
Gemeinsam in die Anbauschlacht: Im Rahmen des obligatorischen Landdiensts während des Zweiten Weltkriegs helfen Studierende bei der Heuernte in Obergesteln VS. (Bild: Keystone)
Für welche Krisen soll der Staat vorsorgen und in welchem Ausmass? Diese Frage hat mit der Coronapandemie und dem Krieg in der Ukraine stark an Aktualität gewonnen. Der Bund setzt sich aktuell in vielen Bereichen damit auseinander: von einer verbesserten Krisenorganisation über Reservekraftwerke aufgrund der drohenden Energiemangellage bis hin zu gesteigerten Rüstungsausgaben und einer sichereren Arzneimittel-Versorgung[1].Wie wahrscheinlich es ist, dass eine bestimmte Krise eintritt, und ob eine entsprechende Vorbereitung angezeigt ist – darüber herrschen verschiedene Ansichten.
Doch die Diskussion ist nicht neu.[2] Die wirtschaftliche Landesversorgung der Schweiz war seit der Gründungszeit des Bundesstaats bereits mit vielen Herausforderungen konfrontiert. Der Blick zurück kann helfen, Lehren für die Zukunft zu ziehen.
Liberaler Ursprung und erste Herausforderungen
Bei der Gründung des Schweizerischen Bundesstaats 1848 war die Versorgungspolitik von einem wirtschaftsliberalen Gedanken geprägt. Der Bundesrat setzte auf freien Güteraustausch, niedrige Zölle und minimale staatliche Eingriffe. Die Idee war, durch internationale Handelsabkommen und den Anschluss ans europäische Eisenbahnnetz nationale Engpässe einfach mit Importen kompensieren zu können.
Während des Deutsch-Französischen Kriegs 1870/71 zeigten sich jedoch erstmals die Risiken dieses liberalen Ansatzes. Exportverbote der kriegführenden Nachbarländer führten zu Engpässen in der Schweiz. Der Bundesrat sah sich gezwungen, diplomatisch zu intervenieren sowie eine gewisse Kontrolle über die Güterversorgung zu übernehmen. So mussten die Schweizer Zollbehörden etwa sicherstellen, dass importiertes Getreide oder Brennstoffe nicht an eine kriegführende Partei weiterexportiert wurden. Diese Episode zeigte auf, dass die Schweiz schon damals als kleine Volkswirtschaft auf internationale Märkte angewiesen war.
Zu einem entscheidenden Wandel in der Versorgungspolitik des Bundes führte allerdings erst der Erste Weltkrieg. Denn trotz der Schweizer Neutralität verschärften Handelsblockaden die Schweizer Versorgungslage. Der Bundesrat reagierte zunächst zögerlich und uneinheitlich, sah sich aber immer mehr zu weitgehend staatlichen Interventionen gezwungen: Preisregulierungen und Rationierungen bei Lebensmitteln sowie die Schaffung des Eidgenössischen Kriegsernährungsamts markierten den Beginn einer interventionistischen Versorgungspolitik. Diese Massnahmen konnten die schlimmsten Folgen der Versorgungskrise während des Ersten Weltkriegs zwar abmildern, aber die entstandenen sozialen Spannungen nicht vollständig entschärfen. Die höheren Lebenshaltungskosten, die vor allem die Arbeiterschaft trafen, führten 1918 zum Landesstreik.
Institutionalisierte Landesversorgung
Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs wurde der so entstandene staatliche Versorgungsapparat nur teilweise wieder abgebaut. Zwar überliess man die Getreideversorgung wieder der Privatwirtschaft, mit der Beibehaltung der Getreidepflichtlager zog sich der Staat aber nicht vollständig aus der Versorgungsaufgabe zurück. Die schrittweise Institutionalisierung einer interventionistischen Versorgungspolitik wurde durch die Weltwirtschaftskrise ab 1929 wieder beschleunigt. Die Situation erforderte erneut umfangreiche staatliche Eingriffe. Dazu gehörten etwa die Kontrolle von Importen und Exporten in fast sämtlichen Bereichen (von Geflügel bis Pantoffeln) sowie die Schaffung von Syndikaten, um die inländische Verteilung der begrenzten Importkontingente zu verwalten. Diese Entwicklungen führten auch zu einer stärkeren Verzahnung von staatlichen und privaten Akteuren. Denn während der Bund mit anderen Staaten die Handelsmengen verhandelte, bestimmten privatrechtliche Organisationen (unter staatlicher Aufsicht) die Zuteilung der Kontingente auf die Unternehmen im Inland.
Die Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg und die seither getroffenen Massnahmen führten dazu, dass die Schweiz im Zweiten Weltkrieg weitaus besser vorbereitet war. Mit dem Sicherstellungsgesetz von 1938 und dem sogenannten Plan Wahlen wurde zusätzlich der Selbstversorgungsgrad bei Lebensmitteln stark erhöht. Es fand eine regelrechte «Anbauschlacht» statt. Viele öffentliche Plätze wurden zu Äckern umfunktioniert und Bauern dazu angehalten, auch im Berggebiet Ackerbau anstatt Viehhaltung zu betreiben. Von 1940 bis 1945 stieg der Selbstversorgungsgrad der Schweiz mit Lebensmitteln von 52 auf 70 Prozent. Zudem wurden rasch Pflichtlager, Rationierungen und eine umfassende staatliche Kontrolle der Wirtschaft eingeführt, um die Versorgung zu sichern. Die enge Kooperation zwischen Staat und Privatwirtschaft, das Schweizer Milizsystem, trug wesentlich zur Effizienz der Massnahmen bei.
Aufbau einer dauerhaften Vorsorge
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde umgehend mit wirtschaftlichen Vorbereitungen für einen erneuten Krieg begonnen. Ein solcher brach zwar nicht aus, die Bedrohung blieb während des Kalten Kriegs allerdings jahrzehntelang bestehen und führte zu einem Ansatz dauerhafter Kriegsvorsorge.
In den 1970er-Jahren rückten neue Herausforderungen wie Energieknappheiten in den Vordergrund. Dies führte während der beiden Ölpreiskrisen von 1973 und 1979 beispielsweise zu temporären Massnahmen wie Geschwindigkeitsbegrenzungen und Sonntagsfahrverboten, um Treibstoff zu sparen. Geprägt von diesen Ereignissen, fand ein Umdenken von reiner Kriegsvorsorge hin zu einer generellen Sicherstellung der Landesversorgung in schweren Mangellagen statt.
Neuausrichtung in Friedenszeiten
Mit dem Ende des Kalten Kriegs und der Verbreitung einer ordoliberalen Staatsidee änderte sich die Ausrichtung der Versorgungspolitik erneut. Die wirtschaftliche Landesversorgung orientierte sich wieder stärker an marktwirtschaftlichen Prinzipien, behielt jedoch interventionistische Instrumente wie die Pflichtlager bei – wenn auch in stark reduziertem Umfang, um in Krisen schnell reagieren zu können.
In den letzten Jahrzehnten konzentrierte sich die Versorgungspolitik auf die Bewältigung schwerer Mangellagen und die Stabilisierung der Wirtschaft – losgelöst von einem kriegerischen oder machtpolitischen Szenario. Der Staat tritt nur subsidiär ein, wenn die Märkte versagen und die Versorgung mit lebenswichtigen Gütern und Dienstleistungen ohne Interventionen nicht sichergestellt werden kann (siehe Kasten). Damit ist die heutige Versorgungspolitik ein historisch gewachsener Kompromiss: Sie verbindet liberale Marktmechanismen mit der Fähigkeit, die Versorgung durch staatliche Eingriffe zu sichern.
Die Coronapandemie, der Krieg in der Ukraine und die drohende Mangellage bei Gas und Strom haben die wirtschaftliche Landesversorgung in den letzten Jahren gefordert. Im Jahr 2022 beschloss der Bundesrat, die Organisation zu stärken und die gesetzlichen Grundlagen zu aktualisieren.[3] Diese Reform läuft zurzeit. Im Jahresbericht 2023/24 ist der aktuelle Stand der wirtschaftlichen Landesversorgung dargelegt. Viele Massnahmen sind vorbereitet, der Prüfstein wird aber die nächste Versorgungskrise sein.
Lehren aus der Geschichte
Vom Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 bis zur drohenden Strommangellage im Winter 2022/23 war die wirtschaftliche Landesversorgung der Schweiz also mit sehr unterschiedlichen Herausforderungen konfrontiert. Von einem sehr liberalen Ansatz in der Gründungszeit bis hin zu starkem Interventionismus während der Weltkriege hat die Versorgungspolitik gegensätzliche Ausprägungen erlebt. Dennoch haben sich zwei fundamentale Erkenntnisse über all diese Zeiten herausgebildet.
Erstens: Eine enge Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft und Staat ist in der Versorgungspolitik zwingend. Die Wirtschaft kennt die Versorgungslage am besten und kann eine effiziente Versorgung des Landes sicherstellen. Die Kompetenzen des Staats sind notwendig, um die Versorgung insbesondere in Krisen- und Kriegszeiten strategisch zu steuern.
Zweitens: Die wirtschaftliche Landesversorgung muss – organisatorisch wie rechtlich – ausreichend flexibel und agil aufgestellt sein, um auf Versorgungskrisen unterschiedlichsten Ursprungs und mit verschiedensten Vorlaufzeiten reagieren zu können. Damit ein solcher Vorbereitungsstand gewährleistet werden kann und man die knappen Ressourcen effizient nutzt, ist die Fokussierung auf ausgewählte lebenswichtige Güter und Dienstleistungen sinnvoll. Dazu gehören neben Lebensmitteln auch Energieträger und Arzneimittel.
- Siehe den Artikel «Versorgungsengpass bei Medikamenten – was tun?» in diesem Schwerpunkt. []
- Der Artikel stützt sich auf Cottier, Maurice (2014). Liberalismus oder Staatsintervention: Die Geschichte der Versorgungspolitik im Schweizer Bundesstaat, Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung. []
- Siehe Medienmitteilung «Bundesrat fällt Richtungsentscheide für bessere Versorgungssicherheit» vom 30.3.2022. []
Zitiervorschlag: Rupper, Lukas (2025). Schweizer Versorgungspolitik: Ein historisch gewachsener Kompromiss. Die Volkswirtschaft, 04. Februar.
Die wirtschaftliche Landesversorgung umfasst rund 250 Fachleute aus versorgungsrelevanten Branchen (Milizorganisation) sowie das Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung (BWL). Durch dieses Kooperationsmodell zwischen Wirtschaft und Staat können im Krisenfall das Know-how und die vorhandenen Strukturen der Privatwirtschaft für die Erfüllung staatlicher Aufgaben genutzt werden. In schweren Mangellagen, welche die Wirtschaft nicht selbst bewältigen kann, hat die wirtschaftliche Landesversorgung den Auftrag, die Versorgung des Landes mit lebenswichtigen Gütern und Dienstleistungen sicherzustellen. Ausgehend vom gesetzlichen Auftrag, konzentriert sie sich dabei auf die Gewährleistung der Versorgung des Landes auf den Gebieten Lebensmittel, Trinkwasser, Energie, Heilmittel, Logistik, Industrie sowie Informations- und Kommunikationstechnologien.