Immer mehr bilaterale und plurilaterale Handelsabkommen führen dazu, dass dieses Regelgeflecht einer «Spaghettischüssel» gleicht. Der Begriff stammt vom Ökonomen Jagdish Bhagwati. (Bild: Keystone)
Stellen Sie sich vor, Sie sind frisch in ein Wohnquartier gezogen und möchten nachbarschaftliche Beziehungen aufbauen. Ihr Nachbar steckt seine überschüssige Energie ins Rasenmähen und bietet an, auch Ihre Grünfläche auf Wimbledon-Niveau zu bringen. Vom Birnenbaum in Ihrem Garten ernten Sie mehr Früchte, als Sie je essen werden, und bieten sie Ihrem Rasen mähenden Nachbarn als Gegenleistung an. Im Nu sind Sie sich einig.
Ganz ähnlich ist es bei Handelsabkommen. Ausser, dass die Protagonisten Staaten sind. Auch müssen es nicht unbedingt Nachbarländer und nur deren zwei sein. Die Mitgliedsstaaten der Europäischen Freihandelsassoziation (Efta) Island, Liechtenstein, Norwegen und die Schweiz haben im März 2024 genau ein solches Handelsabkommen mit Indien unterzeichnet.
Sensible Bereiche werden ausgeklammert
Zurück zum Beispiel mit dem Rasen: Da Sie die Abmachung nur mit Ihrem Nachbarn getroffen haben und alle anderen Anwohner ausgeschlossen bleiben, handelt es sich um einen Vertrag zu Vorzugsbedingungen. Ebenso verfahren Staaten: Mittels sogenannter präferenzieller Handelsabkommen verbessern sie mit ausgewählten Partnern gegenseitig den Marktzugang und die Rechtssicherheit für Wirtschaftsakteure aus dem Partnerstaat. Dies zusätzlich zu den Grundnormen der Welthandelsorganisation (WTO), welche die globalen Spielregeln für den Handel aufstellt und über deren Einhaltung wacht.
Obwohl Staaten gemäss den WTO-Regeln in präferenziellen Handelsabkommen eine umfassende Liberalisierung anstreben müssen, bleibt Raum, um sensible Bereiche zu schützen. Denken Sie etwa an die Tulpen, die ihr Nachbar verschonen soll. Anders als der gängige Begriff Freihandelsabkommen suggeriert, wird somit nicht automatisch eine komplette Marktöffnung angestrebt. Die Landwirtschaft ist häufig so ein schützenswerter Bereich. Indien und die Efta-Staaten haben hier Rücksicht auf ihre gegenseitigen Sensibilitäten genommen und die Zölle für landwirtschaftliche Produkte nur teilweise reduziert oder eliminiert. Auch länderspezifische Normen – beispielsweise Lebensmittelstandards – werden respektiert.
Eine Spaghettischüssel
Ein Handelsabkommen ist also ein ausgefeilter Partnerschaftsvertrag. Er bestimmt die Bedingungen für den grenzüberschreitenden Waren- und Dienstleistungsverkehr und dient als Nachschlagewerk. So lassen sich im Vertrag beispielsweise die Zollerleichterungen für ein spezifisches Produkt in Erfahrung bringen – Rasenmäher etwa haben in der Schweiz die unverkennbare achtstellige Zollnummer 8433.1100.
Nun gibt es nicht nur einen Vertrag, sondern fast 370 Abkommen, die zwischen unterschiedlichen Ländern in diversen Konstellationen abgeschlossen wurden – bi- oder plurilateral, regional oder interkontinental. Dass daraus ein komplexes Regelgeflecht resultiert, ist nicht verwunderlich. Der Ökonom Jagdish Bhagwati hat hierfür den Begriff «Spaghetti Bowl Effect» geprägt.
Ein Grund für den Spaghettischüssel-Effekt ist, dass der Weg über multilaterale Handelsabkommen im Rahmen der WTO seit Längerem blockiert ist. Deswegen weichen viele Staaten auf präferenzielle Handelsabkommen aus. Und weil sie nicht mehr auf aktualisierten multilateralen Verträgen aufbauen können und die Handelsflüsse immer komplexer werden, müssen die Staaten zunehmend im kleinen Kreis Regeln aufstellen.
Handelsabkommen im Schnelldurchlauf
Deshalb sind die Handelsabkommen über die Jahre immer dicker geworden. Allein die Schweizer Anhänge mit Zugeständnissen für den Waren- und Dienstleistungshandel umfassen im Abkommen mit Indien rund 180 Seiten.
Auch die Themenpalette ist bunt. In Abkommen festgelegt sind beispielsweise sogenannte Ursprungsregeln: Diese bestimmen, in welchen Fällen ein Produkt aus einem Partnerstaat stammt – etwa weil ein Grossteil der Vorproduktion dort stattgefunden hat – und somit von Zollpräferenzen profitieren kann. Ebenfalls regelt ein Handelsabkommen technische, sanitäre und pflanzenschutzrechtliche Massnahmen. Dies mit dem Ziel, unnötige und willkürliche Erschwernisse des Handels zu vermeiden und den Gesundheitsschutz und die Produktsicherheit zu gewährleisten. Ein wichtiges Thema ist auch die Verbesserung der Rahmenbedingungen für Investitionen, um diese zu fördern. Erreicht wird dies meist durch Gleichbehandlung zwischen ausländischen und inländischen Investoren, beispielsweise bei der Übernahme einer Firma oder der Gründung einer Tochtergesellschaft.
Geregelt wird oft auch das öffentliche Beschaffungswesen: Ausschreibungen der öffentlichen Hand sollen transparent sein, und die Anbieter aus den Partnerländern sollen sich daran beteiligen dürfen.
Gerade Schweizer Exportfirmen sind zudem daran interessiert, dass ihre Innovationen und Testdaten nicht kopiert werden. Deshalb streben Staaten in den Verhandlungen einen erhöhten Rechtsschutz für diverse Rechte für geistiges Eigentum an. Darunter fallen unter anderem Patente, Geschäftsgeheimnisse, das Urheberrecht, der Schutz der Marke Schweiz («Swissness») sowie geografische Herkunftsangaben. Letztere decken ein breites Spektrum ab – vom Gruyère-Käse bis hin zur freiburgischen Birnensorte Poire à Botzi, womit wir wieder bei Ihrem Garten wären. Die Themenpalette in Handelsabkommen wird durch neuere Bereiche ergänzt, die auch in Schweizer Abkommen enthalten sind. Zum Beispiel zur nachhaltigen Entwicklung oder für KMU (siehe Kasten).
Mehrdimensional denken
Staaten besiegeln Handelsabkommen durch internationale Unterzeichnungs- und interne Genehmigungsprozedere. Nachdem Indien und die Efta die Verhandlungen abgeschlossen hatten, wurde das Abkommen juristisch bereinigt und auf Ministerstufe unterzeichnet. Das Abkommen kann in Kraft treten, nachdem die aktuell laufenden internen Genehmigungsprozedere in allen Vertragsparteien abgeschlossen sind. In der Schweiz kommen für die Genehmigung die eidgenössischen Räte zum Zug, optional das Schweizer Stimmvolk, sollte das fakultative Referendum ergriffen werden.
Davor wird intensiv und thematisch vielfältig verhandelt. Beim Abkommen Efta – Indien etwa in elf Expertengruppen von A wie Arbeitsfragen bis Z wie Zölle. Die Gespräche sind in Runden und Zwischenrunden aufgeteilt. Chefunterhändler und Chefunterhändlerinnen sind die Taktgeber für die Gespräche und nehmen sich in kritischen Phasen direkt der Knacknüsse an, teils auch unter Involvierung ranghöherer Personen bis auf Ministerstufe. Je nach Verhandlungsstand und Bedarf an informellen Gesprächen finden die Treffen virtuell oder persönlich statt.
Die Verhandlungsmaschinerie muss nicht nur gut geölt, sondern auch politisch fein kalibriert sein: Zeitfenster für einen Abschluss können sich wegen nationaler Wahlen zügig öffnen und wieder schliessen, wie dies bei Indien der Fall war, wo kurzfristig die Parlamentswahlen 2024 anberaumt wurden.
Die Teams müssen zudem mehrdimensional denken: Während sie am Verhandlungstisch mit dem Partnerstaat verhandeln, müssen sie stets das innenpolitische Mandat und die Anspruchsgruppen im Hinterkopf behalten. Bei der Schweiz kommt hinzu, dass sie meist nicht allein verhandelt, sondern im Rahmen der Efta. Entsprechend muss die Position der Schweiz immer auch mit allen anderen Efta-Staaten abgestimmt werden.
Das Handelsnetz der Schweiz ist dicht (Stand: August 2024)
Efta: Klein, aber fein
Doch wieso verhandelt die Schweiz ihre Handelsabkommen eigentlich als Mitglied der Efta? Die Efta wurde 1960 von sieben Mitgliedsstaaten gegründet. Neben der Schweiz waren das Dänemark, Norwegen, Österreich, Portugal, Schweden und das Vereinigte Königreich. Das Ziel der Efta war es, den Handel zwischen den Mitgliedsstaaten zu liberalisieren und eine Integrationsbrücke zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), dem Vorläufer der EU, zu schlagen.
War der Fokus der Efta ursprünglich auf Europa gerichtet, begann sie sich in den 1990er-Jahren gegenüber Partnern weltweit zu öffnen. Nachdem die Schweiz als einziges der verbleibenden Efta-Mitglieder – Island, Liechtenstein und Norwegen – nicht dem Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) beigetreten war, akzentuierte sich dieser Fokus.
Heute verfügt die Schweiz über ein dichtes Netzwerk von 35 unterzeichneten Handelsabkommen mit 45 Partnern ausserhalb der EU und der Efta (siehe Abbildung). Das Gros davon hat sie im Rahmen der Efta verhandelt. Die vier agilen und offenen Efta-Volkswirtschaften schaffen es, Abkommen weltweit abzuschliessen, damit Türen für strategische Partnerschaften zu öffnen und ihre Unternehmen international zu positionieren. Vorteile gemeinsamer Verhandlungen sind die erhöhte Marktgrösse, die grössere Verhandlungsmasse sowie die geteilten Ressourcen und Expertisen.
Der Mehrwert von Handelsabkommen sollte nicht unterschätzt werden, gerade in Zeiten, in denen Grossstaaten stärker auf den eigenen Garten schauen, diesen industriepolitisch gestalten und protektionistisch abschotten. Doch auch die Schweiz muss im Rahmen ihrer liberalen Aussenwirtschaftspolitik überlegen, wie sie ihr Handelsnetz ausbauen, ihre Wirtschaft wettbewerbsfähig und den Garten grün halten kann.
Zitiervorschlag: Wüthrich-Bovet, Simon (2024). Handelsabkommen sind ausgefeilte Partnerschaftsverträge. Die Volkswirtschaft, 10. September.
Nachhaltigkeitsbestimmungen sollen sicherstellen, dass Verpflichtungen aus internationalen Umwelt- und Arbeitsübereinkommen – etwa das Pariser Klimaabkommen – gewährleistet sind und dass sich die Staaten für nachhaltige Handels- und Investitionsflüsse engagieren. Im Abkommen mit Indonesien konnte so beispielsweise ausgehandelt werden, dass Palmöl oder Palmkernöl nur dann in die Schweiz zu Präferenz-Zollansätzen importiert werden kann, wenn ein Nachhaltigkeitsnachweis erbracht wird. Eine Premiere für die Schweiz.
Zudem sollen die digitalen Rahmenbedingungen für den Handel gestärkt werden. Beispielsweise durch die papierlose Zollabwicklung sowie die Förderung elektronischer Zahl- und Rechnungssysteme. Für KMU gibt es meist gezielte Massnahmen, um ihnen die Nutzung von Handelsabkommen zu erleichtern. Das geschieht beispielsweise über die Verpflichtung, handelsrelevante Informationen online gebündelt zur Verfügung zu stellen, sowie durch Kooperationsbestimmungen.