
America first: Die Abkehr vom Multilateralismus geht weiter. (Bild: Keystone)
Zu den komplexen Voraussetzungen unseres guten Lebens gehört jene multilaterale, handelsliberale Ordnung, welche die Vereinigten Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg federführend schufen. Ihr völkerrechtliches Fundament fand diese Ordnung im Prinzip der Unverletzlichkeit von Grenzen.
In der Wirtschaft orientierte man sich – in natürlicher Abkehr vom grassierenden Protektionismus der Zwischenkriegszeit – am Prinzip des freien Handels. Im Rahmen des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (Gatt) von 1947 wurde etwa die Technik der Meistbegünstigung als zentrale Regel etabliert. Gemäss dieser Regel müssen Handelsvorteile, die einem Handelspartner gewährt werden, auch allen anderen Partnerländern gewährt werden. Der Reigen von Zollsenkungen nahm damit seinen Anfang.
Das Ende der Geschichte?
Diese in Anlage und Ausrichtung offene Ordnung wurde schrittweise verfestigt und selektiv erweitert. Ihre globale Dimension fand sie nach dem Ende des Kalten Kriegs. Der Beitrag «Das Ende der Geschichte» des US-amerikanischen Politikwissenschaftlers Francis Fukuyama gab Anfang der 1990er-Jahre einer Wahrnehmung Ausdruck, die heute fast schon naiv erscheinen mag, damals aber weit über Washington hinaus verbreitet war. Seine These: In mittlerer und längerer Frist werde sich der politische Liberalismus offener Gesellschaften ebenso durchsetzen wie der wirtschaftliche Liberalismus mit offenen Märkten und internationaler Arbeitsteilung.
Westliche Hoffnungen auf eine globale Konvergenz im Anschluss an den Fall der Mauer erklären den Übergang vom Primat der Politik zum Primat der Wirtschaft. Russland kam, so schien es damals, auf Europa zu. 2001 wurde China Mitglied der Welthandelsorganisation (WTO). Es begann die Blütezeit der Globalisierung.
Alle konnten profitieren
Die liberale Welthandelsordnung hat über viele Jahrzehnte hinweg auch und gerade kleinere Gesellschaften vorangebracht. Zum Beispiel die Schweiz: Wäre sie tatsächlich zur zwanzigstgrössten Volkswirtschaft der Welt geworden, wenn sie die engen Grenzen ihres Heimmarkts nicht über Handel hätte kompensieren können — zunächst in Europa und später in der ganzen Welt?
Tatsache ist, dass die prinzipielle Offenheit der handelsliberalen Weltordnung aber nicht nur Singapur oder die Schweiz begünstigte, sondern auch die Türkei, Brasilien und den Rest der Welt. Gerade die vom Westen induzierte fortschreitende Diffusion von Wissen und Können hat die Emanzipation des Globalen Südens beschleunigt. Die Zahlen zeigen es: Der Anteil westlicher Staaten an der globalen Wirtschaftsleistung nimmt seit 60 Jahren stetig ab (siehe Abbildung). Neue aufstrebende Länder werden nicht nur wirtschaftlich stärker, sondern auch politisch selbstbewusster, lauter, fordernder.
Der Anteil westlicher Staaten nimmt seit Jahren ab (1980–2024)
INTERAKTIVE GRAFIK
Neue Zeiten
Es knirscht im Gebälk der Global Governance. Das strukturell verankerte Übergewicht westlicher Staaten etwa im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, in der Weltbank oder beim Währungsfonds wird nicht länger hingenommen. Wer belächelt heute noch die Brics-Staaten, wo sich inzwischen Dutzende Länder um eine Mitgliedschaft bemühen und die Relativierung des Dollars als Leitwährung zumindest beschleunigen wollen? Die Zeichen sind klar: Die westliche Prägung der Welt soll verblassen. Mit China ist uns ein Gigant erwachsen, der vielleicht noch nicht fähig, sicher aber willens ist, den Vereinigten Staaten auf der grossen Bühne die Stirn zu bieten.
Sind geopolitische Herausforderungen also schuld daran, dass westliche Regierungen heute wieder vermehrt auf Zölle zurückgreifen, dass sie die Weiterverbreitung von Technologien verhindern und den freien Kapitalverkehr unterbinden? Nicht nur. Auch nicht antizipierte, politisch aber wirkungsmächtige Folgen der Globalisierung spielen eine Rolle – selbst innerhalb offener Gesellschaften des Westens. Grösser gewordene Ungleichheiten, Verlust- und Abstiegsängste breiter Mittelschichten nähren politische Kräfte, die Schutz und Sicherheit versprechen und Nationalismen befeuern.
My country first
Die schrittweise Abkehr von Prinzipen des Multilateralismus sind nicht einfach Donald Trump zuzuschreiben.[1] In zentralen Bereichen der amerikanischen Aussen- und Sicherheitspolitik begann sie mit jenem «unilateral turn», den die Administration von George W. Bush im Gefolge des 11. September 2001 auf den Weg brachte. In anderen Bereichen wie der Wirtschafts- und Handelspolitik ist die Abkehr von klassisch liberalen Prinzipien in erster Linie auf protektionistische Reflexe zurückzuführen, wie sie innerhalb von Gesellschaften mit den oben angesprochenen Wahrnehmungen und Ängsten einhergehen.
Auch in Europa hat die Globalisierung Persönlichkeiten und Parteien hervorgebracht, die wuchtig in die Gegenrichtung ziehen. Wahlergebnisse zeigen, dass selbst sozioökonomische Gewinner der Globalisierung nicht länger bereit sind, für offene Handelsräume einzustehen. Über die Hintergründe lässt sich spekulieren. Tatsache ist, dass kaum jemand sich heute noch an eine Zeit erinnern kann, in der Handelsschranken das Angebot oder die Kaufkraft erheblich reduzierten.
Stehen uns solche Zeiten bevor? Im Namen der nationalen Sicherheit rufen die einen nach Industriepolitik, zur Sicherung von Arbeitsplätzen rufen andere nach Zöllen. Zum Schutz des Klimas werden nicht tarifäre Handelshemmnisse en masse verfügt, von Vorgaben zu Produktionsverfahren über das Beibringen von Nachhaltigkeitszertifikaten bis hin zu bürokratischen Hürden. Satte 26 Prozent des Welthandels waren 2022 von klimabedingten nicht tarifären Handelshemmnissen betroffen. Insgesamt werden unterdessen rund 70 Prozent des globalen Handels durch nicht tarifäre Handelshemmnisse erschwert, wie die Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (Unctad) vermeldet.
Auch wenn die Formen des Protektionismus unterschiedlich sind, führen sie letztlich zum gleichen Resultat. Seit geraumer Zeit erleben wir die fortschreitende, um nicht zu sagen überschiessende Rückkehr zum Primat der Politik. Die Wirtschaft muss sich beugen. Noch steigt das weltweite Handelsvolumen weiter an – für 2025 prognostiziert die WTO ein Wachstum von 3,3 Prozent[2] – das normative Fundament aber bröckelt.
Ohne festen Kompass
Weit über Donald Trump hinaus verrät der Westen jene Werte und Prinzipien, die seinen Wohlstand, seine Innovationskraft erst begründen. Oder wäre der Schutz nicht wettbewerbsfähiger Strukturen plötzlich eine gute Sache? Meint der wunderbar hinterhältige Begriff des «Friendshoring» anderes als eine politisch motivierte Rückkehr zu Handelsblöcken? Sind die neuen Formen von Industriepolitik nicht immer noch eine Repolitisierung wirtschaftlicher Entscheidungen, die Anreize nachhaltig verzerrt?
Wer sind wir, wofür stehen wir im Westen? Bei der Weltbank fahren wir munter fort, die alten Rezepte zu predigen: keine Zölle hier, weniger Subventionen dort. Selber schielen wir in eine andere Richtung, ohne den Richtungswechsel offen anzusprechen.[3] Unter dem Primat der Politik formatieren wir das Reich der Mitte zur grossen Gefahr. Dabei müssten wir China und Indien, Brasilien und Nigeria aus vielen, auch eigennützigen Gründen ein gutes Fortkommen wünschen – und jene offene, kompetitive Ordnung bestmöglich schützen, die uns alle weiter bringt als jede bekannte Alternative.
- Siehe Walker, William (2007). Nuclear Enlightenment and Counter-Enlightenment. International Affairs 83 (3): 431–53. []
- Siehe Welthandelsorganisation (2024). Global Trade Outlook and Statistics. April. []
- Zum Verlust eines kohärenten wirtschaftspolitischen Narrativs und zur wirtschaftspolitischen Orientierungslosigkeit des Westens siehe Branko Milanovics Kommentar vom 8. Januar 2025: «How the Mainstream Abandoned Universal Economic Principles». []
Zitiervorschlag: Frei, Christoph (2025). Selbstverrat in Raten: Die handelspolitische Kehrtwende des Westens. Die Volkswirtschaft, 03. Februar.