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Schweden: Tiefer Schuldenstand im Sozialstaat

Schweden hat die Staatsverschuldung im Griff – das war nicht immer so. Eine Erhöhung der Verschuldung steht jedoch in Schweden immer wieder zur Debatte.
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So kennt man Schweden. Doch das Land hat auch einige Überraschungen parat. (Bild: Keystone)

Als ich vor ein paar Monaten meine Stelle als Schweizer Botschafter in Schweden antrat, bestätigte sich mein Bild von diesem faszinierenden Land: unberührte Natur, hervorragende wirtschaftliche Entwicklung, höchste Innovationskraft, eine gewisse Gelassenheit, eine lebendige Kulturszene, sozialer Zusammenhalt und gelebte Weltoffenheit.

Hoch digitalisierter Sozialstaat

Dennoch hatte Schweden auch einige Überraschungen für mich parat. So stellte sich heraus, dass es die sogenannte Personennummer braucht, um in Schweden zu existieren – beispielsweise zur Eröffnung eines Bankkontos, für Onlinebestellungen, um ein Handyabo abzuschliessen oder Mitglied eines Fitnessclubs zu werden. Und ohne die digitale «Bank-ID» lässt sich kaum etwas bewerkstelligen. Auch scheint in Schweden die Bewältigung des Alltags nur möglich zu sein, wenn man über ein Mobiltelefon mit einer hohen Anzahl installierter Apps verfügt, denn diese sind für viele Lebensbereiche wie Parkieren, Post, Bank, Swish (das schwedische Pendant zu Twint) quasi unabdingbar. Die Unterschiede zwischen der Schweiz und Schweden sind – gerade im Alltagsleben – grösser, als ich angenommen hatte.

Schweden schafft es, eine innovative Wirtschaft und solide öffentliche Finanzen mit einem starken Sozialstaat zu kombinieren. So verfügen die Einwohner und Einwohnerinnen über ein stark subventioniertes öffentliches Gesundheitssystem, ein kostenloses Bildungssystem und einen Elternurlaub von 240 Tagen für jeden Elternteil. Das Land ist zudem ein Vorreiter, wenn es darum geht, hervorragende Bedingungen für die wirtschaftliche Entwicklung zu schaffen: etwa in den Bereichen Technologie, IT-Dienstleistungen, Klimatechnologie und Start-ups. Bekannte Technologie- und IT-Firmen wie Ericsson, Spotify, Klarna und Skype stammen aus Schweden.

Wie die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und sozialen Herausforderungen Schwedens gelagert sind, erschloss sich mir erst nach einiger Zeit vor Ort.

Rückblick: Hohe Inflation und rigorose Sparprogramme

Die Finanzlage Schwedens war beispielsweise nicht immer so rosig: In den 1980er-Jahren erlebte Schweden eine Inflationsphase, die 1991/1992 in eine tiefe wirtschaftliche Krise mündete. Insbesondere nach der Immobilien- und der darauffolgenden Bankenkrise wuchsen die Staatsausgaben rasant: 1990 betrug die Staatsverschuldung der schwedischen Zentralregierung gemäss den Zahlen des Internationalen Währungsfonds (IWF) zur Verschuldung des Zentralstaats[1] im Verhältnis zum BIP 40,2 Prozent, 1997 waren es bereits 80,5 Prozent. Beim Bund stieg die Verschuldungsquote im gleichen Zeitraum von 11 auf 22 Prozent. Allerdings: Aussagekräftiger sind die Zahlen zur Verschuldung des Gesamtstaats – welche auch Gemeinden und Kantone einschliessen: Gemäss dieser Definition stieg Schwedens Verschuldung zwischen 1990 und 1997 um rund 30 Prozentpunkte auf 67,4 Prozent, in der Schweiz um 20 Prozentpunkte auf 53,7 Prozent.[2]

Mit einer solch hohen Staatsverschuldung konnte es in Schweden schlicht nicht weitergehen. In einer ersten Phase, zunächst unter einer rechtsbürgerlichen Regierung und nach dem Regierungswechsel 1994 unter sozialdemokratischen Regierungen, wurden massive Sparprogramme durchgezogen. Beispielsweise wurden zwei Feiertage gestrichen und der ermässigte Mehrwertsteuersatz in der ersten Hälfte der 1990er-Jahre bis auf 21 Prozent erhöht.[3] Nach 1994, unter sozialdemokratischen Regierungen, wurden die Lohnersatzraten der Sozialversicherungen weiter auf 80 Prozent gesenkt. Gleichzeitig wurde die finanzielle Stabilität im Rentensystem gestärkt: Die Renten wurden an die wirtschaftliche Entwicklung gekoppelt und die Beiträge der steigenden Lebenserwartung angepasst.

Mitte der 1990er-Jahre wurden die Staatsschulden gezielt und mit Nachdruck abgebaut. Dies geschah ab 1996 auch mithilfe einer neu eingeführten Schuldenbremse und eines sogenannten Schuldenankers: Während die Schuldenbremse jeweils einen jährlichen Ausgabenplafonds festlegte, sorgte der Schuldenanker dafür, dass die gesamtstaatliche Verschuldung die Limite von 35 Prozent des BIP nicht (mehr) überschritt. Zur Erinnerung: In der Schweiz wurde die Schuldenbremse im Jahr 2003 eingeführt.

Zusätzlich führte Schweden 1996 ein Überschussziel von 2 Prozent für die Haushaltsplanung ein. Im Jahr 2007 wurde dieses auf 1 Prozent reduziert. Konkret bedeutet das Überschussziel, dass der gesamtstaatliche Finanzierungssaldo, also die Einnahmen abzüglich der Ausgaben, über einen Konjunkturzyklus hinweg durchschnittlich 1 Prozent des BIP betragen sollte. Wie in der Schweiz fliessen auch in Schweden die Überschüsse in den Schuldenabbau. Nach einem erstaunlichen Abbau des öffentlichen Schuldenbergs erfolgte 2019 eine weitere Senkung des Überschussziels auf 0,33 Prozent.

Wegen hohen Investitionsbedürfnisses unter Druck

Heute geht es Schweden finanzpolitisch gut, die öffentlichen Finanzen des schwedischen Zentralstaats sind auf einem gesunden Niveau. Bis 2023 hatte der Zentralstaat seine Verschuldung auf 32,2 Prozent des BIP gesenkt. Die Schulden des Bundes betrugen gleichzeitig 14,7 Prozent. Allerdings: Die Gesamtstaatsschulden Schwedens nach IWF beliefen sich 2023 auf 36,4 Prozent des BIP. Die gleiche Kennzahl, die in der Schweiz auch die Verschuldung von Kantonen und Gemeinden beinhaltet, lag 2023 bei 33,3 Prozent.

Doch nehmen in Schweden die Debatten über unzureichende öffentliche Investitionen zu. Im Fokus der Kritik stehen Investitionsrückstände im Infrastrukturbereich wie Strassen, Eisenbahn und Wohnungsbau, aber auch zugunsten von Umweltschutz, zur Stärkung des Rüstungsbereichs und zur Unterstützung der Ukraine. Um solch umfassende Investitionen zu finanzieren, wurde in einem Bericht des Finanzministeriums die Idee aufgebracht, eine Erhöhung des Schuldenankers auf 40 bis 50 Prozent des BIP zuzulassen. Die Reaktionen darauf waren kritisch – die diesbezügliche politische Diskussion scheint jedoch noch nicht abgeschlossen zu sein. Für 2025 rechnet die schwedische Regierung jedenfalls damit, dass die Verschuldung des Zentralstaats gemessen am BIP steigen wird.

Vor diesem Hintergrund kam es Mitte Oktober 2024 zu einer weiteren Anpassung der bisherigen Finanzpolitik: Mit der kompletten Streichung des Überschussziels setzt die rechtskonservative Regierung ab 2027 neu auf einen ausgeglichenen Staatshaushalt. Dieser Beschluss kam auch dank der Unterstützung der sozialdemokratischen Opposition zustande und ist entsprechend breit abgestützt. Die Streichung bedeutet, dass kein Überschuss mehr angepeilt wird und die Ausgaben den Einnahmen entsprechen dürfen. Das verschafft Schweden einen zusätzlichen jährlichen Budgetspielraum von etwa 25 Milliarden schwedischen Kronen, was rund 2 Milliarden Franken entspricht. Doch trotz der finanziellen Lage hält Schweden nach wie vor an den Leitlinien der Schuldenbremse und des Schuldenankers fest.

Keine Schuldenregel ohne Ausnahme

Seit den 1990er-Jahren, als Schuldenbremse und Schuldenanker eingeführt wurden, hat Schweden seine Staatsverschuldung immer wieder angepasst, um auf Krisen zu reagieren. Der Schuldenanker wurde in Krisen jeweils angehoben – aber anschliessend wieder gesenkt. Im Vergleich zur Schweiz ist die Verschuldung Schwedens nach IWF-Massstäben zur gesamtstaatlichen Verschuldung aber immer noch etwas höher. 2024 betrug die Verschuldung der Schweiz auf dieser Basis 31,9 Prozent, während die schwedische Schuldenquote bei 36,4 Prozent lag.[4]

Letzthin fragte mich ein Schwede im fortgeschrittenen Alter: «Ist die äusserst tiefe Staatsverschuldung der Schweiz von knapp 15 Prozent nicht kontraproduktiv?» Aus seiner Sicht sei eine flexible Staatsverschuldung im Rahmen von 30 bis 40 Prozent je nach Situation sinnvoll – unter der Voraussetzung, dass die Instrumente und der politische Wille vorhanden seien, diese auch wieder zu reduzieren. Der Fragesteller stand ganz offensichtlich unter dem Eindruck der sehr tiefen Schuldenzahlen der Schweiz in Bezug auf den Zentralstaat. Die effektiv vergleichbaren Schuldenquoten der beiden Gesamtstaaten, die auch Gemeinden und andere Gebietskörperschaften einschliesst, unterscheidet sich weniger als zunächst angenommen.

Die Frage des Schweden zielte aber generell auf die Staatsverschuldung der Schweiz: Nun, ob sich die Schweiz mehr Schulden leisten will, bleibt eine offene politische Frage.

  1. Siehe IWF, Central Government Debt[]
  2. Siehe IWF, General Government Debt (Stand: 2.12.2024). []
  3. Ab 1996 wurde er wiederum auf die heute geltenden 12 Prozent gesenkt. Pro memoria: Der Mehrwertsteuer-Normalsatz beträgt in Schweden 25 Prozent. []
  4. Siehe IWF, General Government Gross Debt (Stand: 2.12.2024). []

Zitiervorschlag: Junker, Adrian (2024). Schweden: Tiefer Schuldenstand im Sozialstaat. Die Volkswirtschaft, 12. Dezember.

Serie: Blick in die Welt Sweden Flag

Neugierig, was dieses oder jenes Land auszeichnet und mit der Schweiz verbindet? Schweizer Botschafterinnen und Botschafter im Ausland stellen ihr Gastland vor.

Staffel 1 widmet sich dem Thema «Staatsschulden» – von überraschend niedrigen bis zu extrem hohen. Monat für Monat nehmen wir Sie mit in ein neues Land. Startpunkt ist Schweden. Es folgen Argentinien, Kenia und Singapur.

Sweden Flag Schweden in Zahlen (2023)
Einwohner (Wachstum)a 10,5 Mio. (+0,5%)
Währung Schwedische Krone (SEK)
BIP pro Kopfb (kaufkraftbereinigt) 70’046 $ (CH: 93’054 $)
BIP-Wachstum 2023b -0,2% (CH: +0,7%)
Arbeitslosenrateb 7,7% (CH: 2,0%)
Schweizer Direktinvestitionen in Schweden (2022)d 2% aller ausländischen Direktinvestitionen (Rang 10)
Schwedische Direktinvestitionen in der Schweiz (2022)d 3% aller schwedischer Direktinvestitionen im Ausland (Rang 9)
Schweizer Exporte als Anteil aller Importe Schwedensd 0,1% (Rang 19)
Schwedische Exporte als Anteil aller Importe der Schweizd 0,5% (Rang 39)
Schweizer Warenimporte aus Schwedenc Maschinen (24%), Fahrzeuge (21%), Chemie und Pharma (18%)
Schweizer Exporte nach Schweden Chemie und Pharma (35%), Maschinen (24%), Präzisionsinstrumente, Uhren und Bijouterie (12%)
Schuldenquote Gesamtstaat (2024)b 36,4% (CH: 31,9%)
Schuldenquote Zentralstaatd 32,2% (CH: 14,7%)

a Weltbank, b IWF, World Economic Outlook, Oktober 2024 c Ohne Gold und Edelmetalle, d IWF