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Neuorientierung in der Mitte der Erwerbsbiografie fördert langes Arbeiten

Wann man in Pension geht, entscheidet sich oft bereits in der Mitte des Berufswegs. Eine «Citizen-Science-Studie» hat Bedingungen analysiert, die Fachkräfte länger in beruflichen Aktivitäten halten, und zeigt Handlungsmöglichkeiten.
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Die Beweggründe, mit über 70 Jahren verbindlich zu arbeiten, sind bunt und unterschiedlich. Eine Teilnehmerin der Umfrage kreiert auch mit 83 Jahren noch showreife Hüte. (Bild: Keystone)

Frau H. absolviert eine Berufslehre, wird Mutter und Hausfrau und arbeitet nach der Scheidung erneut in ihrem erlernten Beruf als Modistin. Sie eröffnet ein eigenes Atelier, bildet Nachwuchs aus und kreiert auch mit 83 Jahren noch showreife Hüte. Sie ist überzeugt: Dank ihrer Arbeit fühlt sie sich trotz schwerer chronischer Krankheit eigentlich gesund.

Der promovierte Volkswirt S. forscht zunächst an der Universität, wechselt danach in den Journalismus und riskiert schliesslich den Quereinstieg in einen exponierten Job der öffentlichen Verwaltung. Zusätzliches Profil gewinnt er im Vorstand einer Wohnbaugenossenschaft, als deren Präsident er sich nach der Pensionierung kompetent und effektiv viele Jahre für eine umfassende Erneuerung der Bausubstanz ins Zeug legt.

Von gelungenen Beispielen lernen

Die zwei Steckbriefe von Befragten im Forschungsprojekt «Neuesalter» zeigen Erwerbsbiografien von Personen, die auch Jahre nach der Pensionierungsschwelle noch beruflich tätig sind. Bei der qualitativen Studie handelt es sich um ein «Citizen-Science-Forschungsprojekt» der ETH und der Universität Zürich (siehe Kasten). Das Projekt wurde von der Autorin und dem Autor entwickelt und vom Netzwerk Spurenwechseln getragen. Über die Eigenleistungen aller Beteiligten hinaus (Projektleitung und Forschende haben unentgeltlich gearbeitet; auch bei der Verbreitung der Ergebnisse) beliefen sich die Projektkosten auf rund 200’000 Franken.[1] Ein Drittel davon trugen gemeinnützige Stiftungen, den Rest private Sponsoren.

Untersucht wurden 52 höchst diverse Lebenswege von ausserfamiliär tätigen Menschen über 70 Jahren in der Deutschschweiz. Die Hälfte der befragten Personen war weiblich, die andere männlich. Entsprechend dem Erkenntnisziel, gewisse Muster für lange und engagierte Biografien und die erforderlichen Voraussetzungen zu entdecken, wurde nicht ein repräsentativer Querschnitt durch die Bevölkerung, sondern nur Menschen mit anhaltender Aktivität befragt.[2]

Gefragte, nützliche und zufriedene Arbeitskräfte

Die Verlängerung der Lebensspanne vermittelt den Menschen neue Wahl- und Entwicklungschancen. Arbeit – bezahlte und ehrenamtliche – ist eine davon. Gesellschaft und Wirtschaft beklagen heute und erst recht morgen einen grossen Mangel an einsatzbereiten Personen. Will man das Potenzial der Älteren nutzen, ist es wichtig, zu wissen, an welche Voraussetzungen berufliches oder ehrenamtliches Engagement bis in die achte Lebensdekade hinein gebunden ist. Es liessen sich in der grossen Vielfalt der untersuchten Lebenswege relevante Muster identifizieren. Solche Rahmenbedingungen gezielt zu verbessern und zu stärken, kann Arbeitgeber und Fachkräfte interessieren.

Wer mit 70 noch engagiert und verbindlich arbeitet, übt seine Tätigkeit offensichtlich gern aus. Meist erlebt er oder sie eine hohe Selbstwirksamkeit und findet Resonanz bei anderen Menschen oder im Bewältigen technischer Probleme. Als Aufgabenlöser spüren solche Personen ihre eigene Kompetenz und Bedeutung, sie finden Sinn, verfügen über Gestaltungsspielräume und eine Alltagsstruktur.

Diese Merkmale guter Arbeit sind seit den 1980er-Jahren erforscht.[3] Im Zuge der Digitalisierung traten sie allerdings in den Hintergrund und wurden häufig als Privileg von Selbstständigerwerbenden angesehen. Will die Arbeitswelt die Erwerbstätigen aber länger bei der Stange halten, muss sie ihnen genau das bieten. Sie muss ihnen ermöglichen, ihre Kompetenzen spezifisch einzusetzen, Resultate zu sehen und Feedback zu erhalten. Das funktioniert, wenn in den Betrieben Aufgabenportfolios öfter kompetenzgerecht individualisiert und horizontale Umstiegsmöglichkeiten eröffnet werden.

Selbstvertrauen fördert langes Engagement

In der untersuchten Personengruppe fällt durchgehend ein tatkräftiges Selbstbild auf – auch bei Personen mit geringer Schulbildung und bei sozial Schwächeren. Dieses Selbstvertrauen basiert auf der Erfahrung, den Anforderungen gewachsen zu sein und das Vertrauen Dritter zu geniessen. Erfolgserlebnisse befeuern Motivation und Initiative. Anders als die von uns analysierte Gruppe geraten Angestellte in Unternehmen häufig ab Mitte 50 in einen Sinkflug: Sie werden Opfer defizitärer Altersstereotype, das heisst, sie verlieren an Status und werden selten in Zukunftsvorhaben mit einbezogen. Die Folge: Das Unternehmen investiert nicht mehr in ihre Weiterbildung, sie bleiben in Routine stecken und werden marginalisiert.

Doch diese Abwärtsbewegung lässt sich vermeiden: durch dynamische Impulse in der zweiten Hälfte des Berufswegs. Sie eröffnen neue Handlungsfelder und wecken Motivation. Wem der Schneid abgeknöpft wurde, dem gelingt nur selten ein Neustart nach 65 – weder in einen erfüllten Ruhestand noch in eine alternative Betätigung.

Die Studie belegt auch: Wer engagiert tätig sein will, ist auf einen Markt (zum Beispiel für Kunst) oder einen organisatorisch-institutionellen Rahmen angewiesen. Mit Letzterem sind eine Anstellung, ein Auftrag, eine Mitgliedschaft oder ein Projekt gemeint. Denn hat man keinen Zugang zu den Produktionsmitteln oder ist nicht in einen arbeitsteiligen Prozess eingebettet, zum Beispiel im Familienbetrieb, nützen auch Kompetenzen und Motivation nichts. Deshalb braucht es Arbeitsverträge mit Entwicklungsperspektiven auch über das 70. Lebensjahr hinaus – nicht stotternde Verlängerungsmöglichkeiten um ein Jahr, was einem gefühlten Status «auf Abruf» entspricht. Optimalerweise wird die Möglichkeit für längere erfüllende Laufbahnen von der Arbeitgeberin schon angesprochen und eingefädelt, wenn der Arbeitnehmende in seinen Fünfzigern ist. Das öffnet den Zukunftshorizont.

Das soziale Umfeld entscheidet mit

Langes Tätigsein gelingt fast nur im Einverständnis oder mindestens mit einer neutralen Haltung der Personen im nahen sozialen Umfeld. Dementsprechend muss der persönliche Lebensentwurf sowohl mit dem Partner als auch im Freundeskreis und bei der Arbeit früh und immer wieder thematisiert und abgeglichen werden. Neben dem herkömmlichen Denkmuster von Ruhestand gilt es mit 65 verschiedene alternative Lebensentwürfe mit neuen Kombinationen von Arbeit, Weiterbildung, Auszeiten und Sorgearbeit zu entwickeln.

Unsere Studie zeigt, dass verbindliches Engagement über 65 hinaus stark von konstruktiven und wertschätzenden sozialen Beziehungen im Tätigkeitsfeld abhängt. Denn kompetente Führung und kollegiale Kultur wirken über den aktuellen Alltag hinaus und bilden zentrale Voraussetzungen für lohnenden Einsatz.

Entgegen der verbreiteten Meinung ist der Gesundheitszustand für Längertätige nebensächlich. Viele Befragte im Forschungsprojekt leiden an ernsten Krankheiten, erfahren ihre Arbeit aber eher als stärkende Ressource. Denn die Tätigkeit kann die gesundheitliche Einschränkung relativieren, wie etwa bei der eingangs erwähnten Modistin Frau H.

Neuorientierung in der Mitte

Neuorientierungen aufgrund beruflicher und persönlicher Krisen nach 20 bis 25 Jahren Erwerbsarbeit kommen in der erforschten Personengruppe fast durchwegs vor. Sie erweisen sich für die heute über 70-Jährigen als produktive Impulse auf dem Lebensweg. Die Familienfrau wird Unternehmerin, der Journalist ein politisch wacher Finanzverwalter – wie eingangs skizziert.

Dieser erneute Richtungsentscheid in der beruflichen «Mitte» basiert auf fundierterer Selbstkenntnis und klareren Vorstellungen von der Arbeitswelt. Eine späte Neuorientierung passt präziser zum Kompetenzprofil und den gereiften persönlichen Präferenzen als die Erstausbildung; zudem sind bei einer späten Zweitausbildung auch weniger Kompromisse aufgrund familiärer Verpflichtungen nötig.

Müssen nun alle Erwerbstätigen in ihrer beruflichen Mitte ins Development-Center? Die Studienresultate legen dies tatsächlich nahe. Angesichts des demografischen und technologischen Wandels drängen sich verpflichtende Aufforderungen für Standortbestimmungen, Neuorientierungen und Zusatzqualifizierungen für alle ohnehin auf.

Frauen könnten profitieren

Würden in der Altersphase zwischen 35 und 54 Jahren (je nach Branche und Lebenssituation) die Karten in der Arbeitswelt generell neu gemischt, käme die Gesellschaft auch einem Chancenausgleich zwischen den Geschlechtern und Spätstartenden im Berufsleben, etwa Zugewanderten, näher. Besonders den Müttern würden sich am Ende ihrer – häufig von Teilzeiterwerb geprägten – Familienphase viel breitere Möglichkeiten zum Durchstarten in spannende Aufgaben und Funktionen öffnen.

Unternehmen, die an den Kompetenzen und Potenzialen erfahrener Menschen interessiert sind, sollten sich durch die Erkenntnisse unserer Studie zu neuen Konzepten anregen lassen. Sie können beispielsweise in der zweiten Berufsweghälfte eine ähnliche Entwicklungsdynamik fördern wie in der ersten, Aufgaben vermehrt an den persönlichen Stärken der Mitarbeitenden ausrichten sowie Funktionen für «Very Experienced People» (VEP) kreieren.

Zudem sollten sie den internen Arbeitsmarkt speziell für Mitarbeitende jenseits des Karrierehöhepunkts öffnen, Profil- und Tätigkeitswechsel fördern oder den Jobtausch auf Zeit organisieren – allenfalls sogar in Kooperation mit Zulieferern und Partnerfirmen. Zielführend wären zudem grössere Freiräume vor der grossen Ruhe mit 65, also Teilzeitarbeit, Sabbaticals, Zeitinseln für Weiterbildung und Abenteuer. Schliesslich wäre das Potenzial besser sichtbar, wenn die Arbeitgebenden beim Rekrutieren stets das aktuelle Leistungsprofil – und nicht nur formale Bildungsnachweise – erfassen sowie Altersangaben ignorieren würden.

  1. Diese deckten die Kosten für Websitearchitektur, -design und -management, Seminar-, Workshop- und Meetingkosten, Medientraining und -coaching, Assistentinnensalär, Produktion einer Toolbox für die Ergebnisumsetzung sowie Spesen. []
  2. Veröffentlichung im Internet: www.neuesalter.ch[]
  3. Siehe Eberhard Ulich (1991). Arbeitspsychologie, Zürich. []

Zitiervorschlag: Gächter, Thomas; Michel-Alder, Elisabeth (2024). Neuorientierung in der Mitte der Erwerbsbiografie fördert langes Arbeiten. Die Volkswirtschaft, 24. Juli.

Was ist Citizen-Science?

Citizen-Science oder Bürgerinnenwissenschaft ist ein Konzept aus dem angelsächsischen Raum, das seit bald 20 Jahren auch in der Schweizer Hochschullandschaft heimisch ist. Projekte mit dem Anspruch, gesellschaftlich oder ökologisch relevante Fragen zu bearbeiten, werden in Zürich von einem gemeinsamen Kompetenzzentrum von ETH und Universität unterstützt. Die Forschungsarbeit wird grossmehrheitlich von thematisch interessierten Personen geleistet, die nicht an Hochschulen angestellt sind, forschend lernen und sich im Rahmen konkreter Vorhaben weiterbilden. Zur Absicherung des wissenschaftlichen Anspruchs muss mindestens ein Mitglied der Projektleitung professionell an ETH, Universität oder Fachhochschule tätig sein.