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Freihandel aus der Sicht Indiens

Indien ist eine schnell wachsende Volkswirtschaft. Um die Millionen Menschen aus der Armut zu befreien, muss das Land deshalb zwischen Handelsliberalisierungen und Entwicklungsprioritäten abwägen.
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Die grosse Mehrheit der Menschen in Indien gehört noch immer zu den Geringverdienenden. Frau im Dharavi-Slum in Mumbai. (Bild: Keystone)

Indien will sich immer mehr in die globale Wirtschaft integrieren. Freihandelsabkommen sollen dem Land dabei helfen. Indiens Freihandelsstrategie hat sich in den letzten drei Jahrzehnten ständig weiterentwickelt. Die ersten Freihandelsabkommen hat Indien Ende der 1990er- und Anfang der 2000er-Jahre mit seinen Nachbarländern in der südasiatischen Region ausgehandelt. Sie umfassten ausschliesslich den Abbau der Warenzölle.

Die zweite Phase begann Mitte der 2000er-Jahre und war Teil der indischen «Look East»-Politik. Sie umfasste Singapur, Malaysia, Japan, Korea und den Verband Südostasiatischer Nationen (Asean), zu dem auch Länder wie Indonesien, Vietnam und Thailand gehören. Die abgeschlossenen Abkommen waren ehrgeiziger und beinhalteten zudem Vereinbarungen zum Dienstleistungshandel und zu technischen Handelshemmnissen.

Grosse Abkommen scheitern

Im Anschluss an diese zweite Phase nahm Indien Verhandlungen mit der EU und der Regional Comprehensive Economic Partnership (RCEP) auf. Letztere ist die grösste Freihandelszone der Welt und umfasst neben den Asean-Staaten auch China, Japan, Südkorea, Australien und Neuseeland. Allerdings kamen die Verhandlungen zu keinem Abschluss. Die Verhandlungen mit der EU gerieten aufgrund grundlegender Differenzen zwischen den beiden Seiten ins Stocken. Bei der RCEP beschloss Indien, sich zurückzuziehen, weil es ernsthafte Bedenken hatte, ein Freihandelsabkommen abzuschliessen, das China mit einschliesst. In der dritten Phase ab 2018/2019 hat das Land Freihandelsabkommen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten (2022) und der Efta (2024) abgeschlossen, zu der neben Norwegen, Liechtenstein und Island auch die Schweiz gehört. Auch einen ersten Teil («Early Harvest») des Abkommens mit Australien konnte Indien 2022 finalisieren und in Kraft setzen.

Derzeit verhandelt Indien mit dem Vereinigten Königreich, der EU, Oman und Peru. Zudem arbeitet das Land am Abschluss des Abkommens mit Australien. Diese Abkommen neuerer Generation sind hinsichtlich des Umfangs und der Tiefe weitaus umfassender als die bisherigen. Neben Waren, Dienstleistungen und technischen Handelshemmnissen enthalten sie auch Kapitel über den digitalen Handel, Umwelt- und Sozialfragen sowie Handelserleichterungen.

Darüber hinaus engagiert sich Indien auch im Indo-Pacific Economic Framework for Prosperity (IPEF), an dem sich unter anderem auch die USA beteiligen. Hier geht es um themenspezifische Abkommen zu widerstandsfähigen Lieferketten, sauberer Energie und fairer Wirtschaft. Auch wenn dies keine Freihandelsabkommen im herkömmlichen Sinne sind, nehmen solche alternativen themenspezifischen Abkommen in Zukunft wahrscheinlich zu, um gemeinsame Standards und Regeln zwischen gleichgesinnten Ländern zu entwickeln.

Die indische Perspektive

Indien ist ein Land der Gegensätze. Kaufkraftbereinigt haben fast 60 Millionen der insgesamt 1,4 Milliarden Inder und Inderinnen einen Lebensstandard, der mit dem Durchschnitt Italiens vergleichbar ist – wohlgemerkt einer der grossen europäischen Volkswirtschaften und eines Mitglieds der G-7 und der G-20. Gleichzeitig leben in Indien fast 200 Millionen Menschen mit weniger als 2,15 Dollar pro Tag. Das entspricht der Hälfte der Menschen, die in Subsahara-Afrika unterhalb der Armutsgrenze leben. Auch wenn es in Indien absolut betrachtet sehr viele Menschen in allen Einkommenskategorien gibt, zählt die grosse Mehrheit immer noch zu den Geringverdienenden.

Ausserdem ist Indien gemäss dem US-Magazin «Fortune» Sitz der acht weltweit umsatzstärksten Unternehmen und von mehr als 600 Unternehmen mit einem Umsatz von fast 100 Millionen Dollar. Gleichzeitig gibt es etwa 7 Millionen Kleinstunternehmen mit einem Jahresumsatz von weniger als 0,6 Millionen Dollar, wobei die meisten von ihnen weniger als 0,3 Millionen Dollar erwirtschaften. In diesen Zahlen sind mehrere Millionen informeller Einzelunternehmen nicht enthalten.

Indien ist eine offene und transparente Demokratie. Interessengruppen sind bereits seit Langem aktiv, um ihre Forderungen auf verschiedenen Regierungsebenen durchzusetzen. Bei jeder politischen Entscheidung müssen deshalb verschiedene Interessen gegeneinander abgewogen werden. Es gibt kein anderes Entwicklungsland mit einer solchen Vielfalt an Einkommensniveaus und industriellen Kapazitäten, das gleichzeitig eine föderale Demokratie ist.

Die politischen Entscheidungsträger müssen sich darüber im Klaren sein, welche Sektoren einer Handelsöffnung besonders betroffen sind. In einigen Sektoren gibt es sehr viele Kleinstunternehmen oder Arbeitnehmende aus sozioökonomisch schwächeren Schichten. In anderen Fällen kann ein Wirtschaftssektor politisch sensibel sein, da er für eine bestimmte Provinz extrem wichtig ist. Diese Komplexität zwingt Indien, mindestens 15 bis 20 Prozent seiner Zolltarifpositionen in den Verhandlungen zu schützen. Das heisst, die indischen Entscheidungsträger sind nicht generell protektionistisch, sondern: Sie sind pragmatisch.

Auch bei Rechten für geistiges Eigentum müssen die indischen Politiker die Bedürfnisse der öffentlichen Gesundheit Indiens priorisieren. Damit Medikamente auch für die weniger wohlhabende Bevölkerung zugänglich bleiben, müssen sie die Versuche von Pharmaunternehmen abwehren, welche die Dauer des Patentschutzes verlängern wollen. Zudem muss Indien darauf achten, dass Umwelt- und Arbeitsrechte nicht als protektionistische Instrumente von der Gegenseite missbraucht werden. Das alles bedeutet: Ein Abkommen mit Indien setzt voraus, dass die Verhandlungspartner Indiens einzigartige Komplexität verstehen und zu schätzen wissen.

Indien – Efta: Ein gutes Gleichgewicht

In dieser Hinsicht ist das Handels- und Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (Trade and Economic Partnership Agreement, Tepa) zwischen Indien und der Efta ein bemerkenswerter Erfolg. Das Tepa ist generell ein Vorbild für Freihandelsabkommen zwischen grossen Entwicklungsländern und reichen Industrienationen. Da die Zölle in den Industrieländern in der Regel sehr niedrig sind, bringen Freihandelsabkommen den Warenexporteuren aus Entwicklungsländern keinen grossen Mehrwert. Die Schweiz beispielsweise erhebt seit 2024 keine Einfuhrzölle auf Industriegüter.

Das Abkommen zwischen Indien und der Efta schafft dennoch ein Gleichgewicht: Auf der einen Seite gewährt Indien Zollsenkungen. Auf der anderen Seite verpflichten sich die wohlhabenden Industrieländer, längerfristig Investitionen und Arbeitsplätze zu fördern. Ungeachtet der Kritik, ob diese Verpflichtung tatsächlich wirksam ist, stellt sie sicher eine radikale Neuerung dar.

Mit derzeit rund 42 Millionen Studierenden im indischen Hochschulsystem wird Indien bis 2040 wahrscheinlich die grösste Anzahl an hoch qualifizierten Fachkräften der Welt haben. Anders die wohlhabenderen Volkswirtschaften in Europa und Nordamerika: Aufgrund der Überalterung der Bevölkerung fehlen dort qualifizierte Fachkräfte immer mehr. Das Tepa zwischen Indien und der Efta ermöglicht es Efta-Firmen, das grosse Angebot an technisch qualifizierten Arbeitskräften in Indien selbst zu nutzen – insbesondere bei digitalen Dienstleistungen. Zusätzliche Verpflichtungen erleichtern zum Beispiel die Einreise in die Efta-Länder für bestimmte Kategorien von indischen Geschäftsreisenden oder Wartungspersonal.

Indiens künftiger Kurs

Indien wird sich auch in Zukunft weiter bemühen, seine Freihandelsabkommen mit der EU, dem Vereinigten Königreich und der Eurasischen Wirtschaftsunion voranzutreiben. Zu Letzterer gehören beispielsweise Russland, Kasachstan und Armenien. Es wird wahrscheinlich auch Freihandelsabkommen mit den Mitgliedsländern der RCEP und der transpazifischen CPTPP anstreben, mit denen Indien noch kein Abkommen hat. Damit würde Indiens Freihandelsnetz ganz Europa und Asien mit Ausnahme Chinas abdecken.

Eine weitere Priorität wären Freihandelsabkommen mit afrikanischen und lateinamerikanischen Ländern. Bei all diesen Freihandelsabkommen bestünde die Herausforderung für Indien darin, seine oben beschriebenen besonderen Empfindlichkeiten zu berücksichtigen. Angesichts der wachsenden geopolitischen Spannungen und der zunehmenden Tendenz, bevorzugt Handels- und Investitionsbeziehungen mit geopolitischen Verbündeten einzugehen, werden vermutlich auch neue Abkommen an Bedeutung gewinnen – beispielsweise das IPEF mit den USA und Australien.

Zitiervorschlag: Banerjee, Pritam (2024). Freihandel aus der Sicht Indiens. Die Volkswirtschaft, 10. September.