaben an, dass in den angeschlossenen Betrieben Beschäftigte mit gesundheitsgefährdenden Chemikalien umgehen. Ein Drittel der Befragten gab an, in ihren Betrieben CMR-Stoffe, die krebserzeugend, erbgutverändernd oder fortpflanzungsgefährdend sind, vorzufinden. Fünf der Trägerschaften gaben zudem an, dass ihre Betriebe mit besonders besorgniserregenden Stoffen (SVHC) umgehen. Nur sehr wenige Trägerschaften boten spezifische Module in ihren Branchenlösungen für den Gesundheitsschutz beim Umgang mit diesen gefährlichen Chemikalien an.
Eine Umfrage der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (Suva) aus dem Jahr 2021 mit Schwerpunkt auf CMR-Stoffen bestätigt das Resultat. Die Studie hat ergeben, dass 90 Prozent der von ihr kontrollierten Betriebe mit CMR-Stoffen arbeiten. Von den Betriebsverantwortlichen gaben zwei Drittel an, nicht über den Umgang mit CMR-Stoffen informiert zu sein. Von den betroffenen Arbeitnehmenden wussten ebenfalls drei von vier nicht, dass sie mit CMR-Stoffen arbeiten.[5]
Gesundheitsschutz im Fokus des Vollzugs
Das Seco hat gemäss Arbeitsrecht die Oberaufsicht über die kantonalen Arbeitsinspektorate und kann bei Bedarf zusammen mit den kantonalen Behörden Vollzugsschwerpunkte setzen. 2019 hat es deshalb einen Vollzugsschwerpunkt zum Thema «Gesundheitsschutz und Chemikalien am Arbeitsplatz» lanciert. Daraus entstanden sind eine Publikationsreihe zum sorgfältigen Umgang mit Chemikalien am Arbeitsplatz (siehe Abbildung 2) und das IT-Tool Sichem. Die kantonalen Arbeitsinspektorinnen und -inspektoren wurden geschult, mithilfe dieser Materialien die geltenden Vorschriften durchzusetzen und die Betriebe zu beraten.
Der Vollzugsschwerpunkt wird Ende 2024 beendet. Doch schon heute zeigt er Wirkung: Die Inspektoren fragen bei ihren Kontrollen gezielter nach dem Umgang mit Chemikalien. Auch die Zahl der Sichem-Anwender nimmt stetig zu. Verschiedene Institutionen wie etwa Trägerschaften von Branchenlösungen oder lokale Organisationen für Umweltschutz, Gesundheit und Arbeitssicherheit informieren ihre Mitglieder und Kunden über Sichem und die Publikationsreihe.
Abb. 2: Publikationen zum sorgfältigen Umgang mit Chemikalien im Betrieb
Falscher Umgang mit Chemikalien verursacht Kosten
Die Gesundheitskosten in der Schweiz sind in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen. Der Anteil der Gesundheitskosten, der auf den unsachgemässen Umgang mit Chemikalien am Arbeitsplatz zurückzuführen ist, kann jedoch nur geschätzt werden. Experten schätzen anhand internationaler Daten, dass in der Schweiz jährlich etwa 1000 bis 2000 Personen frühzeitig sterben, weil sie am Arbeitsplatz mit Chemikalien in Kontakt gekommen sind.[6]
Der Kontakt mit gefährlichen Chemikalien am Arbeitsplatz führt nicht nur zu direkten Gesundheitsrisiken, sondern auch zu indirekten Kosten für die Versicherungs- und Gesundheitssysteme. Eine entsprechende Studie zu den volkswirtschaftlichen Kosten läuft zurzeit (siehe Kasten). Ein sorgfältiger Umgang könnte diese Kosten verringern. Dies würde nicht nur die Gesundheit der Arbeitnehmenden schützen, sondern auch die finanzielle Belastung reduzieren für das einzelne Unternehmen und für das Gesundheitssystem.
Wie weiter?
Sowohl das Seco als auch die kantonalen Arbeitsinspektorate konzentrieren sich in Zukunft vermehrt auf den Gesundheitsschutz beim Umgang mit Chemikalien. Das Seco unterstützt die Arbeitsinspektorate, die Arbeitgebenden und die Arbeitnehmenden mit Schulungen, Publikationen und dem IT-Tool Sichem. Mit dem Ziel, die Datenerhebung zu gesundheitlichen Auswirkungen von Chemikalien am Arbeitsplatz zu verbessern, begleitet das Seco Projekte wie die Schweizerische Gesundheitsstudie. Gleichzeitig sucht das Seco aber auch nach weiteren Möglichkeiten, bereits vorhandene Gesundheitsdaten zu nutzen.
Zudem soll der gemeinsame Vollzug von Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz durch die kantonalen Arbeitsinspektorate, die Suva und das Seco intensiviert werden. Eine solche Zusammenarbeit aller Arbeitsaufsichtsbehörden hat auch die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) auf ihrer 110. Tagung 2022 als Auftrag an alle Mitgliedsländer im Hinblick auf ein sicheres und gesundes Arbeitsumfeld als Grundprinzip bestätigt.
Nachdem alle relevanten Daten zu Veröffentlichungen, Inspektionen und Vorschriften zusammengetragen worden sind, können wir nun mit der Umsetzung beginnen. In den Betrieben ist es an der Zeit, das Schutzniveau beim Umgang mit Chemikalien zu erhöhen. Eine wirksame Präventionskultur ist der Schlüssel dazu. Eine berufs- oder betriebsinterne Ausbildung oder der Beizug von Branchenlösungen helfen, eine solche Kultur zu integrieren und negative gesundheitliche Auswirkungen von Chemikalien am Arbeitsplatz künftig zu vermeiden.
- Siehe Chematwork.ch > Hilfsmittel > Übersicht Chemikalienmarkt Schweiz. []
- Wirkstoffe, die Lebewesen abtöten oder zumindest in ihrer Lebensfunktion einschränken: z. B. Desinfektionsmittel, Holzschutzmittel, Fungizide, Insektizide etc. []
- Die toxikologische Beurteilung von Pflanzenschutzmitteln macht das BLV. Diejenige von Bioziden macht das Bundesamt für Gesundheit. Das Seco macht darauf basierend eine Exposition und eine Risikobeurteilung. []
- Die kommerziell organisierten Träger der Branchenlösungen stellen interessierten Unternehmen ein branchenspezifisches Sicherheitssystem (Handbuch) und Checklisten zur Verfügung. Zudem bieten sie Schulungen und andere Dienstleistungen an. []
- Siehe Suva Benefit 3/2023, S. 12. []
- Die Zahl wird von verschiedenen Quellen gestützt, insbesondere ILO, GBT, Lancet. []
Literaturverzeichnis
- ILO (2003). World Statistic 2003, Occupational Accidents and work-related Diseases.
- Murray, Christopher J. L. et al. (2016). Global, Regional, and National Comparative Risk Assessment of 79 Behavioural, Environmental and Occupational, and Metabolic Risks or Clusters of Risks, 1990–2015: A Systematic Analysis for the Global Burden of Disease Study 2015, in: Lancet 2016; 388: 1659–724.
- Weltgesundheitsorganisation (2016). Ambient Air Pollution: A Global Assessment of Exposure and Burden of Disease.
Bibliographie
- ILO (2003). World Statistic 2003, Occupational Accidents and work-related Diseases.
- Murray, Christopher J. L. et al. (2016). Global, Regional, and National Comparative Risk Assessment of 79 Behavioural, Environmental and Occupational, and Metabolic Risks or Clusters of Risks, 1990–2015: A Systematic Analysis for the Global Burden of Disease Study 2015, in: Lancet 2016; 388: 1659–724.
- Weltgesundheitsorganisation (2016). Ambient Air Pollution: A Global Assessment of Exposure and Burden of Disease.
Zitiervorschlag: Schmid, Kaspar; Sidler Pfändler, Marguerite-Anne (2024). Aufgepasst mit Chemikalien am Arbeitsplatz! Die Volkswirtschaft, 31. Juli.
Das Seco hat 2024 in Zusammenarbeit mit der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) eine Studie zu den volkswirtschaftlichen Auswirkungen von arbeitsbedingten Gesundheitsschäden lanciert. Ein Teil der Studie fokussiert auf die Schätzung der Gesundheitskosten, die durch den unsachgemässen Umgang mit Chemikalien am Arbeitsplatz entstehen. Diese Kostenschätzung soll es politischen Entscheidungsträgern ermöglichen, gesamtwirtschaftliche Konsequenzen von Regulierungen in ihre Überlegungen einzubeziehen. Insbesondere soll sie eine solide Grundlage für die Berechnung des sozioökonomischen Nutzens der Chemikalienregulierung für die Gesellschaft schaffen. Erste Studienresultate werden für 2025 und 2026 erwartet.