Karl-Rudolf Korte, Direktor der NRW School of Governance und Professor am Institut für Politikwissenschaft der Universität Duisburg-Essen
Die zurückliegenden Europawahlen haben die Muster des Wählens in Deutschland bestätigt: mittig und moderat. Regierungsparteien werden bei Europawahlen systematisch abgestraft. Kleine und Kleinstparteien triumphieren, da es keine Sperrklausel gibt, die sie von einem Mandatsgewinn strukturell ausschliesst. Protest und Provokation können sich experimentell austoben, weil es nicht um die eigene Bundesregierung geht, sondern um das Europäische Parlament. Mehr rechts, weniger grün – so lauten die Schlagzeilen zum Ergebnis, die in Teilen rechtsextreme Partei Alternative für Deutschland (AfD) gehört mit 15,9 Prozent zu den Wahlsiegern.
Der Parteienwettbewerb hat sich insofern sichtbar verändert, als er nochmals zugespitzt die Teilung des Landes dokumentiert: Im Osten war in allen Bundesländern die AfD stärkste Partei, im Westen fast überall die Schwesterparteien Christlich Demokratische Union und Christlich-Soziale Union (CDU/CSU). Das Land ist im Diskurs nach rechts gerutscht, aber ohne Erdrutschsieg der AfD. Sie scheint offenbar ihren Zenit an Popularität überschritten zu haben. Gleichzeitig etabliert sie sich als neue Volkspartei, die in allen Milieus und Schichten Wählende dazugewinnt. Aber: Rund 84 Prozent der Deutschen haben nicht die AfD gewählt. Die politische Mitte bleibt stabil.
Neu im Parteienwettbewerb ist das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW). Mit 6,2 Prozent erzielt diese Partei einen aussergewöhnlichen Erfolg, obwohl sie sich erst in der Gründungsphase befindet. Sie punktet auf dem Wählermarkt mit Antiampel, antikapitalistisch, Antimigration und mit Russland-Nähe im Hinblick auf eine Friedenspolitik. Das war vor allem in Ostdeutschland wirkungsvoll.
Wohin eine Gesellschaft driftet, entscheidet sich meist nicht an den politischen Rändern, sondern in Deutschland weitgehend in der Mitte.
Diese Ergebnisse verlangen nach weiteren Einordnungen. Denn offenbar hat sich ein Teil der Wählerschaft längerfristig von den traditionellen Parteien abgewandt. Was steckt dahinter? Wohin eine Gesellschaft driftet, entscheidet sich meist nicht an den politischen Rändern, sondern in Deutschland weitgehend in der Mitte und darin, welche Tonalität diese Mitte setzt. Die Mitte trägt deshalb grosse Verantwortung darin, eine «robuste Zivilität» [1] zu erhalten, zumal wenn sie so vielfältig aufgestellt ist wie in Deutschland. Wer zu viel auf die Ränder schaut, kann auch die Mitte aus den Augen und dem Sorgehorizont verlieren.
Der Wählermarkt ist extrem dynamisch und veränderbar.[2] Wählerische Wählende lassen Prognosen nur in begrenztem Ausmass als sinnvoll erscheinen. Die Protestkultur der Strasse hat zudem im Frühjahr 2024 gezeigt, was sich eruptiv entwickeln kann. Der millionenfache Bürgerprotest für das Grundgesetz und gegen die AfD war ein Signalereignis. Solidarisch und befreiend, ermutigend und veränderungsfähig zugleich, so zeigte sich in vielen grossen und kleinen Städten quer über das Land verteilt eine wache Zivilgesellschaft, die sich plötzlich für ihre Werte engagierte. Ob sich dies in Wahlstimmen gegen die AfD ausreichend überträgt, ist für die kommenden Landtagswahlen nicht absehbar. Aber es zeigt, dass viele Bürgerinnen erkennen, dass in einer Demokratie nichts einfach passiert, sondern jeder mitgestalten kann. Grundsätzlich lässt sich das Wahlverhalten bei der Europawahl nicht einfach auf das Wahlverhalten bei Landtagswahlen übertragen.
Unabhängig von der Kritik an den Leistungen der Berliner Ampel hat sich das Verhältnis zwischen Regierenden und Regierten in den letzten Jahren verkompliziert. Staatsverächtlich sind Bürger unterwegs, und Hass ist hungrig. Die zunehmende Komplexität im Kommunikationsalltag der digital vernetzten vielen korrespondiert mit Gesprächsstörungen zwischen Bürgern und der Politik. Diese Gesprächsstörung hat eine doppelte Wucht, denn dahinter verbirgt sich eine Politik- und Medienverdrossenheit. Publikums- und Medienempörung müssen nicht im Gleichklang verlaufen. Bürgerinnen fühlen sich nicht ausreichend von den Repräsentanten der Politik vertreten. Zugleich finden sie ihre Themen auch nicht im öffentlich-rechtlichen Rahmen und in den überregionalen Zeitungen ausreichend gewürdigt. Wir haben es nicht nur mit unterschiedlichen Generationen verschiedener Öffentlichkeiten zu tun, sondern auch mit unterschiedlicher Dosis an Öffentlichkeit. Fehlende Responsivität verstärkt im doppelten Sinne Gegenöffentlichkeiten, sowohl in der Politik mit ihrem ausdifferenzierten Protestrepertoire als auch in den sozialen Eigenmedien. So kommen zwiespältige Befunde über Befindlichkeiten der Bürger auf den politischen Märkten zustande: Wir sind privat zufrieden und öffentlich oft unzufrieden.
Grundsätzlich lässt sich das Wahlverhalten bei der Europawahl nicht einfach auf das Wahlverhalten bei Landtagswahlen übertragen.
Das Vertrauen in die Demokratie kann durch Anerkennung und Schutz von Differenz befriedigt werden; Voraussetzung dafür ist eine dauerhafte Resonanzbeziehung und somit eine Bindung zwischen Regierten und Regierenden. Ohne Bindungen kann sich keine Kommunikation entfalten, die auf Resonanz basiert. Aber auf wen verlassen sich die Bürger in der Politik? Zu wem bauen sie Vertrauen auf?
Die überzeugten Rechtsextremen sind für Mitteparteien schwer zurückzugewinnen. Aber die orientierungssuchenden Unzufriedenen, die sich auch bei der AfD sammeln, kann die Mitte durchaus mobilisieren. Sie muss sich selber fragen, wie sie integrationsfähiger wird und wie empathiefähiger. Es liegt nahe, deshalb nochmals den Blick auf die Gesprächsstörungen zu legen. Die Dynamik der AfD ist schwer einzuschätzen. Aber viele Wählende finden sich auch dort, weil dort offenbar alles ausgesprochen wird, was sie selbst bedrückt, und zwar so, dass sie es verstehen. Diese Erfolgsformel von Populisten muss man nicht imitieren, aber strukturell verstehen. Wer keine Resonanz zu den Wählenden aufbaut, kann weder auf Vertrauen noch auf Mobilisierbarkeit hoffen.
Das Superwahljahr ist längst nicht entschieden. Das Investieren in die Zuversicht der Mitte gehört zur zentralen Demokratiearbeit im Jahr 2024. Das bedeutet mehr, als Wählende für sich zu mobilisieren. Alle sollten sich gesprächsbereit zeigen, um Räume der Überschneidung zu kreieren. Die Demokratie ist in Bewegung. Und es liegt an uns, in welche Richtung sie geht.
Zitiervorschlag: Korte, Karl-Rudolf (2024). Nach den Europawahlen. Die Volkswirtschaft, 16. Juli.