Der internationale Handel braucht Regeln – am besten multilaterale
Der multilaterale Weg ist schwierig. Daher weichen viele WTO-Mitglieder auf regionale Handelsabkommen aus. WTO-Generaldirektorin Ngozi Okonjo-Iweala umgeben von Handelsdelegierten an der WTO-Ministerkonferenz 2022. (Bild: Keystone)
Multilaterale Handelsregeln im Rahmen der Welthandelsorganisation (WTO) und regionale Handelsabkommen (RHA) sind stärker voneinander abhängig, als man gemeinhin meint. Einerseits profitieren WTO-Abkommen von Erfahrungen aus RHA – seien es bilaterale Abkommen wie dasjenige zwischen der Schweiz und China oder plurilaterale Abkommen, die im Rahmen der Europäischen Freihandelsassoziation (Efta) unterzeichnet wurden.
Andererseits gibt es fast kein modernes Handelsabkommen (HA), das nicht auf WTO-Bestimmungen verweist. Seit Jahrzehnten werden multilateral vereinbarte Praktiken, Definitionen und Bestimmungen in RHA aufgenommen. Die WTO-Bestimmungen erleichtern so die Aushandlung von HA. Sie bilden die Grundlage, auf der jedes HA aufbaut und um sogenannte WTO-plus-Verpflichtungen ergänzt wird, die über den geltenden WTO-Rahmen hinausgehen.
In den letzten Jahren ist es kaum gelungen, multilaterale Verhandlungen abzuschliessen. Daher ist allgemein der Eindruck entstanden, der multilaterale Weg sei am Ende. Das Abkommen über Handelserleichterungen von der 9. WTO-Ministerkonferenz 2013 und das Übereinkommen über Fischereisubventionen von der 12. WTO-Ministerkonferenz 2022 sind die einzigen multilateralen HA, die seit der Gründung der WTO im Jahr 1995 abgeschlossen wurden. Dennoch wurden in den letzten Jahren in mehreren Bereichen schrittweise Fortschritte erzielt, so etwa beim WTO-Transparenzmechanismus für RHA.
Nachteile des bilateralen Wegs
Der multilaterale Weg ist naturgemäss schwieriger, da es viele unterschiedliche nationale Interessen gibt, die in Einklang gebracht werden müssen. Aus Mangel an Alternativen weichen die Schweiz sowie viele andere WTO-Mitglieder deshalb immer öfter auf die zweitbeste Lösung aus: regionale Handelsabkommen (RHA). Die Schweiz hat seit der Gründung der WTO 1995 im Rahmen der Efta 28 Handelsabkommen[1] mit 38 Partnern ausserhalb der EU abgeschlossen. Einige davon wurden inzwischen modernisiert, wie kürzlich das Abkommen mit Chile. Zudem hat die Schweiz in dieser Zeit auch bilaterale HA mit China, Japan und dem Vereinigten Königreich abgeschlossen.
Aber wenn doch die Aushandlung von Abkommen ausserhalb der WTO zurzeit offenbar die einzige Möglichkeit ist, warum spricht man beim bilateralen und plurilateralen Weg oft von einer «zweitbesten Option»? Erstens waren laut der WTO im Juli 2024 mehr als 350 RHA in Kraft.[2] Verglichen mit 1995 sind das über 300 mehr. Mit anderen Worten: Viele Länder, einschliesslich der direkten Konkurrenten der Efta, verfolgen dieselbe Strategie. Das mindert natürlich den Wert eines von der Efta erzielten präferenziellen Marktzugangs.
Zweitens sind die national tatsächlich angewendeten Zölle gemäss dem WTO-Meistbegünstigungsprinzip (MFN) in den letzten Jahren zurückgegangen. Beispielsweise hat die Schweiz 2024 einseitig alle Importzölle auf Industrieprodukte aufgehoben. Dieser Zollabbau bedeutet für die Handelspartner der Schweiz, dass die Präferenzspannen, die sie in Handelsabkommen ausgehandelt haben, zunehmend erodieren. Selbst wenn die Efta also schnell auf die Strategie ihrer wichtigsten Exportkonkurrenten mit anderen Partnern reagiert, um die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Exporte zu erhalten: Ihre Präferenzmarge gegenüber globalen Wettbewerbern schwindet mit der Zeit allmählich. Um die Präferenzspanne beizubehalten, braucht es laufend Nachverhandlungen beziehungsweise Modernisierungen der RHA.
Und drittens sind unterschiedliche Regeln, darunter auch die Ursprungsregeln, eine Herausforderung bei der Umsetzung von RHA. Mit ihnen lässt sich feststellen, ob eine Ware ganz oder zu einem gewissen Teil (be- oder verarbeitet) aus einem HA-Partnerland stammt und zum Präferenzzoll eingeführt werden darf oder nicht. Diese Regeln sehen in jedem HA anders aus und sind für Exporteure und Importeure alles andere als leicht zu verstehen. Manchmal ist ihre Einhaltung nicht nur finanziell unrentabel, sondern auch logistisch und organisatorisch anspruchsvoll, sodass einige Exporteure darauf verzichten und die Vorteile eines RHA gar nicht erst nutzen. Dieses Wirrwarr an Regeln stellt insbesondere für KMU eine Herausforderung dar.
Vorteile des bilateralen Wegs
Doch es gibt auch Positives zu nennen: Gemäss dem FTA-Monitor der Efta konnten die Exporteure aus den Efta-Mitgliedsstaaten 2022 durch die Nutzung von präferenziellem Marktzugang in 18 Partnerländern bis zu 480 Millionen Dollar an Zöllen einsparen.[3] Exporte in die EU und das Vereinigte Königreich sind in diesen Zahlen noch nicht mitberücksichtigt. Die Efta-Exporteure profitieren insbesondere bei Fischereiprodukten, Uhren, Maschinen, Arzneimitteln und Schmuck.
Neben Waren decken moderne RHA auch die Bereiche Dienstleistungen und Investitionen ab. Sie verbessern den Marktzugang für Dienstleistungserbringer und ermöglichen ihnen unter anderem Aufträge im Ausland. Zudem verbessern sie den rechtlichen Rahmen beispielsweise bei Lizenzierungen. Folglich sind die Efta-Staaten durch RHA für eine Reihe von Dienstleistern attraktiver geworden, so etwa auch beim modernisierten Handelsabkommen Efta – Chile.
Regionale Handelsabkommen konsolidieren
Angesichts der weltweit mehr als 350 HA und des Wirrwarrs an Regeln wäre eine «Konsolidierung» lohnenswert. Eine solche könnte Präferenzpraktiken in einen nicht diskriminierenden Rahmen innerhalb des multilateralen Handelssystems überführen. Das hätte durchaus Vorteile: Bei Waren würde dies beispielsweise die Kosten für den Ursprungsnachweis reduzieren.
Im Bereich der Dienstleistungen könnte man sich auf Fragen konzentrieren, die über den Marktzugang hinausgehen, wie etwa nationale Regulierungen, administrative Handelskosten und neue Handelsformen. Beispielsweise könnten die WTO-Regeln auch in anderen Bereichen wie Wettbewerb, elektronischem Handel und Umwelt aktualisiert werden. Dies würde die Transparenz und die Vorhersehbarkeit zusätzlich vergrössern. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass künftige Verhandlungen also auf Ergebnisse abzielen könnten, die über die heutigen WTO-plus-Verhandlungen hinausgehen.
Beide Abkommensformen werden weiter koexistieren
Wir plädieren nicht für die Abschaffung von RHA und erwarten auch nicht, dass dieser Trend so schnell abflacht. Vielmehr argumentieren wir, dass es Vorteile hätte, die in den letzten drei Jahrzehnten erzielten Ergebnisse bilateraler und regionaler Verhandlungen multilateral zu konsolidieren. Die Koexistenz multilateraler, regionaler oder bilateraler Abkommen wurde bereits von den Gründungsvätern des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (Gatt) anerkannt und spiegelt sich auch in den moderneren WTO-Regeln wider: RHA sind ein ideales Testfeld, aus dem das multilaterale Handelssystem lernen kann.
Höchstwahrscheinlich werden WTO-Regeln und RHA also auch in Zukunft koexistieren. Idealerweise sollten die beiden sich parallel weiterentwickeln und sich gegenseitig ergänzen. Allerdings: Solange die Konsolidierung auf multilateraler Ebene nicht stärker vorangetrieben wird, wird die Kluft zwischen RHA und den multilateralen Regeln weiter wachsen. Dies ist zum Nachteil des globalen Handelssystems und derjenigen Händler, welche von einem stärker integrierten, modernisierten und auf Regeln basierenden Handelsrahmen am meisten profitieren würden.
- Nicht mitgezählt sind das Freihandelsabkommen mit Indien und Moldau (nicht ratifiziert) sowie Israel (abgeschlossen 1993, vor WTO-Gründung). []
- Siehe WTO.org. []
- Die Zollersparnis entspricht der Differenz zwischen den multilateralen Zöllen und den Präferenzzöllen, der sogenannten Präferenzspanne, für Efta-Exporte, die beim Eintritt in FHA-Märkte im Ausland eine solche Präferenzbehandlung geniessen. []
Zitiervorschlag: Ugarte, Cristian; Acharya, Rohini (2024). Der internationale Handel braucht Regeln – am besten multilaterale. Die Volkswirtschaft, 26. November.