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160 Jahre SJES: Die Schweizer Wirtschaftswissenschaft im Wandel der Zeit

Seit 1864 veröffentlicht das «Swiss Journal of Economics and Statistics» methodisch fundierte Studien zu Wirtschaftsthemen. Ein Rückblick voller Highlights und Kuriositäten.
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Auch zwei Beiträge von Vilfredo Pareto (1848–1923), dem wohl einflussreichsten in der Schweiz tätigen Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler, sind im «Journal» nachzulesen. (Bild: zvg / Keystone)

Auf Initiative eines Astronomen und unter der Leitung eines Pfarrers gründete eine Gruppe fortschrittlich gesinnter Männer am 19. Juli 1864 in Bern die «Schweizerische Statistische Gesellschaft».[1] Diese wissenschaftlichen Vorreiter nahmen sich vor, «die Verhältnisse des Volkes und Landes zu eruieren, um Grundlagen für zweckmässiges Handeln zu legen, ohne selbst praktische Wohlfahrtspolitik zu treiben».[2] In den darauf folgenden 160 Jahren hat sich die Organisation ziemlich stetig vergrössert und sich zunehmend auf wirtschaftliche Themen konzentriert.[3] So entstand die heutige «Schweizerische Gesellschaft für Volkswirtschaft und Statistik», der bis heute wichtigste Zusammenschluss wissenschaftlich ausgerichteter Ökonominnen und Ökonomen im Land.

Seit ihrem Gründungsjahr veröffentlicht die Gesellschaft eine Fachzeitschrift – das heutige «Swiss Journal of Economics and Statistics» (siehe Kasten). Dank ihrer langen Geschichte bietet uns die Zeitschrift einen einzigartigen Einblick in 160 Jahre Volkswirtschaftslehre in der Schweiz.[4]

Pareto, der intellektuelle Pionier

Besondere Perlen aus dem Archiv der Zeitschrift sind zwei Beiträge von Vilfredo Pareto (1848–1923), dem wohl einflussreichsten in der Schweiz tätigen Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler aller Zeiten. In einem 1898 veröffentlichten Artikel leitet er Berechnungsformeln und dazugehörige Tabellen ab für die Schätzung von Polynomgleichungen mittels der Methode der kleinsten Quadrate.[5] Was heute jede Einführung in die Ökonometrie abdeckt und der Computer innert Millisekunden rechnet, war anno dazumal eine ungeheure Denk- und Fleissleistung.

Im Folgejahr 1899 wartete Pareto mit einem etwas angewandteren Beitrag auf. Eine genossenschaftlich organisierte Lebensversicherung, die Waadtländer Fraternité, hatte ihn in einer finanziellen Schieflage um Rat gebeten. Die Versicherung erhob bis dahin von allen Versicherten eine einheitliche Prämie und richtete fixe Versicherungsleistungen aus – unabhängig davon, wie lange man bereits versichert war. Dadurch hatten die Leute einen Anreiz, mit dem Beitritt möglichst lange zuzuwarten, und brachten so das Geschäftsmodell der Versicherung in die erwähnte Schieflage.

In seiner mit detaillierten Berechnungen unterlegten Analyse entwickelte Pareto – ohne es so zu nennen – das «aktuarische Äquivalenzprinzip». Konkret zeigte er auf, dass die Beiträge mit dem Alter des Eintritts in die Versicherung ansteigen sollten, da auch das Sterberisiko mit dem Alter ansteigt.[6] Pareto hatte somit einen Teil des Problems der adversen Selektion erkannt – ein heute ebenfalls geläufiges Konzept der Mikroökonomie, gemäss welchem nur die «schlechten Risiken» eine Versicherung abschliessen, wenn die Prämien nicht risikogerecht angesetzt werden können.

Ökonomischer Humanismus

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewannen wirtschaftspolitische Beiträge gegenüber methodisch-statistischen Analysen an Bedeutung. So redigierte der deutsche Finanzwissenschaftler Fritz Neumark 1937 eine wohlwollende Rezension zu John Maynard Keynes’ «General Theory» und machte damit Keynes’ Theorie der «konjunkturbindenden Finanzpolitik» auch hierzulande bekannt.[7] Was damals insbesondere für eine deutschsprachige Leserschaft revolutionär daherkam, ist heute so unbestritten, dass sogar die Schweizer Schuldenbremse einen Konjunkturfaktor vorsieht.

Zur illustren Autorenschaft zählte ebenso der deutsche Ökonom Wilhelm Röpke (1899–1966), der als geistiger Vater der sozialen Marktwirtschaft gilt. Bereits 1941, mitten im Zweiten Weltkrieg, beschrieb er seine Ideen für einen künftigen «ökonomischen Humanismus», einen sogenannten dritten Weg zwischen Kollektivismus und ungezügeltem Liberalismus. Röpke anerkannte eine Rolle für staatliche Umverteilung und «Monopolbekämpfung», warnte aber auch, dass es «für jeden Interventionismus einen Rubikon gibt», der nicht überschritten werden dürfe.[8]

Spätere Pioniere

Auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stechen mehrere richtungsweisende Beiträge heraus. So skizzierte der Schweizer Ökonom Hans Christoph Binswanger zum Beispiel 1972, also bereits vor dem ersten Ölpreisschock von 1973, die Umrisse einer ökologischen Wirtschaftstheorie. Diese bezieht den «Verbrauch von natürlichen Ressourcen» explizit ins Optimierungskalkül mit ein.[9]

Der Tessiner Ökonometriker Pietro Balestra publizierte in den frühen 1990er-Jahren ein Plädoyer für die Analyse von Paneldaten und für strukturelle, das heisst formell an ein theoretisches Wirtschaftsmodell gebundene statistische Schätzungen. Dies waren dann auch zwei der wichtigsten empirischen Forschungsansätze im frühen 21. Jahrhundert, welche etwa Fortschritte auf dem Gebiet der empirischen Arbeitsmartktforschung und der Wirtschaftsgeografie ermöglichten.[10]

Eine Erwähnung verdient auch der Artikel der Ökonomen Ernst Baltensperger und Thomas Jordan aus dem Jahr 1997. Die Autoren unterscheiden darin verschiedene Arten von Geldschöpfungsgewinnen («Seignorage»), die in der einschlägigen Literatur zu gewissen Begriffsverwirrungen geführt hatten. Hervorzuheben ist der Artikel nicht bloss aufgrund seiner prominenten Autoren, sondern auch als frühes Beispiel des «angelsächsischen Stils»: Der Beitrag ist auf Englisch verfasst und zeichnet sich durch eine algebraische und somit komplett eindeutige Analyse aus. Dieser heute geläufige Stil hebt sich ab von vielen wortreichen, weniger präzisen, aber dafür umso meinungsstärkeren Beiträgen, welche die Zeitschrift jahrzehntelang geprägt hatten. Die Zeitschrift hat damit sozusagen zur formalen mathematisch-statistischen Disziplin Vilfredo Paretos zurückgefunden.

Ein paar «Dilettanten»

Auch in der Geschichte einer wissenschaftlichen Publikation wechseln sich Licht und Schatten ab. Bereits in seinem Rückblick auf die ersten 50 Jahre der Zeitschrift meinte ein angesehener Basler Wirtschaftshistoriker im Jahr 1914, «manchmal [sei] der Dilettantismus mit Händen zu greifen» und man begegne in der Zeitschrift Autoren, «die eigentlich selbst ihre Disqualifikation eingestehen».[11]

Trotz der eigentlichen Bestimmung als statistisch-wissenschaftliche Plattform sind die Annalen der Zeitschrift gespickt mit abenteuerlichen Theorien, die bisweilen mit äusserst selbstbewusster Tonalität vorgebracht werden. So dokumentierte etwa der Genfer Mediziner Pierre-Louis Dunant, der Bruder des Rotkreuz-Gründers Henry Dunant, in einer der ersten Ausgaben, dass Deutschfreiburger Rekruten im Durchschnitt 1,62 Meter massen, ihre (französischsprachigen) Greyerzer Kantonsgenossen im selben Alter jedoch 1,65 Meter.[12] Diesen Unterschied erklärte er mit Rasseneigenschaften: Deutschfreiburger seien Alemannen, Welschfreiburger seien Burgunder. Wieso Erstere kleinwüchsiger sein sollten als Letztere, erklärte er nicht. Und die Frage, ob der gemessene Unterschied überhaupt statistisch signifikant war, stellte er sich auch nicht.

Auch aus dem 20. Jahrhundert findet man Kurioses. So behauptete der deutsche Soziologe Franz Oppenheimer im Jahr 1937 in einer Diskussion über die «General Theory» von Keynes, die Ideen selbst schon lange vorher entwickelt zu haben. Er nennt sich «der Referent, der seit fast einem halben Jahrhundert im gleichen Kampfe steht», um gleichzeitig die «mathematischen Wirtschaftslehren» als «blosses Gebräu» zu bezeichnen.[13]

Falsche Prognosen

Im Nachhinein kann man sich natürlich auch über Fehlprognosen mokieren. So warnte der Genfer Ökonom und Diplomat William Rappard im Jahr 1952 vor einer Anbindung der Schweiz an die damals entstehende Europäische Wirtschaftsgemeinschaft. Er schrieb, es scheine «sicher», dass eine solche Gemeinschaft auch künftig «maximal die sechs Unterzeichner-Staaten des Schumann-Plans umfassen» werde.[14]

Pikant vor dem Hintergrund aktueller Diskussionen um ungenaue Behördenzahlen ist auch ein 1988 veröffentlichter Beitrag aus dem Bundesamt für Statistik.[15] Darin wurde ein Maximalszenario zur Zuwanderung berechnet. Die Studie kommt zum Schluss, dass die Schweizer Bevölkerung bis im Jahr 2025 auf maximal 7,75 Millionen anwachsen wird. Heute weiss man, dass es rund 9,1 Millionen sind. Die Schweizer Bevölkerung wuchs also ungefähr doppelt so stark, wie es die Statistiker vor weniger als 40 Jahren für möglich gehalten hatten.

Lange kaum Ökonominnen

Was bei der Durchsicht beinahe aller Archivausgaben auffällt, ist eine extreme Männerdominanz, sowohl hinsichtlich der Autoren als auch inhaltlich. Noch Anfang der 1980er-Jahre waren 96 Prozent der Mitglieder der herausgebenden Gesellschaft männlichen Geschlechts.[16] In den ersten 150 Jahren der Zeitschrift hatten 97 Prozent aller Beiträge eine rein männliche Autorenschaft. Aber die Zeiten ändern sich: In den letzten zehn Jahren kam bereits jeder dritte Artikel mit weiblicher Beteiligung zustande. Und 2022 wurde das Journal mit der in Basel lehrenden Ökonomin Sarah Lein zum ersten Mal von einer Frau geleitet.[17]

Die Schweizer VWL-Community hat mit ihrer Zeitschrift nicht nur einen reichen Schatz an Archivmaterial, sondern auch eine lebendige, sich stetig entwickelnde und weltweit sichtbare Plattform für wissenschaftlichen Austausch.[18] Denn dank dem «Diamond Open Access»-Status dieses Journals können die Artikel von allen Interessierten weltweit umsonst gelesen werden, und auch für die Autoren fallen keine Kosten an. Auf die nächsten 160 Jahre!

  1. Bächtold (1914) S. 249. []
  2. Bächtold (1914) S. 250. []
  3. Scheurer (1964). []
  4. Das Archiv der Zeitschrift ist nahezu vollständig digitalisiert auf SGVS.ch/journal[]
  5. Pareto (1898). []
  6. Pareto (1898). []
  7. Neumark (1937). []
  8. Röpke (1941), S. 110. []
  9. Binswanger (1972). []
  10. Den dritten dominanten Ansatz, die quasiexperimentelle Schätzung von kausalen Wirkungszusammenhängen, hatte Balestra allerdings nicht vorausgesehen. []
  11. Bächtold (1914), S. 264. []
  12. Dunant (1868). []
  13. Oppenheimer (1937), S. 428, 429. []
  14. Rappard (1952), S. 308; d. h. Deutschland, Frankreich, Italien, Niederlande, Belgien und Luxemburg. []
  15. Haug (1988). []
  16. Frey, Pommerehne, Schneider und Weck (1982). []
  17. Siehe historische Herausgeber-Liste auf Wikipedia. []
  18. Siehe SJES.springeropen.com/. []

Literaturverzeichnis
  • Bächtold, H. (1914) Die Schweizerische Statistische Gesellschaft 1864–1914, Zeitschrift für Schweizerische Statistik, 50: 247–280.
  • Balestra. P. (1994) Statistique et analyse économique: quel mariage?, Schweizerische Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik, 130(3): 363–376.
  • Baltensperger, E., T.J. Jordan (1997) Principles of Seignorage, Schweizerische Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik, 133(2/1): 133–152.
  • Binswanger, H.C. (1972) Ökonomie und Ökologie – neue Dimensionen der Wirtschaftstheorie, Schweizerische Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik, 108: 251–281.
  • Dunant, P.L. (1868) De la taille moyenne des habitants du Canton de Fribourg, Zeitschrift für Schweizerische Statistik, 5: 110–114.
  • Frey, B., W.W. Pommerehne, F. Schneider, H. Weck (1982) Welche Ansichten vertreten Schweizer Ökonomen? Ergebnisse einer Umfrage. Schweizerische Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik, 118(1): 1–40.
  • Haug, W. (1988) Ausblick auf die Zukunft der schweizerischen Bevölkerung: Bevölkerungsperspektiven 1986–2025. Schweizerische Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik, 125(2): 193–210.
  • Neumark, F. (1937) Ausgleichsprobleme der öffentlichen Finanzwirtschaft. Zeitschrift für schweizerische Statistik und Volkswirtschaft, 74: 582–617.
  • Oppenheimer, F. (1937) Arbeitslosigkeit: Zu dem neuen Buch von J. M. Keynes, Zeitschrift für schweizerische Statistik und Volkswirtschaft, 74: 428–450.
  • Pareto, V. (1898) Tables pour faciliter l’application de la méthode des moindres carrés. Zeitschrift für Schweizerische Statistik, 35: 121–150.
  • Pareto, V. (1899) Rapport sur les bases de l’assurance de la «Fraternité», Zeitschrift für Schweizerische Statistik, 36: 104–110.
  • Rappard, W.E. (1952) L’intégration économique de l’Europe et la Suisse, Schweizerische Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik, 88: 301–311.
  • Röpke, W. (1941) Grundfragen rationeller Wirtschaftspolitik, Zeitschrift für schweizerische Statistik und Volkswirtschaft, 77: 101–112.
  • Scheurer, F. (1964) Un quart de siècle d’histoire de la Société suisse de Statistique et d’Economie politique 1939–1964, Schweizerische Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik, 100(4): 615–628.

Bibliographie
  • Bächtold, H. (1914) Die Schweizerische Statistische Gesellschaft 1864–1914, Zeitschrift für Schweizerische Statistik, 50: 247–280.
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  • Haug, W. (1988) Ausblick auf die Zukunft der schweizerischen Bevölkerung: Bevölkerungsperspektiven 1986–2025. Schweizerische Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik, 125(2): 193–210.
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  • Rappard, W.E. (1952) L’intégration économique de l’Europe et la Suisse, Schweizerische Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik, 88: 301–311.
  • Röpke, W. (1941) Grundfragen rationeller Wirtschaftspolitik, Zeitschrift für schweizerische Statistik und Volkswirtschaft, 77: 101–112.
  • Scheurer, F. (1964) Un quart de siècle d’histoire de la Société suisse de Statistique et d’Economie politique 1939–1964, Schweizerische Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik, 100(4): 615–628.

Zitiervorschlag: Brülhart, Marius; Dashevska, Kateryna (2024). 160 Jahre SJES: Die Schweizer Wirtschaftswissenschaft im Wandel der Zeit. Die Volkswirtschaft, 03. September.

Das «Swiss Journal of Economics and Statistics»

Seit 1864 gibt die «Schweizerische Gesellschaft für Volkswirtschaft und Statistik» (SGVS) eine Zeitschrift heraus. Aus der ursprünglichen «Zeitschrift für Schweizerische Statistik» wurde 1945 die «Schweizerische Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik». Seit 2007 erscheint das heutige «Swiss Journal of Economics and Statistics» (SJES) vollständig in englischer Sprache, als eine akademische Publikation mit Peer-Review und internationalem Renommee. Die Artikel werden online auf der Plattform von Springer-Nature lose über das Jahr publiziert. Einreichungen stehen allen Autoren und Autorinnen von wirtschaftswissenschaftlichen Beiträgen offen. Obwohl ein Grossteil der veröffentlichten Artikel einen Bezug zur Schweiz aufweist, ist ein solcher nicht Bedingung. Für eine erfolgreiche Einreichung relevant sind einzig die methodische Qualität und das inhaltliche Interesse der Arbeit. Gemäss der umfassenden Klassierung von Ideas/Repec rangiert das SJES in den Top-10-Prozent der weltweiten VWL-Journals.a Finanziert wird das SJES durch die SGVS mit Unterstützung der Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW).

 

a Siehe «Ideas/Repec Simple Impact Factors (Last 10 Years) for Journals» auf Ideas.repec.org.