Internationale Arbeitsorganisation: Neue Rechtsgrundlagen für die Schweiz?

Ein Techniker im Schutzanzug: Seit 2022 gilt eine «sichere und gesunde Arbeitsumgebung» gemäss der Internationalen Arbeitsorganisation als Grundrecht. (Bild: Keystone)
Gemäss den jüngsten Schätzungen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) erlitten 2019 weltweit mehr als 395 Millionen Arbeitnehmende einen nicht tödlichen Arbeitsunfall. Rund 2,93 Millionen Arbeitnehmende starben an den Folgen von Berufsunfällen und Berufskrankheiten.[1] Diese Zahlen zeigen, dass Berufsrisiken als Folge gefährlicher Arbeitsbedingungen Realität sind. Ein Beispiel war etwa der Unfall in einer Kobaltmine in der Demokratischen Republik Kongo im Januar 2023, als starke Regenfälle zum Einsturz der Minen führten und sechs Menschen dabei ihr Leben verloren.
In der Schweiz sind die Arbeitssicherheit und der Gesundheitsschutz im internationalen Vergleich auf sehr hohem Niveau. Trotzdem können sich auch hier schwere Unfälle ereignen, wie etwa der Einsturz eines Gerüsts auf einer Baustelle bei Lausanne im Juli 2024 zeigt. Dabei sind drei Personen ums Leben gekommen und weitere wurden teilweise schwer verletzt. Der Kontext und die Ursachen der beiden Unfälle sind nicht vergleichbar – beide bestätigen jedoch, wie zentral der Gesundheitsschutz und die Sicherheit am Arbeitsplatz sind. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) hat 2022 «ein sicheres und gesundes Arbeitsumfeld» in die Liste ihrer grundlegenden Prinzipien und Rechte aufgenommen. Die Sonderorganisation der Vereinten Nationen wurde 1919 mit dem Zweck gegründet, weltweit die soziale Gerechtigkeit, die Menschenrechte sowie menschenwürdige Arbeitsbedingungen zu fördern.[2]
Sicheres und gesundes Arbeitsumfeld als Grundprinzip
Bei den Feierlichkeiten zu ihrem 100-jährigen Bestehen im Jahr 2019 erklärte die ILO, dass «sichere und gesunde Arbeitsbedingungen von grundlegender Bedeutung für menschenwürdige Arbeit» seien. Drei Jahre und eine Pandemie später, im Jahr 2022, hat die Organisation die Erklärung über grundlegende Prinzipien und Rechte bei der Arbeit entsprechend ergänzt. Die ursprüngliche Erklärung wurde 1998 als Antwort auf die soziale Dimension der Globalisierung verabschiedet und legte einen von allen Staaten anerkannten «Mindestsozialsockel» fest.
Mit der Erklärung verpflichten sich die ILO-Mitglieder, bestimmte grundlegende Prinzipien und Rechte einzuhalten, zu fördern und zu verwirklichen. Dazu gehören etwa die Vereinigungsfreiheit und die effektive Anerkennung des Rechts auf Kollektivverhandlungen; die Beseitigung aller Formen von Zwangs- oder Pflichtarbeit; die effektive Abschaffung der Kinderarbeit; die Beseitigung von Diskriminierungen in Beschäftigung und Beruf; und seit der Änderung von 2022 nun also auch ein sicheres und gesundes Arbeitsumfeld.
Die Übereinkommen der ILO sind bindendes Völkerrecht. Sie verpflichten die Staaten, die sie ratifizieren, Massnahmen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen zu ergreifen. Einige dieser Übereinkommen werden als «grundlegend» bezeichnet, da sie die oben genannten grundlegenden Prinzipien und Rechte bei der Arbeit konkretisieren (siehe Tabelle).
Grundlegende Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO)
Vereinigungsfreiheit und effektive Anerkennung des Rechts auf Kollektivverhandlungen: |
Beseitigung aller Formen von Zwangs- oder Pflichtarbeit: |
Beseitigung der Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf: |
Effektive Abschaffung der Kinderarbeit: |
Sicheres und gesundes Arbeitsumfeld: |
Neue grundlegende Übereinkommen
In der Änderung von 2022 werden zwei Übereinkommen, die den Grundsatz eines sicheren und gesunden Arbeitsumfelds definieren, als «grundlegend» anerkannt: das Übereinkommen Nr. 155 über Arbeitsschutz und Arbeitsumwelt sowie das Übereinkommen Nr. 187 über den Förderungsrahmen für den Arbeitsschutz.
Das erste Übereinkommen verlangt von den ILO-Mitgliedsstaaten, dass sie eine kohärente nationale Politik für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz entwickeln, umsetzen und regelmässig überprüfen. Ziel dieser Politik ist die Prävention von Unfällen und Gesundheitsschäden. Das Übereinkommen regelt Aspekte wie die Arbeitsplatzgestaltung, die Ausbildung von Arbeitsmedizinern und Arbeitnehmenden oder die Kommunikation zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmenden.
Das zweite Übereinkommen stärkt das Engagement der Mitgliedsstaaten für die Förderung eines sicheren und gesunden Arbeitsumfelds. Die Mitglieder werden darin ermutigt, im Inland ein System und ein Programm für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz zu errichten, um eine präventive Arbeitsschutzkultur zu fördern.
Mögliche Ratifizierung durch die Schweiz
Soll die Schweiz die ILO-Übereinkommen Nr. 155 und 187 also ratifizieren? 1983 kam der Bundesrat zum Schluss, dass er zwar das Übereinkommen Nr. 155 grundsätzlich befürworte, dass jedoch eine Ratifizierung aufgrund der fehlenden innerstaatlichen Harmonisierung zwischen den Bereichen Gesundheitsschutz und Arbeitssicherheit nicht möglich sei.[3] Anfang der 1980er-Jahre war das Bundesgesetz über die Unfallversicherung (UVG) noch nicht in Kraft, und es gab nur im Bereich des Gesundheitsschutzes am Arbeitsplatz eine innerstaatliche Koordination durch das Bundesgesetz über die Arbeit in Industrie, Gewerbe und Handel (ArG). Im Jahr 2008 kam die Schweizer Regierung aus ähnlichen Gründen ebenfalls zum Schluss, dass es nicht möglich sei, das ILO-Übereinkommen Nr. 187 zu ratifizieren.[4]
Derzeit werden die Bereiche Unfallverhütung, Berufskrankheiten und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz noch immer durch separate Gesetzgebungen und Kontrollorgane geregelt. Das ArG deckt ein breites Spektrum von Aspekten zur Gesundheit und Hygiene am Arbeitsplatz ab. Seine Einhaltung wird von den kantonalen Arbeitsinspektoraten, dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) und dem Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) überwacht. Das UVG garantiert den Arbeitnehmenden Leistungen bei Unfällen und beinhaltet im Gegenzug strenge Verpflichtungen zur Unfallverhütung. Die Aufsicht obliegt der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (Suva), den kantonalen Inspektoraten und den Bundesbehörden, insbesondere dem Seco.
Mehr Kohärenz in der Schweiz
Eine einheitlichere Politik im Bereich Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz wurde zunächst durch das Inkrafttreten des Bundesgesetzes über die Unfallversicherung (UVG) und später durch die Gründung der Eidgenössischen Koordinationskommission für Arbeitssicherheit (Ekas) gestärkt. Diese Kommission koordiniert die Präventionsmassnahmen, die Aufgabenbereiche im Vollzug und die einheitliche Anwendung der Vorschriften zur Prävention von Berufsunfällen und Berufskrankheiten. Vertreten sind darin die Versicherer, die Suva, die eidgenössischen und kantonalen Vollzugsorgane des ArG sowie die Arbeitgeber und die Arbeitnehmenden.
Das Seco und die kantonalen Inspektorate sind sowohl Vollzugsorgane des ArG als auch des UVG und überdies in der Ekas vertreten. Dies erleichtert den Austausch und die Koordination zwischen den verschiedenen Bereichen der Verhütung von Berufsunfällen und Berufskrankheiten sowie des Gesundheitsschutzes auf nationaler Ebene. Die Ekas kann auch die Koordination zwischen dem Vollzug der «Verordnung über die Verhütung von Unfällen und Berufskrankheiten (VUV)» und dem Vollzug anderer Gesetzgebungen weiterentwickeln.[5]
Im Laufe der Zeit wurden zusätzliche Strukturen und Instrumente geschaffen, um diesen Austausch weiter zu stärken. Während der Covid-19-Pandemie sah Artikel 26 der «Covid-19-Verordnung besondere Lage» beispielsweise vor, dass der Vollzug von Präventionsmassnahmen den Vollzugsbehörden des ArG und – was neu war – des UVG obliegt. Die beiden Vollzugsorgane standen damals in einem sehr regelmässigen Austausch. Sie arbeiten auch zusammen, wenn sich die Themenbereiche der Verhütung von Berufsunfällen und Berufskrankheiten und des Gesundheitsschutzes am Arbeitsplatz überschneiden. Wenn ein Landschaftsgärtner bei seiner Arbeit beispielsweise starker Hitze ausgesetzt ist und einen Sonnenstich erleidet, handelt es sich um einen Berufsunfall, der unter das UVG fällt. Doch auch Präventionsmassnahmen wie die Bereitstellung von Schutzkleidung gegen Hitze sind Teil des Gesundheitsschutzes. Entsprechend erarbeiten die Vollzugsorgane gemeinsam Empfehlungen zum Schutz der Arbeitnehmenden vor Hitze.
In seiner Botschaft vom 24. August 2016[6] bekräftigte der Bundesrat seinen Willen, alle grundlegenden Übereinkommen der ILO zu ratifizieren. Die Schweizer Regierung wird daher in Zusammenarbeit mit den Sozialpartnern eine mögliche Ratifizierung dieser beiden neuen grundlegenden Übereinkommen analysieren.
Umfangreicher Schweizer Arbeitsschutz
Doch wie steht es um den Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmenden in der Schweiz? Derzeit verzeichnet die Schweiz pro Jahr 0,2 Todesfälle und etwas mehr als 2 nicht tödliche Unfälle pro 100’000 Arbeitnehmende.[7] Im internationalen Vergleich sind das niedrige Werte. Die Gesetzgebung[8] und die Praxis in der Schweiz gewährleisten also ein hohes Niveau an Arbeitnehmerschutz. Doch der folgenschwere Einsturz des Gerüsts nahe Lausanne im vergangenen Sommer erinnert daran, dass weitere Anstrengungen notwendig sind. Eine wichtige Rolle spielen dabei auch die Zusammenarbeit zwischen Arbeitnehmenden und Arbeitgebern in den Unternehmen, der Dialog der Sozialpartner in der Ekas, die Arbeitsinspektion, welche über die Anwendung des Arbeitsgesetzes wacht, sowie die Arbeitsmedizin, die insbesondere die Unternehmen berät.
Die Schweiz ist trotz der ausstehenden Ratifizierung der beiden neuen ILO-Übereinkommen verpflichtet, einen Bericht vorzulegen über die von ihr getroffenen Massnahmen zur Einhaltung der grundlegenden Prinzipien und die Fortschritte und Schwierigkeiten in diesem Bereich. Zu den erzielten Fortschritten gehört beispielsweise das aktualisierte Modellkapitel über Handel und nachhaltige Entwicklung, das die Schweiz seit 2010 allen Verhandlungspartnern bei Freihandelsabkommen vorschlägt. Dieses Kapitel, das auf die grundlegenden Prinzipien und Rechte am Arbeitsplatz verweist, umfasst neu auch das Recht auf ein sicheres und gesundes Arbeitsumfeld.
- Siehe ILO (2023). A Call for Safer and Healthier Working Environments. []
- Für weitere Informationen zur ILO siehe den Schwerpunkt in «Die Volkswirtschaft»: 100 Jahre Dialog: Die Internationale Arbeitsorganisation. []
- BBl 1983 I 25. []
- BBl 2008 5569. []
- Siehe Art. 53 Bst. e VUV. []
- BBl 2016 7013. []
- Siehe Occupational Safety and Health Statistics (OSH) Database, ILOSTAT []
- In der Schweiz namentlich das Bundesgesetz vom 20. März 1981 über die Unfallversicherung (UVG) und die Verordnung vom 19. Dezember 1983 über die Verhütung von Unfällen und Berufskrankheiten (VUV); das Bundesgesetz vom 13. März 1964 über die Arbeit (ArG) und die dazugehörigen Verordnungen (Verordnung 1 vom 10. Mai 2000 (ArGV 1), Verordnung 2 vom 10. Mai 2000 (ArGV 2), Verordnung 3 vom 18. August 1993 (ArGV 3), Verordnung 4 vom 18. August 1993 (ArGV 4) und Verordnung 5 vom 28. September 2007 (ArGV 5) zum Arbeitsgesetz); sowie das Obligationenrecht vom 30. März 1911 (OR). []
Zitiervorschlag: Brugger, Céline (2025). Internationale Arbeitsorganisation: Neue Rechtsgrundlagen für die Schweiz? Die Volkswirtschaft, 23. Januar.