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Die Schweiz blickt in Richtung Weltraum

Der Raumfahrtsektor entwickelt sich rasant, angetrieben durch eine beispiellose Innovationswelle. Wer am Aufschwung teilhaben will, benötigt Risikokapital und Fachkräfte. Auch die Institutionen werden sich neu erfinden müssen, allen voran die Europäische Weltraumagentur.
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Die Europäische Weltraumagentur simuliert die Mondumgebung in ihrer Luna-Anlage im Europäischen Astronautenzentrum in Köln. (Bild: Keystone)

Das Engagement der Schweiz für das Abenteuer Raumfahrt hat eine lange Geschichte. 1969 entwickelte die Universität Bern für die Apollo-11-Mission, die im selben Jahr zum ersten Mal auf dem Mond landen sollte, ein Instrument, das im Rahmen des «Solar Wind Composition Experiment» die Zusammensetzung des Sonnenwinds analysierte. Das mit dem Schweizer Kreuz versehene Instrument wurde noch vor der amerikanischen Flagge in den Mondboden gesteckt – ganz im Dienste der Wissenschaft.

Im April 2024 unterzeichnete Bundesrat Guy Parmelin für die Schweiz das Artemis-Abkommen[1] mit den USA und 35 weiteren Unterzeichnerstaaten, darunter zahlreiche Mitgliedsländer der Europäischen Weltraumagentur (ESA). Die Schweiz bekräftigte damit ihren Willen, an der internationalen Erforschung des Weltraums mitzuwirken – insbesondere von Mond und Mars.

Seit den Schritten des ersten Menschen auf dem Mond hat sich die Raumfahrtbranche stark verändert. Wieso sind die USA in diesem Bereich heute so dominant? Und wie können Europa und die Schweiz diesen Rückstand aufholen?

«New Space» in den USA

In den letzten 20 Jahren ist der US-Raumfahrtsektor in ein Zeitalter des «New Space» eingetreten. Dieses zeichnet sich durch viele neue Akteure und Geschäftsmodelle aus. Neue Unternehmen wie etwa Spacex vermarkten Trägerraketen, oder sie bieten wie Planet kostengünstig Erdbeobachtungsbilder an, beispielsweise zur Überwachung von Pflanzenkulturen oder Logistikketten. Die Branche ist heute offen für kommerzielle Innovationen – vorwiegend von Start-ups. Deshalb mussten sich traditionelle Akteure wie Boeing und Ariane neu positionieren.

Dank der Innovationskraft und der Unterstützung der US-Raumfahrtbehörde Nasa, die das Innovationspotenzial der neuen Akteure optimal zu nutzen versucht, haben sich die Prozesse in der Branche fundamental verändert. Das gilt insbesondere beim Testen, Optimieren und Verbreiten von Innovationen. Das Ergebnis sind massiv günstigere Stückkosten für Produktion und Betrieb.

Im Raumfahrtsektor, wo früher technologische Überlegungen höher gewichtet wurden als wirtschaftliche, lässt sich eine sogenannte Innovatisierung[2] beobachten: Inzwischen entwickelt sich die Branche nämlich zu einem innovationsorientierten Sektor, wo wirtschaftliche Aspekte wie die Schaffung neuer Märkte, die Vermarktung neuer Produkte oder Kostensenkungen zentral sind.

Europa bei Patentanmeldungen im Rückstand

Trotz Start-ups und eines dynamischen Ökosystems von Unternehmen und Investoren ist der europäische Raumfahrtsektor deutlich weniger leistungsfähig und innovativ als jener in den USA. Das zeigt sich insbesondere beim Vergleich der Patentanmeldungen in Europa und den USA (siehe Abbildung 1). Seit über 40 Jahren haben die USA systematisch mehr Patente im Bereich Raumfahrt angemeldet als Europa, mit Ausnahme des Jahres 2009. Seit 2012 hat sich dieser Trend nochmals verschärft, auch wenn die Zahl der Anmeldungen beidseits des Atlantiks insgesamt schneller gewachsen ist.

Abb. 1: Patentanmeldungen: Seit 2012 vergrössert sich die Kluft zwischen Europa und den USA

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Quelle: Patstat 2021, Chavy-Macdonald et al (2023) / Die Volkswirtschaft

Schwierige Kapitalbeschaffung in Europa

Der Rückstand Europas kommt auch in den Finanzierungsproblemen von Raumfahrtunternehmen zum Ausdruck. Denn in den USA werden wesentlich höhere Summen investiert, auch wenn der Trend in Europa seit Anfang der 2010er-Jahre nach oben zeigt und die symbolische Grenze von jährlich 100 Millionen Dollar seit 2016 jedes Jahr überschritten worden ist (siehe Abbildung 2). Die Finanzierung gehört zu den Hauptproblemen der europäischen Raumfahrtunternehmen, die für ihr Wachstum auf umfangreiche Finanzmittel angewiesen sind.

Abb. 2: Schwierige Kapitalbeschaffung für europäische Raumfahrtunternehmen (2000–2019)

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Anmerkung: Das Unternehmen Oneweb ist in der Abbildung nicht berücksichtigt. Die Abbildung basiert auf Daten von Pitchbook zur Kategorie Raumfahrttechnologien. Die Autoren haben für die Analyse eine enge Definition der Branche gewählt, um einen aussagekräftigen Vergleich zwischen den USA und Europa zu ermöglichen. Enthalten sind auch Beiträge, welche die Start-ups von öffentlichen Einrichtungen erhalten.
Quelle: Pitchbook 2023, Chavy-Macdonald et al (2023) / Die Volkswirtschaft

 

Auffallend ist die ähnliche Entwicklung von Patenten und Investitionen von Raumfahrt-Start-ups. Beide Kurven zeigen um die Jahre 2011 und 2012, als die Innovatisierung einsetzte, einen deutlichen Knick nach oben.

Europa ins Zeitalter des «New Space» führen

Ein Grund für den Rückstand Europas bei den Raumfahrtinnovationen ist insbesondere eine strukturelle Schwäche beim Zugang zu Wachstumskapital (ab Series-B-Finanzierungen). Das zeigt die Analyse der erwähnten Daten sowie der Informationen aus Workshops mit Schlüsselpersonen aus dem europäischen Raumfahrtsektor.[3]

Ausserdem erschweren bürokratische und politische Hürden, die sich aus dem Auftrag der ESA ergeben, eine Zusammenarbeit mit der Raumfahrtbehörde. Zum Beispiel wendet die ESA das Prinzip des «geografischen Rückflusses» an. Dabei erhält jedes Mitgliedsland ein Auftragsvolumen, das im Verhältnis zu seinen Beitragszahlungen steht. Dies bedeutet jedoch, dass nationale Wettbewerbsvorteile ausgeblendet und die Aufträge nicht aufgrund der spezifischen Kompetenzen der einzelnen Länder vergeben werden.

Wo steht die Schweiz?

Dank eines effizienten Innovations-Ökosystems, insbesondere zu Beginn eines Start-up-Zyklus, sind die Schweizer Unternehmen im Raumfahrtsektor sehr dynamisch. Beispiele sind die jüngsten Erfolge von Swissto12, das innovative Hochfrequenz-Kommunikationssysteme für Satelliten herstellt, sowie der Auftrag der ESA an Clearspace zur Beseitigung von Weltraumschrott.

Aber auch Schweizer Unternehmen haben mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Gemäss einer Studie[4] des Center for Aviation and Space Competence (CFAC) der Universität St. Gallen haben sie – ähnlich wie die europäischen Unternehmen – Mühe, Wachstumskapital zu beschaffen, mit dem sie ihre Produktion skalieren und ihre Produkte und Dienstleistungen erfolgreich vermarkten können. Dieses Problem ist im Raumfahrtbereich besonders ausgeprägt. Grund dafür sind die Kosten und die Dauer der Technologieentwicklungszyklen sowie die begrenzten Ausstiegsmöglichkeiten für Investoren, die ihre Anteile weiterverkaufen und Wertsteigerungen von Investitionen realisieren wollen. Bei gewissen Unternehmen kommt der schwierige Nachweis eines soliden Geschäftsmodells hinzu.

In den USA spielt die Nasa eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung von Start-ups. Beispielsweise indem sie neue Formen der Kooperation anbietet, die zum Beispiel den Zugang zu ihrer Infrastruktur oder ihrem Personal erleichtern, oder indem die Nasa als Erstkunde auftritt (etwa durch den Abschluss von Dienstleistungsverträgen). Die Unternehmen erhalten so gewisse Absatzgarantien und die Möglichkeit, Vertrauen in ihre neu geschaffenen Kapazitäten aufzubauen. Die ESA könnte sich an diesem Modell orientieren. Sie ist für die Umsetzung der Industriepolitik im Raumfahrtbereich in Europa zuständig und besitzt Schlüsselinfrastrukturen, die auch für Schweizer Start-ups von Interesse sind. Dadurch könnten Start-ups ihre Fixkosten für die Entwicklung neuer Produkte und Dienstleistungen senken und so die Rentabilität ihrer Projekte verbessern.

Der Personalbedarf stellt eine weitere Hürde für den Schweizer Raumfahrtsektor dar. Zwar werden an den Hochschulen in Bereichen wie Nanosatelliten und Kleinraketen vielfältige Studierendenprojekte durchgeführt, die eine von der Industrie geschätzte praktische Ausbildung bieten. Doch ein Diplom im Bereich Luft- und Raumfahrttechnik gibt es in der Schweiz nicht. Vielversprechend ist immerhin das Engagement der ETH Zürich, die im Herbstsemester 2024 erstmals einen Masterstudiengang für Weltraumwissenschaft und -technologie anbietet.

Auch der Unternehmergeist könnte an den Hochschulen durch die Zusammenarbeit zwischen Studierenden verschiedener Fachrichtungen gefördert werden. Das gilt insbesondere bei Raumfahrtprojekten, die bislang von Ingenieurwissenschaftlern dominiert werden. Würde man diese Forschungs- und Entwicklungsprojekte für Studierende anderer Disziplinen öffnen, wie etwa Betriebswirtschaft und Management, und ihnen ermöglichen, in Leitungsgremien mitzuwirken, würde dies allen zugutekommen. Denn so könnten aus solchen Projekten richtige Kleinunternehmen werden.

  1. Weitere Informationen zu den Artemis-Abkommen auf Nasa.gov. []
  2. Siehe Cornet et al. (2023). []
  3. Siehe Chavy-Macdonald et al. (2023). []
  4. Siehe Cornet et al. (2024). []

Literaturverzeichnis
  • Chavy-Macdonald, M.A, B. Cornet, G. Pellegrino und D. Foray (2023). Benchmarking European NewSpace. Schlussbericht für die ESA, Anhänge A, C, E. CFAC, Universität St. Gallen.
  • Cornet, B., M. A. Chavy-Macdonald und D. Foray (2023). Defining –«Innovatization»: the Case of NewSpace and the Changing Space Sector. CFAC, Working Paper Series, 2023.
  • Cornet, B., M.A. Chavy-Macdonald und D. Foray (2024). Driving Swiss Space Towards Innovatization. Bericht für das Swiss Space Office, Teilprojekt NARV REF-1131-61001: NewSpace, an Innovatization of the Space Sector – What Lessons for Public Policy? Universität St. Gallen

Bibliographie
  • Chavy-Macdonald, M.A, B. Cornet, G. Pellegrino und D. Foray (2023). Benchmarking European NewSpace. Schlussbericht für die ESA, Anhänge A, C, E. CFAC, Universität St. Gallen.
  • Cornet, B., M. A. Chavy-Macdonald und D. Foray (2023). Defining –«Innovatization»: the Case of NewSpace and the Changing Space Sector. CFAC, Working Paper Series, 2023.
  • Cornet, B., M.A. Chavy-Macdonald und D. Foray (2024). Driving Swiss Space Towards Innovatization. Bericht für das Swiss Space Office, Teilprojekt NARV REF-1131-61001: NewSpace, an Innovatization of the Space Sector – What Lessons for Public Policy? Universität St. Gallen

Zitiervorschlag: Chavy-Macdonald, Marc-André; Cornet, Benoit; Foray, Dominique; Puls, René (2024). Die Schweiz blickt in Richtung Weltraum. Die Volkswirtschaft, 01. Oktober.