Michael Flügger, Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in der Schweiz und in Liechtenstein, Bern
Das Bild der deutsch-schweizerischen Nachbarschaft wird meist von beachtlichen Wirtschaftszahlen, prominenten Politikertreffen, grenzüberschreitenden Verkehrsverbindungen oder sportlich-kulturellem Wettbewerb – vom Eurovision Song Contest bis zur Fussball-Europameisterschaft – gezeichnet.
Das stärkste Band, das uns zusammenhält, bleiben aber unsere Bürgerinnen und Bürger. Einerlei ob Ski- oder Strandurlauber, Spitzenforscherinnen oder Handelsreisende: Verständnis für und Engagement im jeweiligen Nachbarland entstehen aus eigenem Erleben und Erfahrungen auf beiden Seiten des Rheins.
In jeder offiziellen Delegation aus Berlin und in jeder Besuchergruppe aus den Bundesländern, die ich in der deutschen Botschaft begrüsse, reisen persönliche Erfahrungen und frühere Eindrücke aus der Schweiz mit. Auch umgekehrt treffe ich in den Kantonen und in Bundesbern unzählige Gesprächspartner, die sich in deutschen Belangen aus eigener Erfahrung bestens auskennen. Das hilft der bilateralen Verständigung ungemein, weit über unsere gemeinsame Sprache hinaus.
Mobilität und Migration prägen unsere bilateralen Beziehungen. Nirgendwo ist dies augenfälliger als in der weltweit grössten Passstelle für Auslandsdeutsche – an der deutschen Botschaft in Bern. Rund 326’000 deutsche Staatsangehörige leben als zweitgrösste ausländische Bevölkerungsgruppe – nach den italienischen Staatsangehörigen – dauerhaft in der Schweiz. Viele von ihnen erwerben mit der Zeit auch die Schweizer Nationalität. Seit Jahren ist die Eidgenossenschaft vor Österreich und Spanien das weitaus beliebteste Auswandererziel der Deutschen. Umgekehrt ist Deutschland für rund 100’000 Schweizer zur Wahlheimat geworden.
Ob für immer oder nicht – die beruflichen, freundschaftlichen oder gar familiären Bande über unsere Grenze wachsen. Das gilt auch für mich und meine frühen Studienjahre am Genfersee, meine Heirat in eine Schweizer Familie mit regelmässigen Besuchen im Wallis und in Genf und zuletzt die diplomatische Berufung an die Aare.
Der zwischenmenschliche Austausch zwischen unseren beiden Ländern ist mehr als eine statistische Zählgrösse.
Die deutsch-schweizerische Mobilität leistet beachtliche Beiträge zu Wohlstand und Innovation. Im Jahr 2023 waren 66’000 deutsche Grenzgänger in Schweizer Unternehmen und Einrichtungen tätig. Die grosse Zahl der Zuwandernden und Grenzgängerinnen aus Deutschland macht inzwischen, dank der Freizügigkeit mit der Europäischen Union (EU) und der Schengen-Assoziierung, mehr als 5 Prozent der Erwerbstätigen in der Schweiz aus. Zudem erbrachten im Jahr 2023 rund 39’000 Personen aus Deutschland grenzüberschreitende Bau-, Industrie- und Informatikdienstleistungen, dies sind 46 Prozent aller entsandten Arbeitnehmenden in der Schweiz.
Mit rund 3,6 Millionen Logiernächten pro Jahr sind die Deutschen mit einem Anteil von 9,4 Prozent mit Abstand die grösste Touristengruppe in der Schweiz. Umgekehrt stellen die Schweizer mit 7,1 Prozent seit Langem die zweitstärkste Besuchergruppe in Deutschland. Die Schweizer Hochschulen zählen als grösste Ausländergruppe rund 12’000 deutsche Studierende. Rund 9600 Wissenschaftler und fast 1300 Professorinnen aus Deutschland tragen dort zu exzellenter Lehre und Forschung bei. Umgekehrt sind es rund 1100 Wissenschaftler und 330 Professorinnen aus der Schweiz in Deutschland. Das macht sich auch bei der Forschungszusammenarbeit bemerkbar: Im letzten EU-Forschungsprogramm Horizon 2020 entfielen 42 Prozent aller bilateralen Forschungsprojekte der Schweiz auf deutsche Partner. Nach Erhebungen der Denkfabrik Avenir Suisse tragen deutsche Staatsangehörige auch erheblich zum Innovationsplatz Schweiz bei, mit einem Anteil von 11 Prozent der Start-up-Gründer, 17 Prozent der hiesigen Neupatente und 19 Prozent aller forschungsbezogenen Professuren.
Aber der zwischenmenschliche Austausch zwischen unseren beiden Ländern ist viel mehr als eine statistische Zählgrösse oder eine Kategorie der Wirtschafts- und Migrationsberichte. Er ist die eigentliche Essenz unserer politischen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, kulturellen und grenzregionalen Zusammenarbeit auf allen Ebenen.
Dafür braucht es weiterhin stabile Rahmenbedingungen. Dies gilt vor allem für das Freizügigkeitsabkommen der Schweiz mit der EU und ihre Assoziierung am Schengen- und am europäischen Forschungsraum. Deutschland hat ein grosses Interesse daran, dass die neuerlichen Verhandlungen zwischen Bern und Brüssel auch unsere bilaterale Mobilität zukunftsfest machen. Sei es beim Studenten- und Forschungsaustausch im Erasmus- und im Horizon-Programm, bei der angemessenen Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit oder bei Urlaubs- und Geschäftsreisen ohne Grenzkontrollen. Es geht darum, den Menschen in unseren beiden Ländern neue Perspektiven und Potenziale zu bieten, statt hinter alte Barrieren zurückzufallen.
Nehmen wir dabei besonders die Schülerinnen, Studierenden und jungen Berufstätigen in den Blick. Sorgen wir dafür, dass sie im jeweils anderen Land so viele eigene Erfahrungen wie möglich sammeln können. Zum Beispiel mit dualen Berufsabschlüssen, mit Interrail-Reisen vom Matterhorn bis zu den Rügener Kreidefelsen, mit unserem Verständnis von Europa oder mit Pophits auf Mundart. Es sind solche sehr persönlichen Eindrücke, auf welche die nächste Generation der deutsch-schweizerischen Beziehungen aufbauen wird.
Zitiervorschlag: Flügger, Michael (2024). Was uns verbindet – deutsch-schweizerische Mobilität und Migration. Die Volkswirtschaft, 16. Juli.