Konjunkturneutrale Arbeitslosenquote: Ein Schlüsselindikator für die Arbeitslosenversicherung

Der Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung basiert auf der konjunkturneutralen Arbeitslosenquote. Diese Quote ist unabhängig von der Wirtschaftslage und bleibt deshalb stabil. (Bild: Keystone)
Die Kassen der Arbeitslosenversicherung (ALV) füllen sich bei einem Wirtschaftsaufschwung und leeren sich während einer konjunkturellen Abkühlung. Müsste die ALV jederzeit eine ausgeglichene Rechnung aufweisen, dann wäre der Beitragssatz in wirtschaftlich schlechten Zeiten hoch und während einer Erholung tief – doch das würde die konjunkturellen Schwankungen auf dem Arbeitsmarkt zusätzlich verschärfen. Neben diesem unerwünschten zyklischen Effekt wären häufig wechselnde Beitragssätze zudem mit einem höheren Verwaltungsaufwand verbunden. Aus diesem Grund wird der ALV-Beitragssatz seit der 3. Revision des Bundesgesetzes über die Arbeitslosenversicherung (Avig) im Jahr 2003 auf der Grundlage der konjunkturneutralen Arbeitslosenquote festgelegt. Diese Kennzahl drückt das Risiko aus, arbeitslos zu werden, wenn es keine Konjunkturschwankungen gäbe.
Diese Quote ist zwar stabiler als die in den offiziellen Statistiken erscheinende Arbeitslosenquote, sie kann sich im Laufe der Zeit aber ebenfalls verändern. Dann nämlich, wenn sich die strukturelle oder die friktionelle Arbeitslosigkeit ändert. Die strukturelle Arbeitslosigkeit beschreibt ein Ungleichgewicht zwischen Arbeitsangebot und -nachfrage, das insbesondere dann entsteht, wenn die Arbeitssuchenden ein anderes Profil aufweisen, als in den offenen Stellen gesucht wird. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn es ein Überangebot an Hilfskräften gibt, obwohl auf dem Arbeitsmarkt eigentlich IT-Spezialisten gesucht werden. Die friktionelle Arbeitslosigkeit steht hingegen für den Anteil der Arbeitslosigkeit, die auf unvollständige Informationen zurückzuführen ist und den Arbeitslosen die Stellensuche sowie den Unternehmen die Rekrutierung geeigneter Mitarbeitender erschwert.
Um zu beurteilen, ob die Parameter zur Planung der ALV-Finanzierung weiterhin zutreffen, muss der Wert der konjunkturneutralen Arbeitslosenquote regelmässig überprüft und die mögliche Veränderung über einen längeren Zeitraum bestimmt werden. Deshalb hat das Büro für arbeits- und sozialpolitische Studien (Bass) im Auftrag des Bundes eine Studie zu diesem Thema durchgeführt.[1]
Zwei komplementäre Ansätze
Um die Entwicklung der konjunkturneutralen Arbeitslosenquote in der Schweiz von 2004 bis 2023 zu berechnen, hat das Büro Bass zwei sich ergänzende Ansätze verwendet. In einem ersten Schritt wurde der Wert dieses Indikators mit dem Konzept der «Beveridge-Kurve»[2] geschätzt. Dieser Ansatz beruht auf einer theoretischen Modellierung, aus der eine inverse Beziehung zwischen der Arbeitslosenquote und der Quote der offenen Stellen abgeleitet wird (siehe negativ geneigte Kurven in Abbildung 1). Schneidet man diese Kurve mit einer Geraden, die das historische Verhältnis zwischen der Quote der offenen Stellen und der Arbeitslosenquote misst (siehe ansteigende Geraden in Abbildung 1), kann man für verschiedene Zeiträume eine konjunkturneutrale Arbeitslosenquote schätzen.[3] Gemäss diesem ersten Ansatz lag die konjunkturneutrale Arbeitslosenquote zwischen 2010 und 2020 bei 2,7 Prozent.
Abb. 1: Gemäss dem Ansatz der Beveridge-Kurve lag die konjunkturneutrale Arbeitslosigkeit im Zeitraum 2010–2020 bei 2,7 Prozent
Diese erste Schätzung wurde vom Büro Bass durch eine Analyse ergänzt, welche auf der demografischen Struktur des Arbeitsmarkts basiert. Diese Methode[4] beruht auf der Idee, dass der Arbeitsmarkt in verschiedene Teilmärkte unterteilt werden kann: nach Regionen, Branchen (gemäss der Allgemeinen Systematik der Wirtschaftszweige Noga), Alter, Bildungsstand, Geschlecht und Nationalität der Arbeitssuchenden. Einen solchen Teilmarkt bilden zum Beispiel Personen mit einer Ausbildung auf Sekundarstufe, die zwischen 25 und 49 Jahre alt sind und im Baugewerbe in der Genferseeregion arbeiten. Um daraus die konjunkturneutrale Arbeitslosenquote auf nationaler Ebene zu bestimmen, wurden die langfristigen Werte der Arbeitslosenquoten der einzelnen Teilmärkte unter Verwendung sogenannter statistischer Filtermethoden berechnet und anschliessend gemäss ihrem demografischen Gewicht aggregiert (siehe Abbildung 2).
Abb. 2: Mit dem Ansatz der demografischen Struktur resultiert für die konjunkturneutrale Arbeitslosigkeit im Zeitraum 2010–2020 ein Wert von 2,8 Prozent
Diese beiden Methoden wurden nicht nur auf die Zeitreihe für die Arbeitslosenquote[5] angewendet, sondern auch auf die Reihen zu den Stellensuchenden und Taggeldbezügern – zwei Grössen, die zur Budgetierung der ALV verwendet werden. Um die erhobenen Daten besser vergleichen zu können, wurden die Arbeitslosenzahlen so bereinigt, dass sie die 2018 eingeführten Änderungen bei der Erfassung der beruflichen Situation der Arbeitssuchenden widerspiegeln.[6]
Konjunkturneutrale Arbeitslosenquote stabil
Die beiden oben beschriebenen Methoden liefern übereinstimmende Ergebnisse zur Entwicklung der konjunkturneutralen Arbeitslosenquote: Diese scheint sich während eines Grossteils des Analysezeitraums relativ stabil entwickelt zu haben. Zwischen 2010 und 2020 (Zeitraum nach der globalen Wirtschaftskrise und vor Covid-19) betrug sie 2,8 Prozent (bzw. 2,7 Prozent, je nach Methode). Diese Zahl liegt nicht nur sehr nahe bei der Schätzung für den vorangehenden Zeitraum von 2004 bis 2009, sondern stimmt auch mit dem Wert überein, der bei der Budgetierung der ALV aktuell tatsächlich verwendet wird. Weniger eindeutig sind die Ergebnisse für die Zeit nach Covid-19 (2020–2023): Hier deuten die Schätzungen darauf hin, dass die langfristige Arbeitslosenquote seit dem Ende der Pandemie zurückgegangen sein könnte. Dieses Ergebnis ist jedoch mit Vorsicht zu geniessen, da aufgrund des geringen zeitlichen Abstands noch nicht beurteilt werden kann, ob der aktuelle Konjunkturzyklus bereits abgeschlossen ist oder nicht. Für die alternativen Arbeitsmarktindikatoren – die Stellensuchenden und die Taggeldbezüger – resultieren ähnliche Ergebnisse.
Ein weiteres Studienziel war es, herauszufinden, ob die ALV derzeit einen «strukturellen» Überschuss oder ein «strukturelles» Defizit aufweist. Dazu wurde geschätzt, wie die finanzielle Situation der Arbeitslosenversicherung im Jahr 2023 bei einer konjunkturneutralen Arbeitslosenquote ausgesehen hätte. Diese Berechnung basiert auf der zuvor durchgeführten Schätzung der konjunkturneutralen Arbeitslosenquote und auf Schätzungen zu den langfristigen Werten für die Kosten und Einnahmen der ALV (pro arbeitslose Person), die ebenfalls konjunkturellen Schwankungen unterliegen.
Gemäss dieser Analyse verzeichnete die Arbeitslosenversicherung im Jahr 2023 einen «strukturellen» Überschuss von rund 500 Millionen Franken. Die genaue Höhe bleibt jedoch mit einer gewissen Unsicherheit behaftet, da andere Varianten zur Berechnung der Ausgaben und Einnahmen, die als Robustheitstests dienten, Werte zwischen 50 und 1100 Millionen Franken ergaben.
- Studie im Auftrag des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) zuhanden der Aufsichtskommission für den Ausgleichsfonds der Arbeitslosenversicherung (AK ALV). Siehe Zuchuat, Kaderli und Lalive (2024). []
- Weitere Informationen über das Konzept der Beveridge-Kurve sind zu finden unter Federal Reserve Bank of St. Louis und Center for Economic and Policy Research (auf Englisch). []
- Für weitere Informationen zur Bestimmung der konjunkturneutralen Arbeitslosenquote im theoretischen Rahmen der Beveridge-Kurve siehe Sheldon (2006). []
- Siehe Bok et al. (2023). []
- Gemäss Definition des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco), siehe Weber (2024). []
- Siehe Oesch (2020). []
Literaturverzeichnis
- Bok, B., R. K. Crump, C. J. Nekarda und N. Petrosky-Nadeau (2023). Estimating Natural Rates of Unemployment: A Primer. Working Paper 2023-25, Federal Reserve Bank of San Francisco.
- Oesch, T. (2020). Genauer erfasste Arbeitslosigkeit dank Automatisierung. Die Volkswirtschaft, 25. Februar.
- Sheldon, G. (2006). Die Höhe der konjunkturneutralen Arbeitslosigkeit in der Schweiz. Im Auftrag des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco).
- Weber, B. (2024). Arbeitslosigkeit: Je nach Statistik unterschiedlich hoch. Die Volkswirtschaft, 8. Juli.
- Zuchuat, J., T. Kaderli und R. Lalive (2024). Konjunkturneutrale Arbeitslosigkeit in der Schweiz. Schätzung der konjunkturneutralen Arbeitslosenquote auf dem Schweizer Arbeitsmarkt. Grundlagen für die Wirtschaftspolitik Nr. 54. Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco), Bern, Schweiz.
Bibliographie
- Bok, B., R. K. Crump, C. J. Nekarda und N. Petrosky-Nadeau (2023). Estimating Natural Rates of Unemployment: A Primer. Working Paper 2023-25, Federal Reserve Bank of San Francisco.
- Oesch, T. (2020). Genauer erfasste Arbeitslosigkeit dank Automatisierung. Die Volkswirtschaft, 25. Februar.
- Sheldon, G. (2006). Die Höhe der konjunkturneutralen Arbeitslosigkeit in der Schweiz. Im Auftrag des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco).
- Weber, B. (2024). Arbeitslosigkeit: Je nach Statistik unterschiedlich hoch. Die Volkswirtschaft, 8. Juli.
- Zuchuat, J., T. Kaderli und R. Lalive (2024). Konjunkturneutrale Arbeitslosigkeit in der Schweiz. Schätzung der konjunkturneutralen Arbeitslosenquote auf dem Schweizer Arbeitsmarkt. Grundlagen für die Wirtschaftspolitik Nr. 54. Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco), Bern, Schweiz.
Zitiervorschlag: Zuchuat, Jeremy; Kaderli, Tabea; Lalive, Rafael (2024). Konjunkturneutrale Arbeitslosenquote: Ein Schlüsselindikator für die Arbeitslosenversicherung. Die Volkswirtschaft, 31. Oktober.