«Guter Journalismus basiert auf solidem Handwerk»
SZ-Chefredaktorin Judith Wittwer im Innovationshub Kraftwerk in Zürich: «Nimmt man Digital und Print zusammen, hatte die SZ noch nie so viele Abonnentinnen und Abonnenten wie jetzt.» (Bild: Keystone / Gaëtan Bally)
Ich bin privat und beruflich immer wieder in der Schweiz. Hier habe ich meine Wurzeln und treffe Familie und Freunde. Hier ist auch unser Kooperationspartner, der Zürcher «Tages-Anzeiger», zu Hause.
Die Bande sind nach wie vor sehr stark, in manchen Bereichen sind sie zuletzt sogar noch stärker geworden. So haben wir in diesem Sommer und passend zu den Olympischen Spielen gemeinsam einen mehrteiligen Podcast über Flo-Jo, die schnellste Frau der Welt, veröffentlicht, der sehr viele Hörerinnen und Hörer begeistern konnte. Unsere Korrespondentinnen und Korrespondenten schreiben auch für den «Tagi», und die «Tagi»-Korrespondenten schreiben für die SZ. Wir tauschen uns über Themen aus und reden über die Publizistik. Wir reden aber auch über die digitale Transformation. Da ist über die Jahre eine vielfältige und vertrauensvolle Zusammenarbeit entstanden.
Nein, aber klar, die Grössenverhältnisse sind eindeutig: Die SZ ist die grosse Schwester.
Sehr viele Menschen, bei der SZ werden es sogar immer mehr. Nimmt man Digital und Print zusammen, hatte die SZ noch nie so viele Abonnentinnen und Abonnenten wie jetzt. Das Interesse an den klassischen Medien lässt also nicht nach, im Gegenteil. Die Nachfrage nach sorgfältig recherchiertem und unabhängigem Journalismus nimmt zu und damit auch die Bereitschaft, dafür Geld auszugeben und ein digitales Abo abzuschliessen.
Es wird immer anspruchsvoller, junge Leserinnen und Leser für klassische Medien zu begeistern.
Mit unserem SZ-Journalismus: den exklusiven Recherchen und den grossen Reportagen, den einordnenden Hintergründen und den klaren Kommentaren. Wer die SZ liest, liest gerne und möchte mehr wissen als andere. Und er möchte durchaus auch unterhalten werden.
Der SZ gelingt es seit drei Jahren, sich aus den Erlösen aus dem Lesermarkt, also vor allem über unsere Print- und Digital-Abos, zu finanzieren. Das ist journalistisch und ökonomisch grossartig, vor allem auch, weil wir Medien uns bis vor wenigen Jahren überhaupt nicht sicher sein konnten, ob sich unabhängiger Journalismus so refinanzieren lässt. Bis 2030 streben wir gleichzeitig an, uns komplett aus den Digitalerlösen, die aus Abos und Onlinewerbung stammen, zu finanzieren.
Überhaupt nicht. Gedruckte Zeitungen wird es noch lange geben. Sie gehören für viele Menschen zum Leben. Das freut uns. Wenn wir uns perspektivisch vollständig aus digitalen Erlösen finanzieren können, macht uns das nochmals unabhängiger.
Diese Frage müssen Sie den Schweizer Medienhäusern stellen.
Wer für ein Netflix- oder ein Spotify-Abo Geld ausgeben kann, kann auch Geld für unabhängigen Journalismus ausgeben. Tatsächlich wird es aber immer anspruchsvoller, junge Leserinnen und Leser für klassische Medien zu begeistern. Das zeigt auch der Digital News Report des renommierten Reuters Institute in Oxford. Und natürlich hilft es auch nicht, wenn in immer weniger Familien morgens eine Zeitung auf dem Frühstückstisch liegt.
SZ-Chefredaktorin Judith Wittwer: «Bis 2030 streben wir an, uns komplett aus den Digitalerlösen, die aus Abos und Onlinewerbung stammen, zu finanzieren.» (Bild: Keystone / Gaëtan Bally)
Selbstverständlich.
Ja, unser Journalismus wird über alle Kanäle geplant und ausgespielt, das gilt auch für Social Media. Instagram hat für uns dabei in den letzten Jahren immens an Bedeutung gewonnen. Einige Leserinnen und Leser werden über Insta zu SZ-Abonnenten. Andere Leser erreichen wir über Facebook und Linkedin. Und bald werden wir auch auf Tiktok präsent sein, der bei einem jüngeren Publikum besonders beliebten Videosharing-App.
Mit dem Aufstieg der sozialen Netzwerke haben die klassischen Medien ihre Gatekeeper-Funktion verloren. Heute kann jeder Präsidentschaftskandidat über die ihm wohlgesinnten Plattformen unwidersprochen weirdes Zeugs verbreiten. Natürlich spielen bei der Verbreitung von Fake News aber auch Social Bots oder Troll-Armeen eine grosse Rolle. So tauchten im Internet zum Beispiel schon Sites auf, die täuschend echt den «Spiegel» oder die SZ kopierten, nur waren sie mit prorussischen Inhalten gespickt. Der bayerische Verfassungsschutz lieferte kürzlich Beweise dafür, dass diese Fake-Websites von Russland aus betrieben wurden.
Guter Journalismus basiert auf solidem Handwerk – von der unabhängigen Recherche mit der kritischen Distanz gegenüber allen Seiten bis hin zur sorgfältigen Textproduktion. Bei der SZ pflegen wir zudem eine besondere Lust an der Sprache. Ein Beispiel dafür ist unsere Glosse: «Das Streiflicht».
Wenn Fake-Websites deutscher Medien mit dem Ziel auftauchen, die offene Gesellschaft zu verunsichern und die liberale Demokratie zu destabilisieren, ist das eine beunruhigende Entwicklung. Umso wichtiger ist, dass wir unabhängigen Medien unsere Arbeit machen. Um es mit dem «Spiegel»-Gründer Rudolf Augstein zu sagen: schreiben, was ist.
Oft wird im Kleinen konkret, was im Grossen schiefläuft.
Ja. Oft wird im Kleinen konkret, was im Grossen schiefläuft.
Was ans Licht muss, muss recherchiert und geschrieben werden. Wenn wir damit auch neue Leser und Preise gewinnen, freut uns das natürlich.
Zur Transparenz: Die Recherche zu den Panama Papers wurde 2016, also vor meinem Start, bei der SZ veröffentlicht. Sie gab nicht nur Einblick in die Welt der Steuervermeidung. Sie zeigte auch, wie wichtig das systematische Auswerten von Daten im Journalismus ist und wie gut Journalisten in Netzwerken länderübergreifend zusammenarbeiten können.
Künstliche Intelligenz ist auch für uns ein grosses Thema. Für die Europawahl haben wir zum Beispiel eine KI mit Hunderten Artikeln gefüttert. Der KI-Bot lieferte Antworten auf Leserfragen und bot damit besonders auch für jüngere Nutzer einen interaktiven Zugang zur Europawahl. Inzwischen entstehen im ganzen Haus KI-Ideen und konkrete Projekte.
Die SZ ist ein grossartiges Haus mit grossartigen Kolleginnen und Kollegen. Ich fühle mich sehr wohl in München.
Zitiervorschlag: Interview mit Judith Wittwer, Chefredaktorin der Süddeutschen Zeitung (2024). «Guter Journalismus basiert auf solidem Handwerk». Die Volkswirtschaft, 29. August.
Judith Wittwer (47) leitet seit vier Jahren gemeinsam mit Wolfgang Krach die Redaktion der «Süddeutschen Zeitung» in München. Zuvor war sie Chefredaktorin des «Tages-Anzeigers». Wittwer studierte an der Universität St. Gallen (HSG) Internationale Beziehungen und absolvierte danach berufsbegleitend die Diplomausbildung an der Journalistenschule MAZ in Luzern. Für den «Tages-Anzeiger» war sie als Wirtschaftsredaktorin und Korrespondentin in Deutschland und nach einem Abstecher zur «Handelszeitung» später als Nachrichtenchefin tätig. Die Mutter von zwei Töchtern lebt mit ihrer Familie in München.
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