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Schulische Inklusion: Ja oder nein?

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Bildungsforscherin Beatrix Eugster: «Wir sind uns einig: Eine gute Bildung ist wichtig». (Bild: Keystone)
Frau Eugster, wie kommt es, dass Sie sich als Ökonomin mit schulischer Inklusion beschäftigen – also der Absicht, allen Schülerinnen und Schülern eine gleichberechtigte Teilnahme in der Schule zu ermöglichen?

Sozialwissenschaftliche Fragen interessieren mich, insbesondere im Bereich der Bildungs-, der Arbeits- und der Gesundheitsökonomie. Die schulische Inklusion befindet sich genau an der Schnittstelle dieser drei Bereiche.

Weshalb ist Inklusion zu einem der wichtigsten Themen in der Bildungspolitik geworden?

Bildung betrifft jeden und jede. Wir alle haben früher die Schulbank gedrückt, und viele haben heute Kinder im Schulalter. Zudem profitieren wir in vielerlei Hinsicht davon, wenn die Bevölkerung als gut ausgebildete Fachkräfte in den Arbeitsmarkt kommt. Wir sind uns also einig: Eine gute Bildung ist wichtig.

Allerdings gehen die Meinungen darüber, wie eine gute Bildung aussehen sollte, sehr stark auseinander.

Richtig. Seit dem sogenannten Salamanca Statement der Unesco im Jahr 1994 bemühen sich viele Staaten um die Einführung eines inklusiveren Schulsystems. Diese Reformen haben zu vielen Reaktionen seitens der Eltern und der Lehrer geführt, welche auch immer wieder von der Presse aufgenommen werden.

 

Die Schweiz ist kein Musterknabe, was schulische Inklusion angeht.

 

Wie ist die Situation in der Schweiz?

Die Schweiz ist kein Musterknabe, was schulische Inklusion angeht. Kinder mit stärkeren Beeinträchtigungen wie etwa geistigen oder körperlichen Behinderungen werden immer noch häufig separiert unterrichtet. Innerhalb der regulären Klassen hat rund ein Viertel aller Schülerinnen und Schüler sogenannte Special Needs – also besondere Bildungsbedürfnisse. Davon haben 18 Prozent eine Lernschwäche, und rund 6 Prozent weisen Verhaltensauffälligkeiten auf. Auch leichte Einschränkungen wie logopädische Probleme oder Lernschwierigkeiten werden hier mitgezählt.

Sie haben untersucht, ob es negative externe Effekte gibt, wenn der Unterricht von Schülern mit besonderen Bedürfnissen in regulären Klassenzimmern stattfindet. Zu welchem Schluss kommen Sie?

Ja, wir haben dies im Kanton St. Gallen in Oberstufenklassen untersucht. Unsere Resultate zeigen, dass es tatsächlich negative Peer-Effekte gibt. Allerdings: Diese treten erst ein, wenn mehr als 15 bis 20 Prozent der Kinder mit Special Needs in einer Klasse sind. Und: Am stärksten negativ betroffen sind diejenigen Kinder, welche selbst am unteren Ende des Leistungsspektrums sind. Die Leistungsträger in den Klassen sind davon kaum negativ betroffen.

Sie haben gesagt, in regulären Klassen habe rund ein Viertel der Schüler Special Needs, also deutlich mehr als der Schwellenwert von 15 bis 20 Prozent. Was empfehlen Sie der Politik?

Kinder sollten auf keinen Fall segregiert werden. Denn dies würde zu Klassen führen, wo hauptsächlich Kinder mit Special Needs und schwachen Schulleistungen unter sich sind. Genau das Szenario also, welches zu starken negativen Peer-Effekten führt.

Erhöht schulische Inklusion auch die Arbeitsmarktchancen?

Erste Ergebnisse zeigen, dass schulische Inklusion dazu führt, dass mehr Betroffene einen Platz im ersten – also regulären – Arbeitsmarkt finden. Aber es braucht noch mehr empirische Evidenz, um diese Frage abschliessend zu beantworten.

Interview: «Die Volkswirtschaft»

Zitiervorschlag: Nachgefragt bei Beatrix Eugster, Universität St. Gallen (2024). Schulische Inklusion: Ja oder nein? Die Volkswirtschaft, 09. Juli.

Interviewpartnerin

Beatrix Eugster ist Professorin für Volkswirtschaftslehre an der Universität St. Gallen