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Wachstumskräfte in Deutschland schwinden

Deutschlands Wirtschaft ist angeschlagen. Das betrifft die Konjunktur und auch das langfristige Wachstum. Grund dafür ist das sinkende Arbeitsvolumen infolge der Demografie.
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Das Arbeitsvolumen in Deutschland wird in den nächsten Jahren abnehmen. Nur unerwartete Migrationswellen könnten diesen Effekt mildern. (Bild: Keystone)

Deutschlands Wirtschaft schwächelt. Untersuchen Konjunkturforscher den kränkelnden Mann Europas, unterscheiden sie zwischen zwei Komponenten: erstens strukturelle Probleme, die das Wachstum betreffen, also die Zunahme der gesamtwirtschaftlichen Produktionsmöglichkeiten bei normal ausgelasteten Kapazitäten. Die um zyklische Einflüsse bereinigte Entwicklung der Produktionsmöglichkeiten nennt man auch Potenzialpfad. Zweitens eine temporäre, konjunkturelle Schwäche – die schwankende Kapazitätsauslastung um diesen Potenzialpfad herum.

Schaut man sich die zweite Komponente an, war der Gegenwind in Deutschland zuletzt stark: Die Inflation führte dazu, dass die Kaufkraft und damit der private Konsum zurückgingen. Der deutliche Rückgang um die Jahreswende 2022/23 wurde bislang nicht wettgemacht. Die weltweit schwächelnde Industrieproduktion drosselte die Warenexporte, die erst zum Auftakt dieses Jahres nach fünf rückläufigen Quartalen wieder zulegen konnten, und die Zinswende zog nach zuvor stark gestiegenen Baupreisen die Bauaktivität runter. Eine hohe Politikunsicherheit nährte den Investitionsattentismus – Unternehmen halten sich mit Investitionen zurück. Hinzu kam eine aussergewöhnlich hohe Zahl an Krankheitstagen, welche die gewöhnliche Arbeitsleistung um bis zu 1,5 Prozent schmälerte. Insgesamt blieb die deutsche Wirtschaft damit unter ihren Möglichkeiten.

Die meisten dieser Belastungsfaktoren dürften sich nun aber nach und nach auflösen. Die deutlich anziehende Massenkaufkraft wird demnächst die konsumnahen Wirtschaftsbereiche stützen, eine weiter anziehende Weltkonjunktur stützt die Exporte, und die zu erwartenden Zinssenkungen dürften nach und nach auch die Bauwirtschaft beleben – wenn auch erst im kommenden Jahr. Umso bedeutender wird in der mittleren Frist, dass die andere Komponente, die Produktionsmöglichkeiten selbst, tatsächlich zum Hemmschuh der wirtschaftlichen Entwicklung wird.

Abb. 1: Das Produktionspotenzial Deutschlands geht zurück (2000–2028)

INTERAKTIVE GRAFIK
Quelle: Boysen-Hogrefe et al. (2024) / Die Volkswirtschaft

Abnehmendes Arbeitsvolumen

Der Trend des deutschen Produktionspotenzials, das sich an der Entwicklung der Produktionsfaktoren Arbeit, Kapital und Produktivität bemisst, ist weiterhin aufwärtsgerichtet. Er flacht sich jedoch infolge struktureller Probleme deutlich ab (siehe Abbildung 1). Lag das Wachstum im langjährigen Durchschnitt seit der Wiedervereinigung Deutschlands bis vor wenigen Jahren noch bei 1,3 Prozent, dürfte es sich im laufenden Jahr auf nur noch rund 0,5 Prozent belaufen.

Das ist noch nicht das Ende der Fahnenstange: Mittelfristig schrumpft die Rate weiter. Für das Jahr 2028 rechnen wir mit nur noch 0,3 Prozent. Das tiefere Wachstum ist vor allem dem Faktor Arbeit geschuldet. Ab dem Jahr 2025 dürfte das verfügbare Arbeitsvolumen abnehmen und für sich genommen die Wirtschaftsleistung dämpfen (siehe Abbildung 2).

Im letzten Jahrzehnt wurde das potenzielle Arbeitsvolumen durch zwei Komponenten gestützt: zum einen durch die zunehmende Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter. Zum anderen durch den steigenden Trend der Partizipationsquote, der auf eine gestiegene Erwerbsbeteiligung von älteren Arbeitnehmern und Frauen zurückzuführen ist. Zwischen den Jahren 1996 und 2023 legte sie um rund 7 Prozentpunkte auf rund 75 Prozent zu. Die Erwerbsbevölkerung stieg hauptsächlich aufgrund von Migration, vor allem durch die Flüchtlingskrise 2015 sowie die Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge im Jahr 2022. Darüber hinaus liess eine sinkende strukturelle Erwerbslosenquote das Arbeitsvolumen steigen, was vor allem durch die Arbeitsmarktreformen der Agenda 2010 («Hartz-Reformen») sowie die gemässigten Lohnabschlüsse  seitens der Tarifparteien bewirkt wurde.

Abb. 2: Das Arbeitsvolumen in Deutschland geht künftig zurück (2000–2028)

INTERAKTIVE GRAFIK
Quelle: Boysen-Hogrefe et al. (2024) / Die Volkswirtschaft

Sinkende Erwerbsbevölkerung

Mittelfristig dürfte die erwerbsfähige Bevölkerung allerdings alterungsbedingt sinken, selbst wenn, wie von uns angenommen, die Nettozuwanderung ohne Flüchtlinge mit rund 230’000 Personen pro Jahr positiv bleibt. Alle Komponenten des Arbeitsvolumens tragen dazu bei: Die Partizipationsquote hat im Jahr 2021 bereits ihren Zenit überschritten und ist seitdem im Zuge des demografischen Wandels rückläufig. Zwar nehmen die Partizipationsquoten über alle Altersgruppen hinweg zu, jedoch steigt das Gewicht derjenigen mit niedriger Erwerbsbeteiligung. Die Arbeitszeit je Erwerbstätigen sinkt seit dem Jahr 1996 im Trend und dürfte im Prognosezeitraum bis 2028 weiter zurückgehen, wenngleich mit abnehmendem Tempo.

Für den stetigen Rückgang der Arbeitszeit je Erwerbstätigen sind ein Anstieg der Teilzeitquoten der Erwerbstätigen und ein sinkender Anteil der Selbstständigen verantwortlich. Die strukturelle Erwerbslosenquote ist seit dem Jahr 2003 von rund 8 Prozent auf rund 3 Prozent stetig gesunken – hier ist das Potenzial nahezu ausgeschöpft.

Das Arbeitsvolumen gerät damit im Projektionszeitraum insgesamt unter Druck. Dieser demografische Effekt könnte durch unerwartet grosse Migrationswellen – wie bereits 2015 und 2022 – und die damit verbundene grössere Erwerbsbevölkerung erneut gemildert werden. Dies dürfte allerdings den demografisch bedingten negativen Wachstumsbeitrag nur schmälern und nicht neutralisieren, da sich dieser mit der Zeit beschleunigt. Zudem kann Fluchtmigration die Erwerbsbevölkerung nicht qualitätsäquivalent ersetzen.[1]

Kapital bringt Wachstum, Dekarbonisierung kostet

Der Faktor Kapital liefert im Gegensatz zur Arbeit weiterhin positive Beiträge zum Wachstum. Allerdings könnten die ökonometrischen Schätzverfahren für das Produktionspotenzial diesen Effekt überschätzen, weil die Dekarbonisierung nicht durchgängig modelliert wurde. Zwar erfordert die energetische Transformation massive Investitionen, diese führen aber nicht in gewohntem Masse zu zusätzlichen Produktionskapazitäten. Denn bei der energetischen Transformation geht es vor allem darum, bestehende Produktionskapazitäten umzubauen, und nicht darum, neue aufzubauen.[2] Prognostisch bewegt man sich hier auf sehr unsicherem Gelände, denn die Ergebnisse reagieren hochsensibel auf die jeweiligen Annahmen.[3] Klar aber ist: Dekarbonisierung kostet Wachstum.

Die totale Faktorproduktivität, die gemein als technischer Fortschritt interpretiert wird, trägt wie in den vergangenen Jahren positiv zum Wachstum bei. Der Wachstumsbeitrag steigt nach Einbussen in den Krisenjahren 2019 bis 2023 stetig bis zum Ende des Projektionszeitraums, bleibt jedoch unter seinem langjährigen Mittel. Es ist also aktuell wohl auch kein Wachstumsschub über die Produktivität zu erwarten.

Im Vergleich zur Projektion im Herbst 2019 – also vor Pandemie und Energiekrise – wurde der Wachstumsbeitrag der Produktivität ausschliesslich abwärts und am stärksten von allen drei Wachstumsfaktoren revidiert. Die Dauerkrisen scheinen also einen Schaden am Niveau des Produktionspotenzials hinterlassen zu haben. Die Potenzialschätzung erkennt diese Schäden erst dadurch, dass sie sich in einer über längere Zeit schwachen ökonomischen Leistung zeigen, und weist sie über eine geringere Produktivität aus. Im Wesentlichen aus diesem Grund veranschlagen wir im Vergleich zur Herbstprojektion 2019 das Produktionspotenzial nunmehr um rund 90 Milliarden Euro niedriger.

Alles in allem sind die Wachstumsperspektiven für die deutsche Wirtschaft in der mittleren Frist sehr dünn. Dadurch verschärfen sich Verteilungskonflikte, denn weniger ökonomisch Aktive müssen künftig für mehr Ruheständler aufkommen, was die sozialen Sicherungssysteme unter Druck setzt. Hinzu kommen die Kosten der Dekarbonisierung. Im Ergebnis bleibt von der Wirtschaftsleistung zukünftig weniger für private und öffentliche Konsumzwecke übrig. Umso wichtiger werden angebotspolitische Massnahmen, die die Standortqualitäten stärken, wie zum Beispiel Deregulierung, Entbürokratisierung, Infrastrukturausbau, Verbesserung der Bildungssysteme und mehr Leistungsanreize im Steuertransfersystem. Dies würde die Produktivität der heimischen Produktionsfaktoren erhöhen und das Land zugleich attraktiver machen für qualifizierte Zuwanderung.

  1. Siehe Boysen-Hogrefe et al. (2024). []
  2. Siehe Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose (2023a). []
  3. Siehe Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose (2023b). []

Literaturverzeichnis

Bibliographie

Zitiervorschlag: Hoffmann, Timo; Kooths, Stefan (2024). Wachstumskräfte in Deutschland schwinden. Die Volkswirtschaft, 15. Juli.