Viele in der Schweiz könnten abstimmen, tun es aber nicht. Eine neue Form der politischen Beteiligung – der Bevölkerungsrat – könnte das ändern. (Bild: Keystone)
Demokratie beruht auf der aktiven politischen Beteiligung der Bevölkerung. In den meisten Ländern beschränkt sich diese Beteiligung auf die Wahl von Parlament und Regierung. In manchen Ländern besteht jedoch auch die Möglichkeit, direkt über Sachfragen zu entscheiden. Dies ist besonders in der Schweiz der Fall, wo häufig Volksabstimmungen durchgeführt werden. Damit ist sie die Spitzenreiterin in einem internationalen Trend: Die Verbreitung und der Gebrauch direktdemokratischer Institutionen wie Referendum und Volksinitative nehmen seit Mitte des 20. Jahrhunderts weltweit zu.[1] Auffallend ist jedoch auch, dass die tatsächliche Beteiligung der Stimmberechtigten im gleichen Zeitraum abgenommen hat.
Auch die Schweiz ist von dieser Entwicklung betroffen. Bei nationalen Wahlen und Abstimmungen begibt sich mittlerweile weniger als die Hälfte der Stimmberechtigten an die Urne. Auf kantonaler und kommunaler Ebene sind die Beteiligungsraten sogar noch geringer. Zwar hat sich die Demokratie als Herrschaftsform im Laufe des 20. Jahrhunderts immer stärker verbreitet. Gleichzeitig hat sie aber, besonders in den etablierten Demokratien, an Tiefe verloren.[2]
Die Gründe für den Rückgang der Beteiligung an Wahlen und Abstimmungen sind vielfältig und komplex. Einer der Gründe ist die sogenannte rationale Ignoranz:[3] Der Aufwand, sich über Kandidierende oder Abstimmungsvorlagen zu informieren, übersteigt den erwarteten Nutzen einer Teilnahme. Wissenschaft und Praxis sind sich jedoch einig, dass dieser Beteiligungsrückgang problematisch ist. Tiefe Beteiligungsraten erhöhen die Gefahr von verzerrten Entscheidungen, wenn nicht alle gesellschaftlichen Gruppen gleich häufig teilnehmen. Seit einiger Zeit werden deshalb neue Formen der politischen Beteiligung entwickelt und ausprobiert mit dem Ziel, die Bürgerinnen und Bürger (wieder) zu aktivieren und die Demokratie neu zu beleben.
Auswahl mittels Zufallsstichprobe
Ein vielversprechendes Beispiel einer solchen neuen Beteiligungsform stellen die sogenannten Bevölkerungsräte dar, in Deutschland und Österreich auch Bürgerräte genannt beziehungsweise Assemblée citoyenne im französischen oder Citizen assemblies im englischen Sprachraum.[4] Im Zentrum eines Bevölkerungsrats steht eine Gruppe von Personen, die mittels Zufallsauswahl zusammengestellt ist. In der Regel erfolgt dies mit einem zweistufigen, geschichteten Verfahren, um ein möglichst genaues Abbild der Bevölkerung zu erreichen.[5]
In einem ersten Schritt wird aus der Bevölkerung eines Gemeinwesens – also etwa einer Gemeinde, eines Kantons oder eines Lands – eine Zufallsstichprobe von mehreren Tausend Personen gezogen. Diese werden kontaktiert, über den Bevölkerungsrat informiert und gefragt, ob sie Interesse an einer Teilnahme hätten. Erfahrungsgemäss signalisieren zwischen fünf und zehn Prozent der Angeschriebenen tatsächlich Interesse. In der Regel sind diese Teilnahmeinteressierten jedoch nicht mehr repräsentativ für die Gesamtbevölkerung: Ältere Personen, solche mit einer höheren Ausbildung sowie politisch links eingestellte sind meistens übervertreten.
In einem zweiten Schritt wird deshalb unter den Interessierten eine sogenannte geschichtete Zufallsauswahl durchgeführt. Dabei wird die Auswahlwahrscheinlichkeit entlang bestimmter soziodemographischer und politischer Merkmale so gewichtet, dass die Gruppe der definitiv Ausgewählten hinsichtlich dieser Merkmale möglichst nah bei der Gesamtbevölkerung liegt.
Bevölkerungsrat berät Behörden
Diese Gruppe trifft sich während mehrerer Tage, um über eine Behördenvorlage oder eine allgemeine politische Frage zu diskutieren und zu beraten. Dabei wird sie von einem professionellen Moderationsteam unterstützt und kann Fachpersonen anhören. Am Schluss werden die Ergebnisse zuhanden der Behörden und/oder der breiteren Öffentlichkeit verabschiedet.
Bevölkerungsräte haben somit keine eigenen Entscheidungsbefugnisse. Ihre Erkenntnisse tragen lediglich beratend zu den Entscheidungsprozessen der traditionellen Instanzen, also Exekutive und/oder Legislative, bei. Politische Entscheidungstragende sind jedoch gut darin beraten, die Ergebnisse ernsthaft zu prüfen und transparent zu begründen, welche Empfehlungen umgesetzt werden und welche nicht. Andernfalls kann das Vorhaben mehr Frust hinterlassen, als es zur Stärkung der Demokratie beiträgt.
Im Folgenden möchten wir zwei konkrete Anwendungen solcher Bevölkerungsräte vorstellen und diskutieren. Beide haben wir in der Schweiz in den letzten Jahren durchgeführt und wissenschaftlich begleitet.
Bürgerpanels für mehr Klimaschutz im Kanton Zürich (2019–2023)
Das erste Projekt sind die Bürgerpanels für mehr Klimaschutz im Kanton Zürich. Die Förderung der politischen Teilhabe im Kanton war vom Zürcher Regierungsrat als eines der Ziele für die Legislatur 2019–2023 beschlossen worden. Zur Umsetzung dieses Ziels wurde ein Programm verabschiedet, mit dem die Gemeinden des Kantons erste Erfahrungen mit Bevölkerungsräten sammeln konnten. Dadurch sollte die Demokratie in den Gemeinden belebt, der Dialog zwischen den Behörden und der Bevölkerung gestärkt und die Bevölkerung in einen gegenseitigen Austausch zu politischen Themen gebracht werden. Inhaltlich wurde der Fokus auf die Klimapolitik gelegt, die generell in vielen Gemeinden kontrovers diskutiert wird.
Durchgeführt wurden drei Bevölkerungsräte: je einer in Uster, in Winterthur und in Thalwil.[6] In Zusammenarbeit mit den Behörden der drei Städte wurde für jeden Bevölkerungsrat eine präzise Fragestellung formuliert, die sich auf klimapolitische Entscheidungen oder Massnahmen der jeweiligen Stadt bezogen. In allen drei Gemeinden hatten die Bevölkerungsräte eine beratende Funktion: Sie verabschiedeten Dokumente mit Überlegungen und Empfehlungen zur Klimapolitik zuhanden der Behörden und der Öffentlichkeit.
Unsere Nachbefragung zeigte, dass die Mitglieder der jeweiligen Räte es als grosse Bereicherung empfanden, sich mit ihnen unbekannten Menschen auszutauschen. Dank respektvollen Diskussionen entwickelten sie ein besseres Verständnis gegenüber anderen Sichtweisen. Auch konnten sie ihr Wissen über das Thema Klimaschutz und ihre Kenntnisse über politische Prozesse in ihrer Gemeinde vertiefen.
Seitens der Gemeindebehörden war die Bilanz ebenfalls positiv. Auf spezielles Interesse stiess das Auswahlverfahren für die Bevölkerungsräte: Die Zufallsauswahl machte es möglich, Personen zu begegnen, die sich normalerweise nicht an Wahlen, Abstimmungen oder sonstigen Prozessen in der Gemeinde beteiligen. Die von den Bevölkerungsräten formulierten Empfehlungen wurden ebenfalls als nützlich empfunden. Zwar enthielten sie nicht grundsätzlich neue Vorschläge oder Ideen. Aber sie erlaubten es, die fundierte Meinung der Teilnehmenden über wichtige Themen und Vorhaben der Gemeinde zu eruieren.
Bevölkerungsrat bei einer kantonalen Volksabstimmung: Demoscan Aargau (2023)
Im Rahmen der vom Kanton Aargau und dem Bundesland Baden-Württemberg regelmässig durchgeführten Demokratiekonferenzen entstand die Idee für das Projekt «Demoscan Aargau». Konkret wurde ein Bevölkerungsrat bei einer kantonalen Volksabstimmung eingesetzt, um damit die Meinungsbildung der Stimmbevölkerung zu unterstützen und deren Beteiligungsmotivation zu erhöhen.[7] Das Vorgehen ist an das im amerikanischen Bundesstaat Oregon entwickelte «Citizen Initiative Review» angelehnt und kam auch an anderen Orten in der Schweiz bereits zum Einsatz.[8]
Im Vorfeld der Aargauer Abstimmung vom 18. Juni 2023 über die Vorlage «Klimaschutz braucht Initiative!» wurde ein Bevölkerungsrat von 21 Personen aus dem Kanton Aargau gebildet. Dieser traf sich an zwei Wochenenden, um über die kantonale Abstimmungsvorlage zu beraten. Die Mitglieder des Bevölkerungsrats hörten sich Fachpersonen sowie Gegnerinnen und Befürworter der Vorlage an und verfassten einen vierseitigen Flyer. Darin erläuterten sie die Vorlage mit eigenen Worten und hielten die aus ihrer Sicht wichtigsten Argumente für und gegen die Vorlage fest. Eine Abstimmungsempfehlung wurde jedoch nicht abgegeben. Dieser Demoscan-Flyer wurde parallel zu den Abstimmungsunterlagen an die Stimmberechtigten von zwei Aargauer Gemeinden verschickt, um diese bei der Meinungsbildung zu unterstützen.
Mittels Bevölkerungsbefragung wurde die Wirkung des Flyers auf die Stimmbürgerschaft untersucht. Es zeigte sich, dass der Flyer lediglich von 23 Prozent der Befragten in den beiden Gemeinden gelesen worden war. Diese Personen wiesen dafür ein signifikant besseres Verständnis der Abstimmungsvorlage auf als diejenigen, die den Flyer nicht gelesen hatten. Ausserdem war dieses Vorlagenverständnis weniger durch vorgefasste politische Meinungen beeinflusst. Auf den Abstimmungsentscheid hatte der Flyer keinen Einfluss: Wer den Flyer gelesen hatte, stimmte nicht häufiger Ja oder Nein als diejenigen, die ihn nicht gelesen hatten. Auch gab es keine Hinweise darauf, dass der Flyer die Stimmbeteiligung erhöht hätte.
Stärkere Beteiligung am politischen Prozess
Die bisherigen Erfahrungen mit Bevölkerungsräten in der Schweiz zeigen, dass diese tatsächlich das Potenzial haben, Stimm- und Wahlberechtigte stärker an politischen Prozessen zu beteiligen. Zudem entfalten Bevölkerungsräte auch positive Wirkungen über den Kreis der Teilnehmenden hinaus.
Es gibt allerdings auch kritische Stimmen zu Bevölkerungsräten. Einerseits wird kritisiert, sie würden die Rolle der gewählten Instanzen relativieren. Zutreffend ist das Gegenteil: Bevölkerungsräte sind kein Ersatz für existierende Entscheidungsprozesse, sondern lediglich eine Ergänzung. Im Fall der Zürcher Bürgerpanels gewannen die Behörden wichtige Hinweise auf die öffentliche Meinung zu anstehenden politischen Entscheidungen, was ihre Handlungsfähigkeit erhöhte.
Andererseits wird befürchtet, Bevölkerungsräte könnten von den Organisatoren instrumentalisiert werden und deshalb zu verzerrten Resultaten führen. Tatsächlich befassten sich die meisten Bevölkerungsräte mit Themen und Fragen, die von Behörden und Organisatoren vorgegeben wurden, weshalb ihnen eine gewisse Top-down-Logik innewohnt.
Einen anderen Ansatz verfolgt der Bevölkerungsrat 2025, der von den Autoren aktuell auf gesamtschweizerischer Ebene durchgeführt wird. Die zur Teilnahme eingeladenen, repräsentativ aus der Schweizer Wohnbevölkerung ausgelosten Personen konnten aus einem von fünf möglichen Diskussionsthemen wählen. Mit grosser Mehrheit wurde das Thema der steigenden Gesundheitskosten gewählt. So ist sichergestellt, dass die Diskussionen im Bevölkerungsrat auf ein gesellschaftlich relevantes Problem fokussieren.
- Siehe Brüggemann et al. (2023) und Qvortrup (2024). []
- Siehe Dahl (1998), S. 180. []
- Siehe Downs (1957). []
- Siehe insbesondere Reuchamps et al. (2023). []
- Siehe Flanigan et al. (2021). []
- Die Finanzierung erfolgte durch die Direktion der Justiz und des Inneren des Kantons Zürich. Siehe Heimann et al. (2023) für eine ausführliche Darstellung. []
- Das Projekt wurde durch den Swisslos-Fonds des Kantons Aargau finanziert. Siehe Heimann et al. (2024) für detaillierte Ausführungen und Resultate. []
- Siehe Stojanović (2023). []
Literaturverzeichnis
- Brüggemann, S. et al. (2023). The World of Referendums. 2023 edition. Aarau: Zentrum für Demokraite Aarau.
- Curato, N. et al. (2021). Deliberative Mini-Publics: Core Design Features. Bristol: Bristol University Press.
- Dahl, R. A. (1998). On Democracy. New Haven: Yale University Press.
- Downs, A. (1957). An Economic Theory of Political Action in a Democracy. Journal of Political Economy 65(2), 135–150.
- Flanigan, B. et al. (2021). Fair Algorithms for Selecting Citizens’ Assemblies. Nature 596(7873), 548–552.
- Glaser, A., Loviat R. und M. Piampiano (2024). Demoscan Aargau: Rechtsgutachten. Studienberichte des Zentrums für Demokratie Aarau. Aarau: Zentrum für Demokratie Aarau.
- Grönlund, K., Bächtiger, A. und M. Setälä (Hrsg.)(2014). Deliberative Mini-Publics. Involving Citizens in the Democratic Process. Colchester: ECPR Press.
- Heimann, A. et al. (2023). Bürgerpanels für mehr Klimaschutz im Kanton Zürich. Schlussbericht. In: Aarau, Zentrum für Demokratie (dir) Studienberichte des Zentrums für Demokratie Aarau. Aarau: Zentrum für Demokratie Aarau.
- Heimann, A. et al. (2024). Demoscan Aargau: Schlussbericht. Stuendberichte des Zentrums für Demokratie Aarau. Aarau: Zentrum für Demokratie Aarau.
- Qvortrup, M. (Hrsg.)(2024). Referendums Across the World. Houndsmills: Palgrave MacMillan.
- Reuchamps, M., Vrydagh, J. und Y. Welp (Hrsg.) (2023). De Gruyter Handbook of Citizens’ Assemblies. Berlin/Boston: De Gruyter.
- Stojanović, N. (2023). Citizens’ Assemblies and Direct Democracy. Reuchamps, Min, J. Vrydagh und Y. Welp (Hrsg.) De Gruyter Handbook of Citizens’ Assemblies. Berlin/Boston, 183.
- Veri, Francesco (2024). Fostering Reasoning in the Politically Disengaged: The Role of Deliberative Minipublics. Political Studies Review online first, 1–22.
Bibliographie
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- Veri, Francesco (2024). Fostering Reasoning in the Politically Disengaged: The Role of Deliberative Minipublics. Political Studies Review online first, 1–22.
Zitiervorschlag: Kuebler, Daniel; Heimann, Andri; Stojanović, Nenad; Veri, Francesco (2024). Der Bevölkerungsrat – ein neues Stück Demokratie. Die Volkswirtschaft, 05. November.