Fachkräftemangel: Das kann die Schweiz von anderen Ländern lernen
Mit dem «Jahr der Kompetenzen» will die EU den Fachkräftemangel gezielt lindern. (Bild: Keystone)
Die Covid-Krise war gerade vorbei, da stand schon eine neue Herausforderung vor der Tür: der Fachkräftemangel. Ende 2023 gaben 77 Prozent der Unternehmen in der EU an, dass sie Schwierigkeiten haben, passende Fachkräfte zu finden. Besonders drastisch ist dieser Mangel in der Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT). Bis 2030 will die EU die vorhandenen Fachkräfte in diesem Bereich um 20 Millionen zusätzliche Fachpersonen erhöhen. Zum Vergleich: Heute arbeiten in dieser Branche 9,8 Millionen Arbeitnehmende. In der Schweiz ist die Situation etwas weniger angespannt. So berichteten Ende letzten Jahres 40 Prozent der Unternehmen, dass sie Schwierigkeiten bei der Rekrutierung von Fachkräften haben.[1]
Gleichzeitig gibt es aktuell in Europa 8 Millionen junge Menschen im Alter von 15 bis 29 Jahren, die weder erwerbstätig noch in einer Aus- oder Weiterbildung sind (NEET). Diese Diskrepanz zwischen offenen Stellen und Stellensuchenden deutet darauf hin, dass die Wünsche und Kompetenzen von jungen Menschen teilweise nicht mit der Nachfrage am Arbeitsmarkt übereinstimmen.
Vier Ziele
Die EU will dem entgegenwirken. Um den Engpass an Fachpersonen anzugehen, hat sie 2023 das «Europäische Jahr der Kompetenzen» ausgerufen, das im Mai 2024 endete. Auch verschiedene europäische Länder, die nicht Mitglied der EU sind, darunter die Ukraine, Norwegen und die Schweiz, waren eingeladen und haben an den Veranstaltungen teilgenommen.
Mit dem «Jahr der Kompetenzen» wollte die EU vor allem vier Ziele erreichen. Erstens sollen die Investitionen in die Aus- und Weiterbildung erhöht und gleichzeitig wirksamer und inklusiver werden, um insbesondere auch Personen mit niedrigem Qualifikationsniveau und mit geringem Einkommen einzuschliessen. Zweitens soll das Qualifikationsangebot verstärkt an die Erfordernisse der Arbeitgeber angeglichen werden. Auch die Aus- und Weiterbildungswünsche und -ziele sowie die zu erwerbenden Kompetenzen sollen drittens besser auf die Nachfrage am Arbeitsmarkt abgestimmt werden – etwa vermittelt über Beratungsangebote. Und viertens sollen Fachkräfte aus Drittstaaten angeworben werden, beispielsweise kombiniert mit geeigneten Ausbildungsangeboten, Programmen zur Förderung von Mobilität oder der erleichterten Anerkennung von Abschlüssen. Besonders wichtig bei der Erreichung dieser vier Ziele ist gemäss der EU der Dialog zwischen den Sozialpartnern auf nationaler und EU-Ebene.
Was tut die Schweiz?
Auch in der Schweiz ist die Erhöhung der Anzahl Berufsabschlüsse für Erwachsene eine wichtige bildungs- und arbeitsmarktpolitische Zielsetzung. Die Verbundpartner in der Berufsbildung sowie die öffentliche Arbeitsvermittlung (ÖAV) finanzieren hierzu vielfältige Massnahmen und Projekte. Ein Projekt aus dem Kanton Waadt etwa hat zum Ziel, die Anzahl der Berufsabschlüsse mittels optimal auf die Bedürfnisse von Erwachsenen zugeschnittener Berufsbildungsangebote zu erhöhen und so mehr Fachkräfte zu gewinnen.
Zudem will die Schweiz die Grund- sowie die digitalen Kompetenzen fördern. Insbesondere die Digitalkompetenzen haben angesichts des technologischen Wandels eine besonders kurze Halbwertszeit und müssen daher in regelmässigen Abständen aktualisiert werden. Doch diese Möglichkeit ist nicht überall gegeben, sondern variiert je nach Betrieb und Sektor. Deshalb bieten die Kantone Genf und Neuenburg sogenannte Digitalpraktika an. Damit können als arbeitslos registrierte Personen während drei bis sechs Monaten und unterstützt durch einen Coach digitale Projekte in einem Unternehmen realisieren und dadurch einen Leistungsausweis erhalten, der ihre Kompetenzen belegt und ihnen bei der Stellensuche hilft.
Von anderen Ländern lernen
Die Beispiele zeigen: Die Schweiz tut einiges. Aber sie könnte noch mehr. Verbesserungspotenzial gibt es etwa bei der Finanzierung und der Flexibilität von Weiterbildungsangeboten für Erwachsene. Auch bei der Validierung von Berufserfahrung anhand national einheitlicher Standards besteht noch Potenzial nach oben.
Auch wenn die diesbezüglichen Ansätze anderer Länder natürlich nicht direkt mit der Schweiz verglichen werden können, hat das Europäische Jahr die Vielfalt an Massnahmen und das Engagement und Commitment der Länder in Europa aufgezeigt. Andere Teilnehmerländer entwickeln typischerweise die Berufsbildung weiter, bieten Lehrgänge zum Erwerb von Mikrozertifikaten an, fördern digitale Kompetenzen und finanzieren individuelle Lernguthaben.
Viele Länder verfolgen dabei einen lenkenden Ansatz. Der im deutschen Bundesland Nordrhein-Westfalen eingesetzte Bildungsscheck beispielsweise legt den Schwerpunkt auf die berufliche Qualifizierung sowie den Erwerb fachlicher Kompetenzen und von Schlüsselqualifikationen. Ähnlich finanziert der portugiesische Cheque formação Ausbildungsprogramme, die auf die jährlich vom Institut für Beschäftigung und Ausbildung festgelegten Prioritätsbereiche abgestimmt sind. Und Erwerbspersonen in Frankreich können auf Basis des französischen Compte Personnel de Formation (CPF) jährlich Weiterbildungsguthaben in Höhe von 500 Euro abrufen – insgesamt zehn Mal im Verlauf ihres Erwerbslebens. Arbeitskräfte mit geringen Qualifikationen können dabei sogar 800 Euro beanspruchen.
Interessant ist auch ein schwedischer Pilotversuch in der höheren Berufsbildung. Dabei wurde vor dem eigentlichen Ausbildungsbeginn individuell bewertet, über welche Kompetenzen eine Person bereits verfügt. Danach wurden die Lernmodule festgelegt, welche die Lernenden noch absolvieren mussten.
Mit dem Pilotversuch hat Schweden gute Erfahrungen gemacht. Insbesondere schätzen die Teilnehmenden die Zeitersparnis und die verbesserte Work-Life-Balance, die durch den flexibel ausgerichteten Lernplan ermöglicht wurde. Die Hoffnung ist, dass durch die punktuelle und verkürzte Ausbildung mehr Arbeitnehmende eine Weiterbildung in Betracht ziehen. Seit einigen Jahren können Erwerbstätige in Schweden, die in den vergangenen 14 Jahren mindestens 8 Jahre erwerbstätig waren, zudem ein staatliches Weiterbildungsstipendium in Höhe von 80 Prozent des Vorjahresgehalts beziehen – ein Faktor, der die Inanspruchnahme von Weiterbildung (auch durch bisher unterrepräsentierte Gruppen) positiv beeinflussen dürfte.
Im Hinblick auf IKT-Berufe zeigte der Austausch in den Arbeitsgruppen ein noch verbleibendes Potenzial für die Schweiz auf. Etwa in Finnland und Estland ist der Anteil dieser Berufe an der Gesamtbeschäftigung vergleichsweise hoch. Gleichzeitig gelingt es den Ländern auch in stärkerem Masse als der Schweiz, Frauen als Fachkräfte für den IKT-Sektor zu attrahieren.
Berufsbildung muss sich Realitäten anpassen
Knapp jede zweite in der Schweiz lebende Person zwischen 25 und 74 Jahren hat sich 2021 weitergebildet.[2] Dieser Anteil ist zwar hoch, doch das für das Jahr 2030 angestrebte Ziel der EU liegt noch höher, nämlich bei 60 Prozent. Bei entsprechendem Bedarf gibt es in der Arbeitslosenversicherung (ALV) bereits heute Möglichkeiten für Weiterbildung, Ausbildung und Umschulung. Diese Möglichkeiten sollen in der Umsetzung der «Strategie ÖAV 2030», die im Juni 2023 in Kraft getreten ist, allerdings noch markant verbessert werden.
Um den demografischen, technologischen und grünen Wandel zu meistern, muss sich auch das Berufsbildungssystem wandeln. Immer wichtiger werden deshalb Konzepte wie Lebenslanges Lernen, die Flexibilisierung von Bildungsangeboten und die Erhöhung der Effizienz insbesondere im Hinblick auf die Zielsetzungen der grünen Transition.
Nicht nur die Schweiz kann von anderen Ländern lernen. Auch die schweizerischen Ansätze zur Förderung von Kompetenzen und Abschlüssen stossen anderswo auf Interesse. Das Europäische Jahr der Kompetenzen bot Gelegenheit, diesen Austausch weiter zu pflegen. Natürlich genügt es nicht, während nur eines Jahres die Kompetenzen in den Vordergrund zu stellen. Vielmehr gilt es, die Bedeutung von Aus- und Weiterbildung für die gesellschaftliche, wirtschaftliche und ökologische Entwicklung nachhaltig im Bewusstsein aller zu verankern. Und gleichzeitig offen zu bleiben für die Perspektiven und Lösungsansätze der europäischen Partner.
Zitiervorschlag: Griga, Dorit; Hügli, Jérôme (2024). Fachkräftemangel: Das kann die Schweiz von anderen Ländern lernen. Die Volkswirtschaft, 26. September.