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Zwischen Ost und West: Indiens geopolitischer Spagat

Seit der Unabhängigkeit 1947 hat sich Indiens Politik immer wieder neu erfunden. Wer ist dieses bevölkerungsreichste und wirtschaftlich aufstrebende Land? Eine historische Spurensuche.
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Komplexe Beziehung: Zwar sucht Indien die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit China, positioniert sich gleichzeitig aber auch als Gegenpol. (Bild: Keystone)

Als «grösste Demokratie der Welt», «natürlicher Verbündeter des Westens» und zunehmend als «wichtiger Handelspartner» – so wird Indien wahlweise vorgestellt. Doch seine Rolle auf der globalen Bühne ist weitaus vielschichtiger: Seit 1947 – dem Jahr der Unabhängigkeit von der britischen Kolonialherrschaft – verfolgt Indien eine Politik der strategischen Autonomie, die entgegen westlichen Erwartungen oft eigene Wege geht.

Tatsächlich hat sich Indiens Engagement in der Weltwirtschaft und der Aussenpolitik im Laufe der Geschichte immer wieder gewandelt: von Jawaharlal Nehru, dem ersten Premierminister der jungen, unabhängigen Nation, über die wirtschaftliche Liberalisierung um die Jahrtausendwende bis zur heutigen hindunationalistischen Politik Narendra Modis. Immer wieder lavierte das Land zwischen wirtschaftlicher Öffnung und dem Schutz eigener Interessen; zwischen der Annäherung an westliche Verbündete und der Pflege der Beziehungen zu autoritären Regimes. Dieser Balanceakt dauert bis heute an und prägt Indiens Position in der Welt.

1947–1991: Nehrus neutrale Selbstversorgung

Nach der Unabhängigkeit 1947 prägte Jawaharlal Nehru Indiens Wirtschafts- und Aussenpolitik nach zwei Prinzipien: der Selbstversorgung und der Blockfreiheit. Die Blockfreien-Bewegung, der auch Ägypten und das damalige Jugoslawien angehörten, wollte sich im Kalten Krieg neutral verhalten. Wirtschaftlich übersetzten sich diese beiden Prinzipien in eine Strategie der Importsubstitution, gekennzeichnet durch hohe Zölle, strenge Importquoten und eine starke staatliche Kontrolle von Schlüsselindustrien wie der Stahlindustrie, dem Maschinenbau, der Chemieindustrie und der Automobilproduktion. Ziel war es, eine vielfältige industrielle Basis aufzubauen und die Abhängigkeit von ausländischen Importen zu verringern.

Auf diesem Weg versuchte Indien seine politische Unabhängigkeit während des Kalten Kriegs zu wahren. Diese Haltung des «Non-Interventionismus» ermöglichte es Indien, sich aus internationalen Konflikten herauszuhalten und sich auf seine eigenen Entwicklungsziele zu konzentrieren. Gleichzeitig vermied es so eine Verstrickung in die Rivalitäten der Supermächte. Doch die wirtschaftlichen Herausforderungen der 1980er-Jahre – insbesondere die hohe Verschuldung, steigende Inflationsraten und ein wachsendes Handelsdefizit – führten in Indien zu einem Umdenken und läuteten eine neue Ära der wirtschaftlichen Reformen und der Öffnung gegenüber internationalen Märkten ein.

1991–2014: Indien öffnet sich der Welt

Eine schwere Zahlungsbilanzkrise im Jahr 1991 zwang Indien zu einer Neuausrichtung seiner Wirtschaftspolitik. Damals stand das Land kurz vor dem finanziellen Kollaps und war gezwungen, beim Internationalen Währungsfonds (IWF) um Hilfe zu bitten. Unter der Führung des damaligen Finanzministers Manmohan Singh, der später auch Premierminister wurde, leitete Indien weitreichende Wirtschaftsreformen ein. Dazu gehörten die Liberalisierung des Handels, die Öffnung für ausländische Investitionen und die Deregulierung verschiedener Sektoren wie etwa der Telekommunikation, der Luftfahrt und der Versicherungswirtschaft.

Die Auswirkungen dieser Reformen waren tiefgreifend. Indiens Anteil am Welthandel und die ausländischen Direktinvestitionen stiegen deutlich an. Das Land erlebte in den 2000er-Jahren ein beschleunigtes Wirtschaftswachstum mit Raten von über 8 Prozent (siehe Abbildung). Die Liberalisierung brachte jedoch auch Herausforderungen mit sich. Sie machte Indien anfälliger für globale Wirtschaftsschocks und verschärfte die sozioökonomischen Ungleichheiten. Die rasche Urbanisierung und wirtschaftliche Umstrukturierung führten zu sozialen Spannungen und regionalen Disparitäten. Ein Beispiel dafür ist die zunehmende Kluft zwischen den prosperierenden IT-Zentren wie Bangalore und den ländlichen Regionen, die zunehmend von der wirtschaftlichen Entwicklung abgehängt wurden.

Indiens wirtschaftlicher Aufstieg (1960–2023)

INTERAKTIVE GRAFIK
Quelle: Weltbank / Die Volkswirtschaft

Die wirtschaftliche Liberalisierung hatte auch weitreichende geopolitische Auswirkungen. Indiens zunehmende Integration in die Weltwirtschaft führte zu engeren Beziehungen zum Westen, insbesondere zu den Vereinigten Staaten. Ein Beispiel ist das Indien-USA-Nuklearabkommen von 2008, das eine bedeutende Verschiebung von Indiens aussenpolitischer Orientierung markierte. Indien, das seit 1974 offiziell eine Atommacht ist, wurde zunehmend zum strategischen Verbündeten des Westens.

Modis autoritärer Nationalismus

Mit Narendra Modis Wahlsieg 2014 begann eine neue Ära in Indiens Wirtschafts- und Aussenpolitik. Einerseits verfolgte die Regierung unter der Führung der rechtskonservativen BJP-Partei mit Initiativen wie «Make in India» einen nationalistischeren Kurs, um die heimische Produktion und Beschäftigung zu stärken und Importe zu reduzieren. Andererseits trieb Modi die Liberalisierung voran, etwa durch Sonderwirtschaftszonen (SEZ), die Investitionen und Exporte ankurbeln sollten. In den SEZ werden keine Zölle erhoben. Die dortigen Unternehmen haben freien Zugang zum indischen Binnenmarkt und profitieren von temporären Steuervergünstigungen sowie weiteren Ausnahmeregelungen.

Diese Massnahmen zeigten Wirkung: Das Wirtschaftswachstum beschleunigte sich von durchschnittlich 4,5 Prozent in den Jahren 2000 bis 2013 auf durchschnittlich 5,76 Prozent zwischen 2014 und 2022. Doch diese Politik ist umstritten: Kritiker beanstanden Landenteignungen, eine Aufweichung von Arbeits- und Umweltstandards sowie eine Begünstigung von Industriemagnaten wie Gautam Adani. Sie argumentieren, diese Bevorzugung einiger weniger Konzerne könnte den Wettbewerb verzerren, Monopole schaffen und den Wohlstand in den Händen einer kleinen Elite konzentrieren.

Ein Gegenpol zu China

Während die Ära der Liberalisierung der frühen 2000er-Jahre Indien näher an den Westen heranführte, ist die geopolitische Strategie unter Modi komplexer geworden. Die zunehmende Integration in die Weltwirtschaft und die engeren Beziehungen zum Westen bilden zwar weiterhin wichtige Pfeiler der indischen Aussenpolitik. Doch das zunehmend selbstbewusste Auftreten Chinas in der Region wird immer zentraler. Indien positioniert sich verstärkt als Gegenpol zu China und strebt eine wichtigere Rolle im Indo-Pazifik-Raum an. Beide Länder konkurrieren dort um Einfluss – sei es durch Infrastrukturinitiativen oder verstärktes Engagement in Afrika oder Südostasien. Der anhaltende Grenzkonflikt und die Handelsstreitigkeiten mit China haben die Beziehungen zusätzlich belastet.

In diesem komplexen geopolitischen Kontext verfolgt Indien eine vielschichtige Strategie: Einerseits sucht es die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit China in Bereichen des gemeinsamen Interesses. Beispielsweise kooperieren die beiden Länder im Rahmen der Asian Infrastructure Investment Bank (AIIB) und bei Projekten zur Verbesserung der erneuerbaren Energien. Andererseits baut es die strategischen Partnerschaften mit westlichen Ländern wie den USA, Japan und Australien weiter aus, um ein Gegengewicht zu Chinas Einfluss zu schaffen, so etwa beim quadrilateralen Sicherheitsdialog – kurz Quad.

Gleichzeitig stärkt Indien als Brics-Mitglied seine Beziehungen zu anderen aufstrebenden Mächten und hält trotz des Angriffskriegs in der Ukraine an seiner traditionellen Partnerschaft mit Russland fest. Dies zeigt sich etwa in fortgesetzten Ölimporten und der Zusammenarbeit in der Waffenproduktion. Diese multidimensionale Aussenpolitik reflektiert Indiens Bestreben, seine Rolle als strategischer Verbündeter des Westens mit seiner historischen Blockfreiheit und dem Wunsch nach strategischer Autonomie in Einklang zu bringen.

Kritik an Modis Politik

Trotz wirtschaftlicher und geopolitischer Erfolge hat Modis Amtszeit auch wachsende Bedenken hinsichtlich autoritärer Tendenzen hervorgerufen. Kritiker verweisen auf Einschränkungen der Pressefreiheit, den problematischen Umgang mit religiösen Minderheiten und die zunehmende Zentralisierung der Macht. Die Aufhebung des Sonderstatus für den Bundesstaat Jammu und Kashmir im Jahr 2019 wurde als Schritt zur Unterdrückung der mehrheitlich muslimischen Bevölkerung gesehen. Diese Entwicklungen beeinträchtigen Indiens internationales Ansehen als Demokratie und unterstreichen die Komplexität von Indiens Aufstieg.

Für Länder, die mit Indien interagieren, einschliesslich der Schweiz und anderer Efta-Staaten, ist das Verständnis dieser komplexen Natur Indiens entscheidend. Es ermöglicht ihnen, die Chancen und Risiken in den Beziehungen zu Indien besser einzuschätzen und eine ausgewogene Strategie zu entwickeln, die sowohl wirtschaftliche Interessen als auch demokratische Werte berücksichtigt.

Zitiervorschlag: Kapoor, Shrey (2024). Zwischen Ost und West: Indiens geopolitischer Spagat. Die Volkswirtschaft, 06. September.