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«Demokratie ist manchmal mühsam»

Die Schweizer Bevölkerung hat international gesehen ein einmalig hohes Vertrauen in ihre Institutionen. Für Bundespräsidentin Viola Amherd ist die direkte Demokratie dafür massgebend – auch wenn sie manchmal mühsam ist. Zudem spricht sie über Bergtouren, Anarchie und die Grenzen der nationalen Eigenständigkeit.
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Bundespräsidentin Viola Amherd im Bundeshaus Ost: «Aus meiner Sicht gibt es in der Schweiz keine Classe politique wie in anderen Ländern.» (Bild: Keystone / Peter Schneider)
Frau Bundespräsidentin, welches Gefühl löst das Wort «Vertrauen» bei Ihnen aus?

Ein positives. Vertrauen ist die Grundvoraussetzung, um gut zu leben, sowohl im privaten Bereich als auch in Politik und Wirtschaft.

Kommt Ihnen ein Bild dazu in den Sinn?

Als Berglerin denke ich an eine Bergtour, unterwegs mit einem Bergführer. Kommt eine heikle Stelle, nimmt er einen an der Hand und hilft, das Hindernis zu überqueren. Sich an der Hand nehmen und helfen lassen – das ist für mich Vertrauen. Diese Situation kenne ich gut aus den Bergen.

Gibt es ein Erlebnis, das Ihr Vertrauen in die Schweizer Institutionen geprägt hat?

Die Covid-Krise. Der Bundesrat musste Entscheide treffen, ohne dass von Anfang an alles klar war – departementsübergreifend und unter Berücksichtigung der föderalen Zuständigkeiten. Rückblickend sind wir relativ gut durch diese Krise gekommen. Das zeigt mir, dass wir unserem System und unseren Institutionen vertrauen können.

Welche Institution verkörpert für Sie den Kern der Schweizer Identität?

Eine prägende Urinstitution der Schweiz ist für mich die Gemeindeversammlung. In Brig-Glis, wo ich Stadtpräsidentin war, heisst sie «Urversammlung». Die Bevölkerung kommt dort mindestens zweimal im Jahr zusammen, um wichtige Themen zu entscheiden.

Ist das Wirtshaus auch eine Institution?

Ja, wenn man den Begriff weiter fasst. Wobei: Vor dreissig Jahren wurde am Stammtisch noch politisiert. Das ist heute weniger der Fall – zumindest erlebe ich das so in meiner Umgebung. Das Politisieren hat sich in die sozialen Medien verlagert. Die sozialen Medien würde ich zwar nicht als Institution bezeichnen, aber sie tragen zur Meinungsbildung bei.

Merken Sie in der Politik Fake News, Verschwörungserzählungen und Polarisierung?

Ja, selbstverständlich; ein Blick auf die Plattformen genügt. Das gibt mir zu denken.

Wie kann man dem entgegenwirken?

Durch transparente und stetige Information seitens der Behörden. Und natürlich durch Bildung: In den Schulen muss sensibilisiert werden. Nicht alles, was man auf X oder Tiktok sieht, entspricht der Realität. Aber auch meine Generation und die Älteren müssen sensibilisiert werden. Wir sind ohne soziale Medien aufgewachsen.

Vor dreissig Jahren wurde am Stammtisch noch politisiert.

Eine Studie belegt: In keinem anderen OECD-Land ist das Vertrauen in die Institutionen höher als in der Schweiz. Angesichts von Vorfällen wie dem Unterschriftenskandal, dem Rechenfehler im Bundesamt für Sozialversicherungen oder den Corona-Leaks – überrascht Sie der Befund?

Eigentlich nicht. Ich denke hier an die direkte Demokratie oder an die vorhin genannte Schweizer Urinstitution, die Gemeindeversammlung: Die Bevölkerung kann mitreden. Gerade auf Gemeindeebene ist man sich sehr nahe. Wenn ich als Stadtpräsidentin durch Brig-Glis spazierte, sprachen mich oft Personen an. Sie fragten: Hast du dieses und jenes gesehen? Das ist super. So wird man auf konkrete Probleme angesprochen. Wo sonst kann man so oft im Jahr über Sachthemen abstimmen wie in der Schweiz? Nirgends. Passieren Fehler, wie etwa die Fälle von mutmasslich gefälschten Unterschriften, werden sie nicht vertuscht, sondern aufgearbeitet. Fehler passieren überall. Ich glaube, die Leute verstehen das. Schlimmer ist es, wenn man versucht, etwas unter den Teppich zu kehren.

Was macht die Schweiz anders als das Ausland?

Dank der direkten Demokratie hat man in der Schweiz die Möglichkeit, mit einer Volksinitiative ein Begehren vorzubringen. Gegen jedes vom Parlament verabschiedete Gesetz kann man das Referendum ergreifen. Das stärkt das Vertrauen. Wenn man diese Mittel hat, sie dann aber nicht nutzt, sage ich: Ihr hättet die Möglichkeit gehabt. Selber schuld.

Gibt es jemanden, dem Sie zu 100 Prozent vertrauen?

Ja, unseren Institutionen. Nehmen Sie zum Beispiel die Gerichte. Vielleicht ist man mit einem Gerichtsurteil nicht einverstanden. Trotzdem vertraue ich darauf, dass dort alles korrekt abläuft, es keine Korruption gibt und nicht nach Gutdünken entschieden wird.

In einem vor Jahren erschienenen Porträt über Sie heisst es, Sie hätten in Ihrer Jugend gewisse Sympathien für Punk und Anarchie gehabt. Was hat Sie geprägt?

Natürlich mein Kanton. (lacht) Spass beiseite: Auch das Wallis ist nicht anarchistisch organisiert. Wir mussten eine Maturaarbeit in Philosophie schreiben, und Staatsformen haben mich schon immer interessiert. Anarchie wäre für mich eigentlich ein schönes Modell: wenn es keine Regeln und Gesetze brauchte, wenn die Menschen aufeinander Rücksicht nehmen und nicht das Recht des Stärkeren einsetzen würden. Aber das ist halt eine Utopie.

Frau Bundespräsidentin ein Punk?

Die Musik gefiel mir, zum Beispiel The Clash und andere. Aber sonst war ich schon damals ein Blues-Fan. Ich bin es geblieben.

Wie erklären Sie jungen Menschen die Bedeutung von Institutionen?

Ich wollte immer mitreden – schon in meiner Kindheit. Unsere Institutionen ermöglichen das. Jugendlichen sage ich: «Packt diese Möglichkeit; denn das, was jetzt entschieden wird, betrifft euch.»

Und doch, die Abstimmungsbeteiligung liegt im Durchschnitt bei 46 Prozent.

Ja, das ist schade. Vielleicht, weil es uns gut geht und das Vertrauen in die Institutionen vorhanden ist. Allerdings – und das erlebte ich schon auf Gemeindeebene: Wenn es um umstrittene Themen ging, war die Beteiligung immer hoch.

Bundespräsidentin Viola Amherd: «Anarchie wäre für mich eigentlich ein schönes Modell: wenn es keine Regeln und Gesetze brauchte, wenn die Menschen aufeinander Rücksicht nehmen und nicht das Recht des Stärkeren einsetzen würden.» (Bild: Keystone / Peter Schneider)
Regierungsmitgliedern wird teils vorgeworfen, den Kontakt zur Bevölkerung zu verlieren: Die Classe politique mache eh, was sie wolle, heisst es. Was tun Sie, um am Puls der Bevölkerung zu bleiben?

Aus meiner Sicht gibt es in der Schweiz keine Classe politique wie in anderen Ländern. Wir müssen dafür sorgen, dass das so bleibt und wir Politikerinnen und Politiker uns nicht absondern. Wir haben das Glück, dass man sich auch in meiner Funktion allein im öffentlichen Raum bewegen kann, ohne von Sicherheitsleuten abgeschirmt zu werden. So bin ich jeden Tag mit der Bevölkerung in Kontakt.

«Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser»: Ist das auch Ihr Leitspruch?

Ja, es braucht sicher diese Kontrolle. Wir haben eine Gewaltenteilung, bei der die Aufgaben klar verteilt sind: Das Parlament beaufsichtigt die Regierung, und die Gerichte überwachen die Anwendung der Gesetze. Das gehört zu einem Rechtsstaat dazu und ist richtig so.

Bundesrat und Parlament standen hinter dem dritten Anlauf zur Reform der beruflichen Vorsorge. Zwei Drittel des Stimmvolks lehnten sie im September dennoch ab. Ist das Scheitern Ausdruck eines Verlust von Vertrauen in den parlamentarischen Prozess?

Für mich ist das ein Vorteil der direkten Demokratie, auch wenn ich in der Sache natürlich ein Ja befürwortet hätte. Genau das ist Vertrauen: Die Bevölkerung kann sich gegen das Parlament und die Regierung entscheiden, und der Volksentscheid wird dann umgesetzt. An vielen anderen Orten ist das nicht möglich.

Demokratie erschwert Reformen.

Ja – Demokratie ist manchmal mühsam. Es gibt einen etwas lockeren Spruch: Die beste Regierungsform ist eine ungerade Zahl unter 3. Aber das wollen wir nicht.

Die direkte Demokratie braucht viel Zeit für die Konsensfindung. Kritische Stimmen bemängeln, dass dafür die Suche nach Evidenz zu kurz kommt. Einverstanden?

Fakten sind wichtig. Ich war lange im Parlament und in dessen Fachkommissionen tätig. Wir arbeiten in der Schweiz faktenbasiert. Doch nicht alles lässt sich mit Studien lösen. In der langsamen Kompromissfindung sehe ich einen grossen Vorteil: Meistens führt sie dazu, dass das Ergebnis auf breite Akzeptanz stösst. Diese Stabilität fördert langfristig das Vertrauen.

Vertrauen werde durch Stabilität geschaffen, sagen Sie. Rütteln dann Diskussionen über eine Aufweichung der Schuldenbremse oder der Neutralität an diesen Grundfesten?

Das glaube ich nicht. Die Welt ändert sich. Wir können heute nicht mehr mit den exakt gleichen Mitteln wie vor Jahrzehnten arbeiten. Gewisse Anpassungen sind notwendig. Wichtig ist, dass man die Diskussion darüber führen kann, ob eine Änderung erfolgen soll oder nicht.

Heisst das, wir sollten auch Institutionen wie zum Beispiel das Ständemehr infrage stellen? Eine Stimme in Appenzell Innerrhoden hat heute fast 40-mal so viel Gewicht wie eine im Kanton Zürich.

Am Ständemehr würde ich nicht schrauben. Der Minderheitenschutz ist eine weitere Stärke der Schweiz und ihrer Demokratie. Auch dank ihm ist unsere Gesellschaft weniger gespalten als in anderen Ländern. In der Verfassung und im Gesetz wird klar festgehalten, wann das Ständemehr zur Anwendung kommt und wann nicht. Eine Fall-zu-Fall-Anwendung aus taktischen, parteipolitischen oder ideologischen Überlegungen wäre aber fatal.

Wir sind keine Insel im Nirgendwo.

Die Schweiz ist mitten in Europa. Wie sehr vertraut die Schweiz dem Ausland und supranationalen Organisationen wie der UNO oder der EU?

Ich habe Vertrauen in die UNO. Sie bemüht sich, im Rahmen des Multilateralismus Lösungen für Frieden und eine konfliktfreie Welt zu finden. Auch wenn ihr dies nicht immer gelingt, bleibt sie von zentraler Bedeutung. Wenn wir von der EU sprechen, betonen wir oft ihre Rolle als wichtigste Wirtschaftspartnerin der Schweiz. Aber die EU ist für mich auch ein Konzept des friedlichen Zusammenlebens auf dem europäischen Kontinent. Das vergisst man manchmal. Ich bin überzeugt, dass gemeinsame Lösungen und Plattformen mehr wert sind, als wenn jeder nur auf seine eigenen Interessen schaut. Dass dabei auch Meinungsverschiedenheiten entstehen, ist nur natürlich.

Nur wer sich seiner Verletzlichkeit bewusst ist, kann vertrauen. Sind wir uns unserer Verletzlichkeit bewusst?

Ja. Meinem Departement sage ich in Bezug auf Sicherheit: Wir müssen unsere Bevölkerung so weit wie möglich eigenständig schützen. Doch ab einem gewissen Punkt stossen wir an unsere Grenzen. Wir sind Teil der Welt und des europäischen Kontinents, und eine instabile Lage in Europa betrifft uns genauso wie alle anderen. Die Covid-Krise hat uns die Verletzlichkeit und die Vernetzung unseres Landes vor Augen geführt.

Sehen das alle so?

Mein Departement und der Bundesrat ja. Wir wollen die internationale Zusammenarbeit intensivieren, sowohl bilateral als auch mit der Nato und der EU. Wir wollen keinen EU- oder Nato-Beitritt, aber im Rahmen der Neutralität wollen wir noch stärker mit dem Ausland zusammenarbeiten. Unsere Partnerschaft mit der Nato besteht übrigens schon seit 1996, auch das vergisst man oft. Wir sind keine Insel im Nirgendwo.

Militärische Sicherheit ist das eine. Was tut der Bundesrat sonst noch, damit wir uns hier sicher fühlen?

Alle Departemente sind gefragt. Wir dürfen Sicherheit nicht mehr nur im engen Sinne anschauen: Bevölkerungsschutz, Cybersicherheit, stabile Lieferketten, Massnahmen gegen die Klimaveränderung oder die internationale Zusammenarbeit gehören ebenso dazu.

Und trotzdem soll das Militär mehr Geld erhalten und die Entwicklungszusammenarbeit gekürzt werden.

Es braucht mehr Geld für die Armee. In den letzten drei Jahrzehnten wurden andere Bereiche stark ausgebaut, auf dem Buckel der Armee. Deshalb besteht hier Nachholbedarf. Gleichzeitig muss die internationale Zusammenarbeit weitergeführt werden.

Gab es in Ihrem Präsidialjahr etwas, das Sie so nicht erwartet hätten?

Die eng getaktete Agenda. Wir haben ja als Departementschefs schon eine enge Agenda.

Gibt es eine zentrale Botschaft, die Sie als Bundespräsidentin der Bevölkerung in Bezug auf Vertrauen in den Staat und seine Institutionen mitgeben möchten?

Die Bevölkerung soll mit der Politik im Dialog bleiben – auch mit dem Bundesrat. Sie soll sich nicht scheuen, Wünsche, Bedenken und Kritik zu äussern.

Zitiervorschlag: Interview mit Bundespräsidentin Viola Amherd (2024). «Demokratie ist manchmal mühsam». Die Volkswirtschaft, 04. November.

Viola Amherd

Die 62-jährige Viola Amherd ist im Jahr 2024 Bundespräsidentin. Sie steht seit 2019 dem Eidgenössischen Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS) vor. Die Mitte-Politikerin ist Anwältin sowie Notarin und studierte an der Universität Freiburg. Ihre politische Laufbahn begann 1992 in Brig-Glis (Kanton Wallis), zwischen 2000 und 2012 war sie Briger Stadtpräsidentin, und 2005 wurde sie Nationalrätin.

Eidgenössisches Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS)

Das Eidgenössische Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS) ist mit seinen gut 12’000 Vollzeitstellen für die Sicherheitspolitik der Schweiz verantwortlich – mit der Armee, dem Staatssekretariat für Sicherheitspolitik, dem Bundesamt für Bevölkerungsschutz, dem Nachrichtendienst des Bundes, der Armasuisse und dem Bundesamt für Cybersicherheit. Die Sportförderung mit dem Bundesamt für Sport oder die Geoinformation mit Swisstopo sind weitere Pfeiler des Departements.