Die Nationalbank fühlt den Puls der Wirtschaft

Volle Lager nach der Coronapandemie bremsten das Umsatzwachstum vieler Unternehmen. (Bild: Keystone)
Für ihre Geldpolitik ist die Schweizerische Nationalbank (SNB) auf möglichst gute Einschätzungen zur Wirtschaftslage angewiesen.[1] Dafür verwendet sie verschiedenste Informationsquellen. Was viele nicht wissen: Dazu gehören auch Informationen aus Gesprächen mit Schweizer Unternehmen.
Dieser Informationskanal hat eine lange Tradition. Bereits kurz nach ihrer Gründung 1907 begann die SNB damit. Auch heute noch stellen die Gespräche mit den Unternehmen für die SNB eine wertvolle Ergänzung zu anderen Wirtschaftsdaten und modellbasierten Schätzungen dar. Heute fühlen acht Delegierte für regionale Wirtschaftskontakte den «Puls der Wirtschaft» und vertreten die SNB in den acht Schweizer Regionen: Genf/Jura/Neuenburg, Freiburg/Waadt/Wallis, Mittelland, Zürich, Nordwestschweiz, Ostschweiz, Zentralschweiz und italienischsprachige Schweiz.
Seit 2010 führen sie abgestützt auf einen strukturierten Leitfaden systematisch Gespräche mit Unternehmen aus allen Branchen. Der Leitfaden stellt ein einheitliches Vorgehen sicher und ermöglicht eine systematische qualitative und quantitative Auswertung der Informationen. Zusätzliche Informationen erhalten die Delegierten im vierteljährlichen Austausch mit einem regionalen Wirtschaftsbeirat. Diesem Gremium gehören in jeder Region drei bis vier Wirtschaftspersönlichkeiten an, die vom SNB-Bankrat für eine Amtsdauer von vier Jahren gewählt werden.[2]
Wertvolle Informationen für die Geldpolitik
Das Ziel der Unternehmensgespräche ist es, quartalsweise eine möglichst aktuelle und präzise Einschätzung der Lage und der Aussichten der Schweizer Wirtschaft aus Sicht der Unternehmen zu erhalten. Die Gespräche decken verschiedene Aspekte der Geschäftsentwicklung ab: Umsätze, Preise, Margen, Kapazitätsauslastung, Personalsituation, Lohnentwicklung, Investitionen sowie die Aussichten und die damit verbundenen Chancen und Risiken aus Sicht der Unternehmen. Darüber hinaus werden die Unternehmen auch auf ihre Inflationserwartungen angesprochen.
Diese Informationen fliessen anschliessend in die Entscheidungsgrundlagen des SNB-Direktoriums für die vierteljährliche geldpolitische Lagebeurteilung ein. Die Delegierten informieren das Direktorium zudem mehrmals pro Quartal über ihre aktuellen Einschätzungen aufgrund der Gespräche mit den Unternehmen und dem Wirtschaftsbeirat. Die Resultate sind in zusammengefasster Form auch der Öffentlichkeit zugänglich.[3] Die SNB ist indessen nicht die einzige Zentralbank, die solche direkten Gespräche mit den Unternehmen zur Beurteilung der Wirtschaftslage nützt. So gehen beispielsweise die Zentralbanken Kanadas und Australiens sehr ähnlich vor wie die SNB.
Interviewte Unternehmen wechseln vierteljährlich
Pro Jahr finden vier Befragungsrunden statt, die jeweils etwa sieben Wochen dauern. Die acht regionalen Delegierten führen je 30 Gespräche mit Mitgliedern der Geschäftsleitung, typischerweise CEOs oder CFOs. Die gesammelten Informationen basieren somit auf insgesamt 240 Interviews pro Quartal aus der ganzen Schweiz. In den Gesprächen erfassen die SNB-Delegierten vor allem qualitative Informationen. Der strukturierte Leitfaden ermöglicht, dass diese auf einer fünfstufigen Skala bewertet werden können und sich so auch quantitativ auswerten lassen.
Jedes Quartal werden andere Unternehmen befragt. Entscheidend für die Auswahl der befragten Firmen sind die Branchenstruktur der Schweizer Wirtschaft gemäss Bruttoinlandprodukt und Beschäftigung sowie die Anzahl Unternehmen pro Branche in den jeweiligen Regionen. Branchen mit stärkeren Konjunkturschwankungen sind leicht übervertreten. Dazu gehören vor allem Industriebranchen wie die Maschinen- und Metallindustrie, aber auch der Tourismus. Die öffentliche Verwaltung und die Landwirtschaft werden nicht befragt. Die Unternehmen in der Stichprobe haben in der Regel mindestens 50 Mitarbeitende. Wichtig für den Zugang zu den Unternehmen ist die Vertraulichkeit, mit der die SNB die erhaltenen Informationen behandelt. Die Firmen geben auf freiwilliger Basis Auskunft. Nur in seltenen Fällen wünschen die Unternehmen keinen Kontakt.
Vorteile des persönlichen Dialogs
Die Gespräche finden meist vor Ort beim Unternehmen statt und dauern etwa 90 Minuten. Der persönliche Dialog hat den wesentlichen Vorteil, dass die Delegierten auch die Hintergründe der jeweiligen Entwicklungen erfahren können. So berichteten Ende 2022 beispielsweise viele Unternehmen, dass ihre Lagerbestände an Vorprodukten nach der Coronapandemie aussergewöhnlich hoch waren (siehe Abbildung) und der Lagerabbau bei ihren Kunden die Nachfrage nach den eigenen Produkten bis ins Jahr 2024 hinein dämpfte. Sie schöpften daraus die Zuversicht, dass die Auftragsvolumen nach Abschluss des Lagerabbaus wieder anziehen würden. Dank dieser Einsicht konnten die Delegierten die damals trotz verhaltener Umsatzentwicklung positiven Aussichten der befragten Unternehmen plausibilisieren.
Ein wichtiger Teil der Gespräche ist zudem auch immer die Wirkung der aktuellen geldpolitischen Ausrichtung auf die Unternehmen. Zentrale Themen sind dabei, wie die Unternehmen den Einfluss der Zinsen und der Wechselkurse auf ihre Margensituation, ihre Personalplanung oder ihre Investitionstätigkeit beschreiben. Gleichzeitig beantworten die Delegierten als Botschafter der SNB die Fragen der Unternehmen und erläutern die Geldpolitik.
Unternehmen vermelden hohe Lagerbestände nach der Coronapandemie (2022–2024)
INTERAKTIVE GRAFIK
In Zeiten extremer Ereignisse besonders wertvoll
Im Gegensatz zu den offiziellen Statistiken beruhen die von den SNB-Delegierten gesammelten Informationen auf einer relativ kleinen Stichprobe, was die Möglichkeiten für sehr detaillierte statistische Auswertungen einschränkt. Ein wichtiger Vorteil ist jedoch ihre rasche Verfügbarkeit. Zudem erlauben die Antworten der Unternehmen einen aufschlussreichen Vergleich mit Konjunkturprognosen, die auf der Basis anderer Indikatoren und ökonometrischer Modelle erstellt werden.
Besonders wertvoll sind die Unternehmensinterviews in Zeiten grosser wirtschaftlicher Veränderungen. Hier stossen Prognosemodelle oft an ihre Grenzen. Die Erfahrungen während der Coronapandemie haben dies bestätigt: So konnten die Delegierten relativ früh berichten, wie die Unternehmen die Auswirkungen der Pandemie auf die Beschaffung, die eigene Lieferfähigkeit, die Liquidität oder die Personalplanung einschätzten.
Auch als die Inflation in den Jahren 2021 und 2022 deutlich anstieg, halfen die Rückmeldungen der Unternehmen, die Inflationsrisiken besser einzuschätzen. So berichteten die Firmen, dass sie im damaligen Umfeld Preiserhöhungen leichter durchsetzen konnten als üblich. Die SNB gelangte so schon früh zur Einsicht, dass die Preise insgesamt flexibler wurden, was die Ausbreitung der Preiserhöhungen von den anfänglich durch die Pandemie und den Krieg in der Ukraine verknappten Gütern auf andere Warengruppen erleichterte. Dies bestärkte die SNB in ihrem Entscheid, relativ rasch auf den Inflationsanstieg zu reagieren.[4]
Je nach Aktualität können bei den Interviews auch Spezialthemen aufgegriffen und vertieft werden. Themen der letzten Jahre waren beispielsweise die Veränderungen in den globalen Lieferketten, die Energiekrise oder die Auswirkungen der Übernahme der Credit Suisse durch die UBS auf die Unternehmen. Aktuell interessieren vor allem auch die konkreten Auswirkungen der wirtschaftspolitischen Entscheide der neuen US-Administration auf die Geschäftstätigkeit der Unternehmen. So hören die Delegierten in den jüngsten Gesprächen häufig, dass sich die bisher getroffenen Entscheide noch nicht spürbar auf den gegenwärtigen Geschäftsgang auswirken. Allerdings führt die Unsicherheit hinsichtlich weiterer Massnahmen, und vor allem auch hinsichtlich der Umsetzung schon angekündigter Entscheide, zu einer abwartenden Haltung und dämpft so die Investitionstätigkeit.
- Der Artikel greift stellenweise Elemente von Zanetti und Hunziker (2015) sowie Zanetti und Hunziker (2019) auf. []
- Es besteht für jedes Mitglied die Möglichkeit einer Wiederwahl für weitere vier Jahre, sodass die maximale Amtsdauer acht Jahre beträgt. []
- Eine Zusammenfassung der Informationen ist online verfügbar auf Snb.ch. Die Datenreihen sind im Datenportal der SNB auf Data.snb.ch verfügbar. []
- Siehe Jordan (2022). []
Literaturverzeichnis
- Jordan, Thomas J. (2022). Geldpolitik unter neuen Rahmenbedingungen: Herausforderungen für die Schweizerische Nationalbank. Jackson Hole Economic Policy Symposium: Reassessing Constraints on the Economy and Policy, Beitrag zum Podium «The Outlook for Policy Post-Pandemic»
- Zanetti, Attilio; Hunziker, Hans-Ueli (2015). Delegierte der Nationalbank messen den Puls der Wirtschaft in den Regionen. Die Volkswirtschaft, 16. April.
- Zanetti, Attilio; Hunziker, Hans-Ueli (2019). Die Unternehmensgespräche der SNB-Delegierten: Ziele und Methode. SNB Quartalsheft 4/2019.
Bibliographie
- Jordan, Thomas J. (2022). Geldpolitik unter neuen Rahmenbedingungen: Herausforderungen für die Schweizerische Nationalbank. Jackson Hole Economic Policy Symposium: Reassessing Constraints on the Economy and Policy, Beitrag zum Podium «The Outlook for Policy Post-Pandemic»
- Zanetti, Attilio; Hunziker, Hans-Ueli (2015). Delegierte der Nationalbank messen den Puls der Wirtschaft in den Regionen. Die Volkswirtschaft, 16. April.
- Zanetti, Attilio; Hunziker, Hans-Ueli (2019). Die Unternehmensgespräche der SNB-Delegierten: Ziele und Methode. SNB Quartalsheft 4/2019.
Zitiervorschlag: Frey, Astrid; Bäurle, Gregor (2025). Die Nationalbank fühlt den Puls der Wirtschaft. Die Volkswirtschaft, 06. März.