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Deutschland lockert seine Schuldenbremse

Deutschland erlaubt eine höhere Neuverschuldung für Verteidigung und Infrastruktur. Damit ändert die Regierung ihre Finanzpolitik grundlegend.
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Nach Jahren des Sparens investiert Deutschland wieder mehr in seine Infrastruktur. Abriss einer veralteten Autobahnbrücke in Berlin. (Bild: Keystone)

Nach der Bundestagswahl Ende Februar 2025 beurteilte Friedrich Merz die sicherheits- und finanzpolitische Lage Deutschlands neu. Auslöser dafür waren die geopolitischen Entwicklungen und insbesondere die veränderte Haltung der USA zur internationalen Sicherheitsordnung. Dies führte zu einem Richtungswechsel in der deutschen Finanzpolitik: Die Regierung beschloss eine Lockerung der Schuldenbremse für Verteidigungsausgaben und die Einrichtung eines Sondervermögens für Infrastruktur. Damit sollen einerseits Landes- und Bündnisverteidigung gestärkt und andererseits deutlich mehr in die Infrastruktur investiert werden. Zudem sollen die Bundesländer und Kommunen gestärkt werden. Insgesamt sollen die damit verbundenen Investitionen das Wachstumspotenzial der stagnierenden deutschen Wirtschaft langfristig erhöhen.

Richtungswechsel in der deutschen Finanzpolitik

Zentrales Element des Richtungswechsels in der Finanzpolitik ist die Reform der im Grundgesetz verankerten Schuldenbremse. Mit der Reform sind neu Ausgaben für die Verteidigung, die 1 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) überschreiten, von der Schuldenbremse ausgenommen. Zudem dürfen neu auch die Länder eine strukturelle – also eine um die konjunkturelle Entwicklung bereinigte – Nettoneuverschuldung von 0,35 Prozent des Bruttoinlandprodukts tätigen. Bisher war das nur für den Bund möglich.[1]

Zusätzlich wurde ein Sondervermögen in der Höhe von 500 Milliarden Euro über eine Laufzeit von zwölf Jahren für die Infrastruktur beschlossen. Diese zusätzliche Kreditfinanzierung soll den Ausbau und die Erneuerung der Verkehrswege und der Energieinfrastruktur ermöglichen. Auch sollen damit Digitalisierung und Forschung vorangetrieben sowie in Gesundheit, Betreuung und Bildung investiert werden. Von den 500 Milliarden Euro gehen 100 Milliarden direkt an Bundesländer und Kommunen, weitere 100 Milliarden in den Klima- und Transformationsfonds, um das Ziel der Klimaneutralität bis 2045 zu unterstützen.

Diese Entscheide erweitern den finanziellen Spielraum Deutschlands erheblich: Künftig kann der Bund die jährlichen öffentlichen Ausgaben um bis zu 4 Prozent des BIP erhöhen. Das hat voraussichtlich auch Auswirkungen auf die Schuldenquote – also die Staatsschulden im Verhältnis zur gesamten Wirtschaftsleistung eines Landes (BIP).

Seit der Einführung der Schuldenbremse für das Budgetjahr 2011 ist die Schuldenquote Deutschlands von 80 Prozent des BIP auf 62,5 Prozent im Jahr 2024 gesunken (siehe Abbildung). Gemäss Expertenschätzungen könnte sie aufgrund der Reform bis 2030 auf rund 70 bis 90 Prozent ansteigen – je nachdem, wie stark Deutschland den neuen fiskalischen Spielraum ausschöpft und wie stark die Wirtschaft wächst.[2] Denn insbesondere höhere Verteidigungsausgaben können das Wirtschaftswachstum positiv beeinflussen.

Die Verschuldung Deutschlands könnte bis auf 90 Prozent des BIP ansteigen

INTERAKTIVE GRAFIK
Quelle: OECD / eigene Darstellung auf Grundlage der Bandbreite potenzieller Entwicklungen der Schuldenquote gemäss Experteneinschätzungen / Die Volkswirtschaft

Wirtschaftspolitische Einschätzungen

Wirtschaftspolitische Stimmen in Deutschland reagierten unterschiedlich auf die finanzpolitische Wende. Es herrscht weitestgehend Konsens über den Investitionsbedarf und die sicherheitspolitischen Herausforderungen, die kreditfinanzierte Mehrausgaben rechtfertigen. So begrüssen renommierte Institute wie das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung und das Kiel Institut für Weltwirtschaft den finanzpolitischen Richtungswechsel.[3] Zusätzliche Verteidigungsausgaben können die Wirtschaft kurzfristig ankurbeln und gleichzeitig das langfristige Wirtschaftswachstum stärken – sofern sie auch in Forschung und Entwicklung zukunftsgerichteter Technologien fliessen.

Die Kritik an der Reform der Schuldenbremse und dem neuen Sondervermögen bezieht sich vor allem auf deren Ausgestaltung und die langfristigen fiskalischen Auswirkungen. So wird kritisiert, dass verbindliche Vorgaben fehlen, um zu vermeiden, dass Kernaufgaben des Staats – wie Verteidigung und öffentliche Investitionen – dauerhaft mit Schulden finanziert werden. Auch fehlt es an Vorkehrungen, um sicherzustellen, dass die zusätzlichen Mittel gezielt und in Abgrenzung zum regulären Haushalt verwendet werden.[4] Die Möglichkeit einer unbegrenzten Schuldenfinanzierung für Verteidigungsausgaben sendet zwar ein glaubwürdiges Signal zur Stärkung der Verteidigungsfähigkeit, sie senkt jedoch zugleich Anreize für einen effizienten Mitteleinsatz. Hinzu kommen Bedenken, dass aufgrund der schuldenfinanzierten wirtschaftlichen Impulse wichtige strukturelle Reformen in Bereichen wie Bürokratieabbau, Altersvorsorge und Gesundheitswesen nur zögerlich angegangen werden.[5] Zudem dürfte die steigende Anzahl an Sondervermögen die Budgettransparenz senken und somit die parlamentarische Budgetkontrolle erschweren.

International wurde die finanzpolitische Wende mehrheitlich begrüsst.[6] Erhofft werden positive Wachstumsimpulse für die stagnierende deutsche Wirtschaft, welche auch auf Europa – inklusive der Schweiz – wirken könnten. Auch die Finanzmärkte reagierten grundsätzlich positiv. Trotz der zu erwartenden höheren Staatsverschuldung sieht der Kapitalmarkt kein erhöhtes Kreditausfallrisiko für Deutschland.

EU-Fiskalregeln sind strenger

Deutschland hat über einen langen Zeitraum als fiskalischer Stabilitätsanker in der EU gewirkt. Der Richtungswechsel könnte jedoch die finanzpolitische Disziplin in Deutschland schwächen, die seit der Einführung der Schuldenbremse vorherrschte. Auch könnten die erst kürzlich reformierten EU-Fiskalregeln[7] an Glaubwürdigkeit verlieren. Denn die Reform hat zur Folge, dass nun die Schuldenbremse weniger streng ist als die EU-Fiskalregeln.

Seit März 2025 können die EU-Länder eine nationale Ausweichklausel beantragen, welche die EU-Fiskalregeln temporär lockert. Diese Ausweichklausel erlaubt, zusätzliche Verteidigungsausgaben in den kommenden vier Jahren im Umfang von maximal 1,5 Prozent des BIP mit Krediten zu finanzieren. Allerdings strapaziert die Reform in Deutschland, gerade auch wegen der neuen Verschuldungsmöglichkeiten für die Bundesländer und das Sondervermögen, die EU-Fiskalregeln erheblich, selbst unter Anrufung der nationalen Ausweichklausel.[8] Wenn Deutschland als grösstes EU-Land die gemeinsamen Fiskalregeln nicht einhält, könnten sie auch in anderen Mitgliedsstaaten an Bindungskraft verlieren.[9] Zweifel an der Schuldentragfähigkeit einzelner Staaten und ein finanzpolitisch weniger diszipliniertes Deutschland bergen Risiken für die Finanz- und Preisstabilität der Eurozone und damit auch für die Schweiz, die wirtschaftlich eng mit der EU verflochten ist.

Der finanzpolitische Richtungswechsel in Deutschland kann auch in der Schweiz vermehrt Diskussionen über eine Lockerung der hiesigen Schuldenbremse auslösen.[10] Es gibt jedoch verschiedene Gründe, die gegen eine Lockerung sprechen. Erstens besteht in der Schweiz – anders als in Deutschland – kein offensichtlicher Nachholbedarf bei der öffentlichen Infrastruktur. Zweitens sollen steigende Verteidigungsausgaben nicht durch neue Schulden finanziert werden. Drittens hat sich die Schuldenbremse seit ihrer Einführung 2003 bewährt. Sie ist politisch breit abgestützt, hat zu einer Reduktion der Schuldenquote geführt und den Budgetprozess verbessert. Ausgeglichene Haushalte und eine niedrige Schuldenquote schaffen finanzpolitischen Spielraum für Krisenzeiten.

  1. Anders als die deutsche Schuldenbremse strebt die schweizerische Schuldenbremse einen mittelfristig ausgeglichenen Haushalt an. Damit zielt sie auf eine Stabilisierung der nominalen Schulden. Sie ist damit strenger als die deutsche Schuldenbremse. []
  2. Siehe beispielsweise Bruegel (2025), Büttner (2025), IfW Kiel (2025), SVR (2025), Feld, Grimm und Wieland (2025) sowie ZEW (2025). []
  3. Siehe Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (2025) und Kiel Institut für Weltwirtschaft (2025). []
  4. Siehe Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (2025). []
  5. Siehe Ifo Institut (2025). []
  6. Siehe Bruegel (2025), Oxford Economics (2025) und Internationaler Währungsfonds (2025). []
  7. Siehe Economic and Fiscal Governance – European Commission. []
  8. Siehe Büttner (2025). []
  9. Siehe Feld et al. (2025). []
  10. Siehe zum Beispiel Motion Addor 25.3408. []

Literaturverzeichnis

Bibliographie

Zitiervorschlag: Brändle, Thomas; Lerch, Benjamin; Schmassmann, Samuel (2025). Deutschland lockert seine Schuldenbremse. Die Volkswirtschaft, 05. August.