Der GAV im Coiffeurgewerbe verhindert Tieflöhne
Die im Gesamtarbeitsvertrag vereinbarten Mindestlöhne gelten schweizweit für alle Betriebe im Coiffeurgewerbe. (Bild: Keystone)
Im Jahr 2021 waren schweizweit rund 2,2 Millionen Arbeitnehmende einem Gesamtarbeitsvertrag (GAV) unterstellt.[1] Das sind circa 50 Prozent aller Arbeitnehmenden, die überhaupt einem GAV unterstellt werden können. Ein GAV ist ein Vertrag zwischen Arbeitgebern oder Arbeitgeberverbänden und einer oder mehreren Gewerkschaften zur Regelung der Arbeitsbedingungen. In einem GAV können beispielsweise die Mindestlöhne, allfällige Entschädigungen und Lohnfortzahlungen geregelt werden. Zusätzlich kann er auch die Anzahl Ferientage sowie Feiertage, die Arbeitszeit oder den Kündigungsschutz umfassen. Das Gastgewerbe, der Bausektor oder das Coiffeurgewerbe unterstehen zum Beispiel einem GAV.
Trotz der grossen Bedeutung von Gesamtarbeitsverträgen im Schweizer Arbeitsmarkt ist nur wenig bekannt, welche Auswirkungen sie auf Firmen und Beschäftigte haben. Erhöhen GAV die Löhne im Vergleich zu einer Situation ohne Vertrag? Und falls ja, sind es die Beschäftigten, die Firmen oder die Kundschaft, welche für die höheren Löhne aufkommen muss?
Um diese und ähnliche Fragen beantworten zu können, erstellt ein Forschungsteam der KOF Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich zurzeit einen umfassenden Datensatz zu den GAV in der Schweiz. Das komplexe und aufwendige Unterfangen, das für die Schweiz so noch nirgends durchgeführt wurde, wird vom Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco), vom Bundesamt für Statistik (BFS) und vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützt. Eine wichtige Grundlage der Arbeiten sind die GAV-Texte, die das BFS seit den 1990er-Jahren systematisch archiviert (siehe Kasten). Der Datensatz soll es dereinst ermöglichen, die Wirkung von GAV besser zu untersuchen und zu verstehen.
Welche Auswirkungen hat das Fehlen eines GAV?
Eine Fallstudie[2] zum Schweizer Coiffeurgewerbe hat diesen neuen Datensatz erstmals verwendet. Die Studie ist im Rahmen einer Masterarbeit an der Universität Bern entstanden. Sie geht der Frage nach, wie sich die sozialpartnerschaftlich festgelegten Mindestlöhne auf die Lohnverteilung im Coiffeurgewerbe auswirken. Die im Vertrag festgelegten Mindestlöhne werden regelmässig neu ausgehandelt und sind seit Jahrzehnten für allgemeinverbindlich erklärt – das heisst, schweizweit müssen sich alle Coiffeurbetriebe an die Vereinbarungen halten. Allerdings galt dies nicht durchgehend: Zwischen 2007 und 2009 herrschte in der Branche ein vertragloser Zustand, da sich die Sozialpartner auf keinen neuen Vertrag einigen konnten. In diesem Zeitraum gab es somit auch keine verbindlichen Mindestlöhne, was in der Studie genauer untersucht wurde. Im GAV des Coiffeurgewerbes wie auch in vielen anderen GAV gibt es je nach Ausbildung und Berufserfahrung unterschiedliche Mindestlöhne (siehe Abbildung 1).
Abb. 1: Mindestlöhne im schweizerischen Coiffeurgewerbe fielen temporär weg
INTERAKTIVE GRAFIK
In der Grafik gut erkennbar ist auch das Fehlen von Mindestlöhnen in den Jahren des vertraglosen Zustands. Die Fallstudie untersucht die Folgen dieses temporären Wegfalls. Sie fokussiert auf Coiffeusen und Coiffeure mit abgeschlossener Berufsausbildung – die grösste Arbeitnehmendengruppe in der Branche. Zur Beantwortung der Forschungsfrage, ob der GAV und die darin enthaltenen Mindestlöhne vor Tieflöhnen schützen, nutzt die Studie zusätzlich Lohndaten der schweizerischen Lohnstrukturerhebung (LSE) des BFS. Die LSE erhebt alle zwei Jahre die Löhne von mehr als 2 Millionen Arbeitnehmenden in der Schweiz.
Ohne GAV sinken die Löhne
Die Analyse zeigt, dass im Jahr 2006 – also vor dem Wegfall des GAV – viele Angestellte im Coiffeurgewerbe einen Lohn hatten, der knapp über dem tiefsten Mindestlohn von 2679 Franken für gelernte Vollzeitarbeitnehmende mit Lehrabschluss liegt. Zweitens zeigt sich, dass im Jahr 2008, als es keine Mindestlöhne gab, der Anteil der Löhne, die unter diesem Mindestlohn liegen, im Vergleich zu 2006 deutlich zunimmt. Nach der Wiedereinführung der Mindestlöhne im Jahr 2010 verschwinden diese Tieflöhne wieder (siehe Abbildung 2). Dies deutet darauf hin, dass der Wegfall der Mindestlöhne in der Branche vorübergehend zu mehr Tieflöhnen führte.
Abb. 2: Coiffeure: Im Jahr 2008, als kein GAV existierte, nahm der Anteil der Tieflöhne zu
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Coiffeur-GAV verhindert Tieflöhne
Eine statistische Analyse mithilfe eines sogenannten Differenz-in-Differenzen-Verfahrens stützt diesen visuellen Befund. Dafür wird eine Kontrollgruppe von Arbeitnehmenden aus ähnlichen Branchen wie der Reinigung, Wäschereien und der Kosmetikbranche herangezogen. Die Analyse zeigt, dass sich vor dem vertraglosen Zustand die Löhne im Coiffeurgewerbe und in der Kontrollgruppe vergleichbar entwickelt haben. Dies stützt die Annahme, dass sie sich auch ähnlich entwickelt hätten, wenn die Coiffeur-Mindestlöhne nicht weggefallen wären. Doch dem war nicht so: Während die Coiffeurlöhne zwischen 2006 und 2008 vor allem am unteren Ende der Lohnverteilung deutlich sinken, steigen sie in der Kontrollgruppe leicht.
Konkret legen die Schätzungen nahe, dass die vorübergehende Aussetzung des GAV zu einem durchschnittlichen Lohnrückgang um 6,1 Prozent führte. Die Löhne der tiefstbezahlten 10 Prozent der Beschäftigten sanken gar um rund 18 Prozent. Für Beschäftigte mit sehr hohen Löhnen in der Branche lässt sich hingegen kein Lohneffekt feststellen. Gemäss der Analyse steigen die Löhne durch die Wiedereinführung des GAV im Jahr 2010 zwar wieder an, sie erholen sich jedoch erst 2012 vollständig von der Aussetzung des GAV.
Der temporäre Wegfall des Coiffeur-GAV führte also dazu, dass vorübergehend Arbeitsverträge mit Tieflöhnen aufgetaucht sind. Gelernte Angestellte, die ihre Stelle erst nach 2006 angetreten hatten, waren stärker von diesen Tieflöhnen betroffen als jene, die bereits vor Beginn des vertraglosen Zustands angestellt wurden. Insgesamt legen die Ergebnisse den Schluss nahe, dass die Mindestlöhne des Coiffeur-GAV die Löhne von Geringverdienenden in der Branche stabilisieren und – umgekehrt – ein Wegfall des GAV zu einem Absinken dieser Löhne führen würde.
Literaturverzeichnis
- Bundesamt für Statistik (2024). Gesamtarbeitsverträge in der Schweiz im Jahr 2021: Ergebnisse und Informationen zur Erhebung. Bundesamt für Statistik (BFS), Neuenburg.
- Roth, Karin (2024). Beyond the Bargain: Collective Agreement Suspension and Its Impact on Wages in the Hairdressing Industry, Masterarbeit Universität Bern, Bern. (unveröffentlicht, auf Nachfrage einsehbar)
Bibliographie
- Bundesamt für Statistik (2024). Gesamtarbeitsverträge in der Schweiz im Jahr 2021: Ergebnisse und Informationen zur Erhebung. Bundesamt für Statistik (BFS), Neuenburg.
- Roth, Karin (2024). Beyond the Bargain: Collective Agreement Suspension and Its Impact on Wages in the Hairdressing Industry, Masterarbeit Universität Bern, Bern. (unveröffentlicht, auf Nachfrage einsehbar)
Zitiervorschlag: Roth, Karin; Kopp, Daniel; Siegenthaler, Michael (2024). Der GAV im Coiffeurgewerbe verhindert Tieflöhne. Die Volkswirtschaft, 19. November.
In Zusammenarbeit mit dem Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco), dem Bundesamt für Statistik (BFS) und der Unia erstellt ein Forschungsteam der KOF Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich zurzeit einen Datensatz zum Inhalt aller grösseren GAV im Zeitraum 1998 bis 2023. Der Datensatz enthält einheitliche und nach internationalen Standards codierte Informationen zu den einzelnen GAV und den darin festgelegten Mindestlöhnen und Arbeitsbedingungen wie etwa Arbeitszeiten, Ferienansprüchen oder Kündigungsfristen. Die Informationen in der Datenbank werden in umfangreichen, grösstenteils manuellen Codierungsarbeiten aus den GAV-Vertragstexten extrahiert.
Der Datensatz umfasst jene 120 GAV, die zwischen 1998 und 2023 mindestens in einem Jahr 1500 Unterstellte hatten. Anhand der codierten Informationen wie Branche, Region und Beruf können die GAV-Bestimmungen mit anderen Firmen- und Arbeitsmarktdaten der Schweiz verknüpft werden. So lässt sich beispielsweise künftig vielen Arbeitnehmenden in der Lohnstrukturerhebung des BFS der für sie gültige Mindestlohn zuordnen. Nach Abschluss der Arbeiten im Herbst 2025 werden die Daten für wissenschaftliche Zwecke öffentlich zur Verfügung gestellt. Die Datenerhebung wird vom Seco und vom Schweizer Nationalfonds finanziell unterstützt.