Die Schweiz ist nicht G-20-Mitglied – und doch ist sie dabei
2013 konnte die Schweiz erstmals als Gast am G-20 Finance Track teilnehmen. Die damalige Finanzministerin Eveline Widmer-Schlumpf. (Bild: Keystone)
Die Gruppe der 20, besser bekannt als G-20, existiert seit 1999. Sie begann als ein informeller Zusammenschluss der Finanzminister und Zentralbankgouverneure 19 führender Industrie- und Schwellenländer sowie der EU. Im sogenannten Finance Track stimmt sich die Gruppe in internationalen Wirtschafts- und Finanzfragen ab. Sichtbarer wurde die G-20 ab 2008, als sie um ein jährliches Gipfeltreffen auf Stufe der Staats- und Regierungschefs (L-20) erweitert wurde und immer mehr Themen, von Klimawandel bis Korruptionsbekämpfung, im übergeordneten Sherpa Track behandelt wurden.
Der informelle Charakter der G-20 war seit Anbeginn bewusst gewählt: Die Gründung war eine Reaktion auf das Versagen bestehender multilateraler Strukturen wie der Welthandelsorganisation (WTO), dem Internationalen Währungsfonds (IWF) oder der UNO. Nach mehreren Finanz- und Wirtschaftskrisen waren die führenden Industriemächte zum Schluss gekommen, dass informelle Zusammenschlüsse effizienter sind, um eine koordinierte und dadurch effektivere Antwort auf diese Herausforderungen geben zu können.
Vorgängerorganisationen mit Legitimitätsproblem
Ursprünglich war es die Gruppe der 6 (G-6), die 1975 eine abgestimmte Antwort auf die Öl- und Finanzkrise geben wollte. Ihre Mitglieder waren die damalige Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, Japan, die USA und Grossbritannien. 1976 folgte auch Kanada, womit die G-7 entstand. Doch die Gruppe hatte ein Problem: Die Peso-Krise 1994, die asiatische Finanzkrise 1997 und die Rubelkrise 1998 zeigten, dass reiche Industrieländer allein die globalen Wirtschafts- und Finanzstrukturen nicht stabilisieren und auch nicht nachhaltig verbessern können. Die graduelle Integration Russlands – noch unter Präsident Boris Jelzin – ab 1997 zu einer neuen G-8-Struktur erfolgte mit der Begründung, einen weiteren «grossen demokratischen Industriestaat» einzubeziehen.[1] Bei Finanz- und Wirtschaftsthemen wurde Russland die Mitwirkung verwehrt, hier blieb unverändert die Struktur der G-7 – neben der neuen politischen G-8 – bestehen.[2]
1999 entschieden die G-7-Finanzminister und Zentralbankgouverneure unter dem Vorsitz Deutschlands, dass die Zeit reif sei für eine Erweiterung um «systemrelevante Volkswirtschaften»[3]: Es war die Geburtsstunde des «G-20 Finance Track».[4] Die Auswahl der neuen G-20-Mitglieder wurde bereits im April 1999 durch die Finanzminister der USA und Kanadas festgelegt. Dabei war die wirtschaftliche Grösse (BIP) jedoch nicht allein ausschlaggebend. Persönliche Präferenzen, eine globale geografische Diversität und die politische Bedeutung der Länder spielten ebenso eine Rolle.[5] Die runde Zahl 20 sollte zudem die Endgültigkeit der Gruppenzusammensetzung signalisieren. Die Mitgliedschaft blieb unverändert bis 2023, als die Afrikanische Union als permanentes Mitglied aufgenommen wurde.
Mit der Etablierung der G-20 sollten die neuen Mitgliedsstaaten ein Gleichgewicht zwischen den wichtigsten Industrie- und Schwellenländern schaffen (siehe Kasten). Die Überrepräsentation Europas stand daher einer Schweizer Mitgliedschaft im Weg. Es nützte folglich nichts, dass die Schweiz ein Jahr vor der G-20-Gründung laut nominalem BIP zu den 20 grössten Volkswirtschaften der Welt gehörte (siehe Abbildung).[6] Erschwerend kam hinzu, dass 2008, bei der Gründung des G-20 Leaders’ Summit (L-20), die USA, Deutschland und Frankreich aufgrund des Steuerstreits nicht gut auf die Schweiz zu sprechen waren.
Im Jahr 1999, bei der Gründung der G-20, gehörte die Schweiz zu den 20 grössten Volkswirtschaften
Bundesrat verabschiedet G-20-Strategie
Mit der Finanzkrise 2008 sowie dem zweiten Leaders’ Summit in Grossbritannien 2009 wurde die G-20 in der Schweizer Öffentlichkeit zum Thema: In London wurde der Beschluss gefasst, die von der OECD erstellte Liste jener Länder zu veröffentlichen, welche in Bezug auf die Steuerpolitik als nicht kooperativ galten. Einige G-20-Länder hatten im Vorfeld dafür gesorgt, dass ihre eigenen Steueroasen von der Liste gestrichen wurden.[7] So etwa die Isle of Man, Jersey oder Macau. Die Schweiz hingegen wurde auf dieser «grauen Liste» aufgeführt, ohne durch die OECD über deren Erstellung informiert worden zu sein.[8]
In der Folge nahm der Bundesrat eine Neubewertung der G-20, die sich unterdessen als das wichtigste Forum für wirtschaftliche Zusammenarbeit bezeichnete, vor und verabschiedete 2010 eine G-20-Strategie. Fortan sollte sich die Schweiz proaktiv zu den Schwerpunkten der G-20-Agenda positionieren. Ebenso sollte Bern in den internationalen Organisationen, welche Mandate der G-20 erhalten, seinen Einfluss geltend machen. Zu diesen Organisationen gehört neben dem IWF und der Weltbank auch das Financial Stability Board (FSB) mit Sitz bei der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) in Basel.[9] Weitere Massnahmen aus dieser Strategie waren die Schaffung einer interdepartementalen Arbeitsgruppe (IDAG20) und das Engagement bei der informellen Global Governance Group («3G»), die sich seit 2009 für einen stärkeren Dialog zwischen der G-20 und der UNO sowie einen besseren Einbezug von Nichtmitgliedern einsetzt. Zudem hat die Schweiz die bilateralen Beziehungen zu den G-20-Mitgliedsländern intensiviert.
Als Gaststaat am Tisch
Die Bemühungen fruchteten, als Frankreich im Jahr 2011 die G-20-Präsidentschaft innehatte. Damals wurde der Schweiz erstmals die Teilnahme am L-20-Vorbereitungsprozess zur Reform des internationalen Finanzsystems ermöglicht. Zum Gipfeltreffen in Cannes wurde die Eidgenossenschaft aber nicht eingeladen. Erst 2013 konnte sie, unter russischem Vorsitz, erstmals als Gastland am G-20 Finance Track teilnehmen.[10]
Dank aktiver Bemühungen ist es seit 2016 jedes Jahr gelungen, zum Finance Track eingeladen zu werden – ein Arrangement, mit dem sich auch der Bundesrat zufriedengab. Unerwartet konnte die Schweiz unter der Präsidentschaft Saudi-Arabiens im Jahr 2020 zum ersten und bisher einzigen Mal am gesamten Prozess (Finance und Sherpa Track inklusive Leaders’ Summit) teilnehmen, was sich allerdings als ein ressourcenintensives Privileg herausstellte.
Die Schweiz scheint eine auf ihre Interessen zugeschnittene Antwort auf die formale Nichtmitgliedschaft bei der G-20 gefunden zu haben. Die seit neun Jahren ununterbrochene Teilnahme am Finance Track ist der sichtbarste Beweis dafür. Ein Wermutstropfen bleibt jedoch: Für das Mitwirken beim G-20 Finance Track ist und bleibt die Schweiz letztlich jedes Jahr auf den Goodwill des G-20-Gastgeberstaats angewiesen.
- Siehe Höhmann und Meier (1997). []
- Russlands Teilintegration in die G-8 erfolgte ab 1991 in mehreren Etappen u. a. via G-7+1-Meetings oder die «Politischen 8» (P-8). Denver (USA, 1997) gilt als erster Gipfel der G-8, formalisiert wurde die Aufnahme Russlands 1998 während des G-8-Vorsitzes Grossbritanniens. []
- Siehe Stellungnahme der G-7-Finanzminister und Zentralbankgouverneure vom 25.09.1999. []
- Siehe Pressemitteilung zum ersten Treffen der G-20 Finance am 16.12.1999 in Berlin. []
- Siehe Cooper (2013), S. 38. []
- Ein ähnliches Schicksal wie die Schweiz teilten Spanien, die Niederlande und Schweden, welche ebenso argumentierten, zu den 20 grössten Volkswirtschaften der Welt zu gehören. Mit der Schaffung des L-20 2008 und dem Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags 2009 konnte die EU ihren Einfluss bei der G-20 auf eine Doppelvertretung via Präsidenten des Rats und der Kommission ausbauen. []
- Siehe Kirton, J. J. (2013), S. 278, 286. []
- Die OECD erhielt den Auftrag von der G-20, diese Liste zu erstellen. Die Schweiz wurde darüber nicht informiert, obwohl sie Gründungsmitglied der OECD ist. []
- Die Schweiz ist beim FSB bereits seit 2007 Mitglied und seit 2009 mit zwei Institutionen vertreten: mit der Schweizerischen Nationalbank (SNB) und dem Eidgenössischen Finanzdepartement (EFD). []
- Als Grund für diese Einladung erwähnt der Bund in Medienmitteilungen die guten Beziehungen zu Russland. Umgekehrt verweist Russland auf die Kompetenzen der Schweiz in der Reform des Finanzsystems. []
Literaturverzeichnis
- Braun, M. (2024). Nicht dabei, aber betroffen: Die Nichtmitgliedschaft der Schweiz in der G20: Gründe, Reaktionen und Strategien. (Bachelorarbeit, General Management). ZHAW School of Management and Law, Winterthur.
- Cooper, A. F., Thakur, R. und Thakur, R. C. (2013). The Group of Twenty (G20). Routledge.
- Höhmann, H.-H., & Meier, C. (1997). Russland in internationaler Politik und Wirtschaft. (I): Der «Gipfel der Acht» von Denver. (Aktuelle Analysen / BIOst, 34/1997). Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien.
- Jordan, D. (2011). Die G20 und die Schweiz: Beidseitiger Bedarf des Dialogs. Die Volkswirtschaft, 1. Oktober.
- Kirton, J. J. (2013). G20 Governance for a Globalized World. Routledge.
- Schmid, U. (2023). Jelzins und Putins langsamer Abschied vom Westen. Neue Züricher Zeitung. 11. November (Gastkommentar).
- Spescha, G. (2009). Interview mit Bundespräsident Hans-Rudolf Merz über Bankgeheimnis und OECD-Musterabkommen. Die Volkswirtschaft, 1. Juni.
- Stewart, P. (2024). BRICS Expansion, the G20, and the Future of World Order. Carnegie Endowment. 9. Oktober.
Bibliographie
- Braun, M. (2024). Nicht dabei, aber betroffen: Die Nichtmitgliedschaft der Schweiz in der G20: Gründe, Reaktionen und Strategien. (Bachelorarbeit, General Management). ZHAW School of Management and Law, Winterthur.
- Cooper, A. F., Thakur, R. und Thakur, R. C. (2013). The Group of Twenty (G20). Routledge.
- Höhmann, H.-H., & Meier, C. (1997). Russland in internationaler Politik und Wirtschaft. (I): Der «Gipfel der Acht» von Denver. (Aktuelle Analysen / BIOst, 34/1997). Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien.
- Jordan, D. (2011). Die G20 und die Schweiz: Beidseitiger Bedarf des Dialogs. Die Volkswirtschaft, 1. Oktober.
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- Schmid, U. (2023). Jelzins und Putins langsamer Abschied vom Westen. Neue Züricher Zeitung. 11. November (Gastkommentar).
- Spescha, G. (2009). Interview mit Bundespräsident Hans-Rudolf Merz über Bankgeheimnis und OECD-Musterabkommen. Die Volkswirtschaft, 1. Juni.
- Stewart, P. (2024). BRICS Expansion, the G20, and the Future of World Order. Carnegie Endowment. 9. Oktober.
Zitiervorschlag: Ursprung, Dominique; Braun, Mira (2024). Die Schweiz ist nicht G-20-Mitglied – und doch ist sie dabei. Die Volkswirtschaft, 24. Oktober.
Die Gründungsmitglieder der G-20 sind Argentinien, Australien, Brasilien, China, Deutschland, Frankreich, Grossbritannien, Indien, Indonesien, Italien, Japan, Kanada, Mexiko, Russland, Saudi-Arabien, Südafrika, Südkorea, Türkei, die USA und die EU. Im Rahmen des Gipfels 2023 in Delhi wurde die Afrikanische Union als jüngstes Mitglied aufgenommen.
Vom jährlich wechselnden Vorsitzstaat werden zudem mehrere Gastländer sowie Vertreter regionaler und internationaler Organisationen zu den Gesprächen eingeladen. Auf den Familienfotos der G-20-Summits finden sich daher um die 40 Personen. Obwohl die G-20 immer bedeutender geworden ist, spiegeln sich auch dort die zunehmenden globalen Spannungen. So versucht beispielsweise Russland via Erweiterung der Mitgliedschaft bei den Brics eine Alternative zur G-20 aufzubauen.