Singapur macht strategische Schulden

Der Changi Airport mit dem Jewel-Indoor-Wasserfall: Singapur verschuldet sich, um grosse Infrastrukturprojekte zu finanzieren. (Bild: Keystone)
«Die Schweiz Asiens» – so wird Singapur häufig bezeichnet. Der Vergleich mag auf den ersten Blick erstaunen. Denn der Stadt- und Inselstaat ist nur etwa so gross wie der Kanton Glarus, allerdings ohne Berge und mit tropischem Klima. Dennoch leben über 6 Millionen Menschen auf dieser kleinen Fläche – die Bevölkerungsdichte ist also ungleich höher als in der Schweiz. Zudem ist die Republik Singapur viel jünger. Sie entstand erst 1965 mit dem unfreiwilligen Austritt aus Malaysia. Kurz danach setzte in Singapur die Industrialisierung ein – rund 100 Jahre später als in der Schweiz. Doch der Aufstieg Singapurs ist erstaunlich: 1965 betrug das Pro-Kopf-Einkommen noch rund 500 Dollar, womit der Stadtstaat weltweit zu den ärmeren Ländern gehörte. Heute ist Singapur mit einem BIP von rund 140’000 Dollar pro Kopf kaufkraftbereinigt eines der reichsten Länder der Welt. Auch hinsichtlich der Staatsform gibt es Unterschiede: Singapur ist eine gelenkte Demokratie mit zentralistischem Staatsaufbau und einer Regierung, die seit 1959 von derselben Partei gestellt wird.
Allerdings gibt es auch viele Gemeinsamkeiten: Als Kleinstaaten müssen sich sowohl die Schweiz als auch Singapur besonders anstrengen, um international Gehör zu finden. Auch ihre Wirtschaftsstruktur ist ähnlich. Beide Länder haben wenig natürliche Ressourcen, sind vom Handel abhängig und verfügen über einen Finanzplatz mit internationaler Ausstrahlung. Deshalb legen sie grossen Wert auf Ausbildung, Innovation und die Verfügbarkeit hoch qualifizierter Arbeitskräfte. Beim «Global Innovation Index» der Weltorganisation für geistiges Eigentum (Wipo) liegt die Schweiz an erster und Singapur an vierter Stelle. Und – was viele vielleicht nicht wissen – auch Singapur ist multikulturell und hat vier Nationalsprachen: Mandarin, Malaiisch, Tamilisch und Englisch, wobei seit 1987 an allen Schulen Singapurs Englisch die obligatorische Unterrichtssprache ist. Aufgrund ihrer vielfältigen Gesellschaften tragen beide Länder grosse Sorge zur Wahrung des inneren Friedens und zum Schutz der ethnischen und religiösen Minderheiten.
Gleiche Ziele, gleiche Interessen
Beide Staaten sind ausgesprochene Handelsnationen. Der Waren- und Dienstleistungshandel gemessen am BIP betrug 2023 in der Schweiz 138 Prozent. In Singapur waren es sogar 311 Prozent. Es erstaunt daher nicht, dass beide Länder starke Befürworter des Freihandels und einer wirksamen Welthandelsorganisation (WTO) sind.
Aus bilateraler Sicht ist vor allem das Freihandelsabkommen mit der Europäischen Freihandelsassoziation (Efta) von Bedeutung, zu der neben der Schweiz auch Norwegen, Island und Liechtenstein gehören. Das Abkommen sollte bald durch ein digitales Wirtschaftsabkommen ergänzt werden, das den Freihandel auf digitale Güter und Dienstleistungen wie etwa Onlinekurse oder Fintech-Produkte ausdehnt und mehr Rechtssicherheit schafft.
Nennenswert sind auch die hohen Schweizer Direktinvestitionen in Singapur. 2023 betrugen diese rund 63 Milliarden Franken. Sie sind damit höher als die Schweizer Investitionen in China, Indien, Japan und Südkorea zusammen. Schliesslich ist Singapur auch das Land mit der höchsten Auslandspräsenz von Schweizer Hochschulen: Die ETH Zürich, die Universität St. Gallen (HSG), das IMD Lausanne und die Hotelfachschule Lausanne (EHL) haben Niederlassungen vor Ort. Diese forschen im Bereich Urbanisierung (ETH), bieten massgeschneiderte Programme für ihre Studierenden an (HSG, EHL) oder betätigen sich in der Managementausbildung (IMD, HSG).
Unterschiedliche Wirtschaftspolitik
Ebenfalls ähnlich sind sich die Schweiz und Singapur punkto liberaler Wirtschaftsordnung, effizienter Verwaltung und praktisch inexistenter Korruption. Gemäss dem «Corruption Perceptions Index» der Nichtregierungsorganisation Transparency International liegt Singapur auf dem 3. Rang, die Schweiz zwei Plätze dahinter.
Unterschiedliche Ansätze haben die beiden Länder hingegen bei der Wirtschaftspolitik. Während die Schweiz üblicherweise die Rahmenbedingungen setzt und alles andere der Privatinitiative überlässt («bottom-up»), hat Singapur weniger Berührungsängste mit Industriepolitik: Vieles wird von der Regierung strategisch geplant und umgesetzt («top-down»). So bestehen über 20 «Industry Transformation Maps», die für einen Grossteil der Industriesektoren über fünf Jahre die strategische Marschrichtung und die Umsetzungsziele vorgeben.
Beide Länder rühmen sich einer soliden und vorsichtigen Finanzpolitik. Auf der Einnahmenseite ist die Schweizer Finanzordnung im Vergleich zu Singapur durch den Steuerwettbewerb zwischen Gemeinden und Kantonen jedoch sehr viel dezentraler. Zwar ist der maximale Einkommenssteuersatz für Privatpersonen im Stadtstaat mit 24 Prozent mehrheitlich tiefer als in der Schweiz, wo er in gewissen Kantonen bei hohen Einkommen weit über 30 Prozent beträgt. Bei den Unternehmenssteuern gilt in Singapur jedoch ein Satz von 17 Prozent, womit die Schweiz in etlichen Kantonen grundsätzlich kompetitiver ist. Dies dürfte sich aufgrund der von beiden Ländern akzeptierten OECD-Mindeststeuer für grosse international tätige Unternehmen künftig etwas angleichen.
Hohe Verschuldung wegen staatlicher Reserven
Interessant ist ein Blick auf die Staatsschulden. In der Schweiz beträgt die Bruttoschuldenquote (Bruttoschulden als Anteil des BIP) rund ein Drittel des BIP, in Singapur sind es 175 Prozent. Bei all den Ähnlichkeiten: Wie kann das sein? Der Grund ist, dass Singapur unter anderem Schulden macht, um den eigenen Kapitalmarkt zu fördern, grosse Infrastrukturprojekte (Hafen, Flughafen, Landgewinnung) zu finanzieren oder die Staatsreserven zu steuern. Die Schulden werden also nicht zur Finanzierung laufender Staatsausgaben, sondern zur Tätigung von Investitionen verwendet, die ihrerseits wiederum Erträge abwerfen können. Den hohen staatlichen Schulden stehen somit noch höhere Reserven gegenüber: Der staatliche Investmentfond Temasek beispielsweise investiert direkt in Unternehmen mit Fokus auf Singapur und übriges Asien. Er hat ein Nettovermögen von 291 Milliarden US-Dollar. Der Staatsfonds GIC ist konservativer ausgerichtet und investiert weltweit in Wertschriften, Immobilien und andere Vermögenswerte. Er verwaltet aktuell ein Vermögen von geschätzt 800 Milliarden US-Dollar. Beiden ist gemeinsam, dass sie langfristig und strategisch anlegen und dabei auch Nachhaltigkeitskriterien berücksichtigen.
Wie die Schweiz kennt auch Singapur eine Art Schuldenbremse: Die Regierung ist angehalten, über die Dauer ihres Mandats einen ausgeglichenen Haushalt zu präsentieren. In der Praxis resultiert oft ein Überschuss. Bezügen aus früheren Reserven – zu denen auch Temasek und GIC gehören – sind Grenzen gesetzt: Für das laufende Budget dürfen maximal 50 Prozent der langfristig erwarteten Erträge der Staatsfonds verwendet werden. Der genaue Betrag sowie alle anderen Entnahmen aus den früher angehäuften Reserven bedürfen der Zustimmung der Regierung und des Staatspräsidenten («double lock»). In der Vergangenheit wurden die Reserven während der Finanzkrise 2008 und der Covid-19-Pandemie benutzt. Die Staatsfonds geben Singapur Sicherheit und finanzpolitischen Handlungsspielraum in ungewissen Zeiten. Auf internationaler Ebene sind sie ein attraktiver Standortfaktor, weil sie Singapurs Steuerbelastung tief halten, innovative Firmen anziehen und personelle Netzwerke eröffnen.
Die Schweiz als Vorbild
Die Schweiz hat in Singapur einen ausgezeichneten Ruf: Zum einen hat der erste Premierminister Lee Kuan Yew nach der Staatsgründung die Schweiz und ihre Erfolgsfaktoren studieren lassen. Zum anderen hat sein Nachfolger, Goh Chok Tong, schon in den 1980er-Jahren das Ziel formuliert, dass Singapur bis 1999 «Swiss standards of living» erreichen soll. Zudem ist die Schweiz vor Ort sehr sichtbar: Die Schweizer Gemeinschaft besteht aus 2600 Personen und rund 450 Schweizer Firmen, die für gut 25’000 Arbeitsplätze verantwortlich sind. Neben den vier erwähnten Hochschulen ist unser Land mit dem 1871 gegründeten Schweizer Club (notabene einer der grössten privaten Landbesitzer in Singapur), der Schweizer Botschaft, einer Schweizer Schule, der Handelskammer, einem Schweizer Verein und einem Büro der Schweizerischen Nationalbank vertreten. Obwohl mehr als 10’000 km entfernt, ist die Schweiz im Stadtstaat also sehr präsent, und die Bezeichnung Singapurs als die Schweiz Asiens hat auch daher durchaus ihre Berechtigung.
Zitiervorschlag: Grütter, Frank (2025). Singapur macht strategische Schulden. Die Volkswirtschaft, 04. März.

Einwohner (Wachstum)a | 6,04 Millionen (+4,9%) |
Währung | Singapur-Dollar (SGD) |
BIP pro Kopfc (kaufkraftbereinigt) | 141’553 US-Dollar (CH: 93’054 US-Dollar) |
BIP-Wachstum (2024)c | 2,6% (CH: +1,3%) |
Arbeitslosenrate (ILO-Modell)b | 3,4% (CH: 4,0%) |
Schweizer Direktinvestitionen in Singapurd | 65 Mrd. US-Dollar (2,7% aller ausländischen Direktinvestitionen in Singapur) |
Singapurische Direktinvestitionen in der Schweiz | keine Angaben |
Schweizer Exporte als Anteil aller Importe Singapursd (nur Waren, 2022) | 2,4% (11. Rang) |
Singapurische Exporte als Anteil aller Importe der Schweizd (nur Waren, 2022) | 1,3% (16. Rang) |
Schweizer Warenimporte aus Singapure | Chemie und Pharma (83,9%); Präzisionsinstrumente, Uhren und Bijouterie (12,2%); Maschinen, Geräte, Elektronik (3,2%) |
Schweizer Warenexporte nach Singapure | Chemie und Pharma (47,7%); Präzisionsinstrumente, Uhren und Bijouterie (39,7%); Maschinen, Geräte, Elektronik (5,7%) |
Schuldenquote Gesamtstaatc | 174,8% (CH: 33,3%) |
a Statistikamt Singapur b Weltbank c IWF (2024). World Economic Outlook, Oktober. d IWF e Bundesamt für Zoll und Grenzsicherheit (Stand: 10.02.2025)

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