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Klimawandel: Der globale Norden hat die Kontrolle verloren

Die Globalisierung hat die umweltverschmutzende Produktion in den Süden verlagert. Das rächt sich. Denn der Klimawandel ist global und unabhängig davon, in welchem Land CO2 ausgestossen wird.

Klimawandel: Der globale Norden hat die Kontrolle verloren

War die Umweltverschmutzung früher meist regional begrenzt, ist heute der CO2-Ausstoss ein globales Problem. (Bild: Keystone)

Das Einkommen auf der Welt ist im Jahr 2022 nach wie vor sehr ungleich verteilt. Das nominale Pro-Kopf-Einkommen in Indien beträgt nur ein Zehntel des Pro-Kopf-Einkommens in der Schweiz, dasjenige von China rund ein Viertel. Und die grosse Kluft zwischen den Entwicklungsländern und den Industrieländern schliesst sich, wenn überhaupt, nur sehr langsam.

Gleichzeitig hat der internationale Handel in diesem Jahrhundert trotz der turbulenten Jahre der Finanzkrise jährlich um durchschnittlich 7 Prozent zugenommen. Die Globalisierung und die Integration Chinas in die Weltwirtschaft haben diese Entwicklung beschleunigt.

Umweltverschmutzung auslagern

Diese grossen Einkommensunterschiede und der zunehmende internationale Handel gehen mit der wachsenden Sorge über negative Auswirkungen auf die Umwelt einher. Die sogenannte Pollution-Haven-Hypothese (PHH) – aufgestellt 1994 von Brian Copeland und mir[1] – bringt die Problematik verkürzt so auf den Punkt: Wenn sich die Bewohner des reichen Nordens und des armen Südens in ihrem Pro-Kopf-Einkommen stark unterscheiden und sich dies in unterschiedlich strengen Umweltregulierungen widerspiegelt, dann wird die Globalisierung dazu führen, dass stark umweltverschmutzende Produktionen in einkommensschwächere südliche Regionen mit weniger strengen Umweltvorschriften verlagert werden.

Die Hypothese leuchtet ein. Doch fördern Handelsliberalisierungen die globale Umweltverschmutzung tatsächlich? Um diese Frage zu beantworten, gilt es drei Effekte zu berücksichtigen, die sich teilweise gegenläufig verhalten: der Skaleneffekt, der technische Effekt und der Kompositionseffekt.[2]

Der Skaleneffekt besagt, dass die Globalisierung wie jede grössere Handelsliberalisierung zu einem Anstieg der Durchschnittseinkommen und des realen BIP führt. Damit steigt die Produktion, und dieser Produktionsanstieg führt – bei sonst gleichen Bedingungen – zu mehr Umweltverschmutzung.

Der technische Effekt zeigt in die andere Richtung. Denn mit dem BIP-Anstieg und dem höheren Pro-Kopf-Einkommen steigt auch die Nachfrage der Bürger nach einer sauberen Umwelt. Wenn die Regierungen darauf mit strengeren Umweltnormen reagieren, müssen die Unternehmen sauberere Produktionstechniken anwenden. Bei sonst gleichen Bedingungen verringert dies die Umweltverschmutzung.

Und schliesslich der Kompositionseffekt: Die Globalisierung fördert eine länderübergreifende Spezialisierung. Führt diese zu einer stärker umweltverschmutzenden Produktion in einem gewissen Land, dann erhöht dies die Umweltverschmutzung in diesem Land. Spezialisiert sich ein Land hingegen auf eine sauberere Industrie, verringert dies dessen Umweltbelastung.

Drei Prognosen

Mit der Pollution-Haven-Hypothese lässt sich einschätzen, wie sich diese drei Effekte entwickeln könnten.

Erstens: Wenn der reiche Norden seine schmutzigsten Industrien aufgibt und der ärmere Süden die Produktion in genau diesen Sektoren ausweitet, führt der Kompositionseffekt dazu, dass die Umweltverschmutzung im Süden zu- und im Norden abnimmt.

Zweitens: Wenn der Süden der Produzent von schmutzigen Gütern mit den niedrigsten Kosten ist, bedeutet dies implizit, dass der Süden bereit ist, höhere Verschmutzungsgrade in Kauf zu nehmen. Vor die Wahl gestellt, entscheidet sich die dortige Bevölkerung zwischen materiellem Wohlstand (von dem sie heute wenig hat) und ökologischer Sauberkeit eher für Wohlstand. Dies impliziert, dass im Süden der Skaleneffekt den technischen Effekt überwiegt. Unter dem Strich nimmt die Umweltverschmutzung im Süden zu, weil der Kompositionseffekt überwiegt.

Und drittens: Im Norden senkt der Kompositionseffekt die Verschmutzung, während sich der Skalen- und der technische Effekt weitgehend ausgleichen. Die Verschmutzung im Norden geht zurück.

Was sagt die Empirie?

Doch lassen sich die Kernannahmen hinter diesen drei Prognosen empirisch bestätigen? Die erste Annahme besagt, dass Menschen mit höherem Einkommen ein grösseres Bedürfnis nach Umweltschutz haben und in der Lage sind, über den politischen Prozess Veränderungen zu erreichen (technischer Effekt). Infolgedessen sollte es in Ländern mit hohem Einkommen strengere Vorschriften und in Ländern mit niedrigem Einkommen weniger strenge Vorschriften geben. Diese These wird empirisch weitgehend bestätigt.

Die zweite Annahme geht davon, dass die Umweltkosten für die Firmen ein entscheidender Faktor bei der Standortentscheidung sind. Hier hat sich die Hypothese weniger gut bewährt. Zwar gibt es inzwischen zahlreiche empirische Belege aus den USA, Kanada und Europa[3], dass verschärfte Umweltstandards mit erheblichen Kosten verbunden sind und die Wettbewerbsfähigkeit beeinträchtigen.  Andererseits ist bei Weitem nicht klar, ob diese Kostennachteile an und für sich den Handel zwischen reichen und armen Ländern verändern. Sind die Umweltkosten relativ zu den Gesamtproduktionskosten gering, dann sind andere Faktoren wie die Verfügbarkeit hoch qualifizierter Arbeitskräfte oder eine zuverlässige Energieversorgung für den Produktionsstandort entscheidender. Dann wäre es für Unternehmen schlauer, die Produktion im Norden zu belassen. Die umfassendste Studie, die bisher gemacht wurde, stellt unter Berücksichtigung all dieser anderen Faktoren bestenfalls einen schwachen Effekt auf die Abwanderung der schmutzigen Industrie fest. Im Gegenteil: Sie kommt sogar zum Schluss, dass Freihandel wahrscheinlich gut für die Umwelt ist.[4]

Ein globales Problem

Die dritte Annahme ist die problematischste: Die PHH impliziert nämlich, dass die Umweltverschmutzung nur lokale und keine globalen Auswirkungen hat. Denn das Modell bewertet die Umweltverschmutzung nur aus nationaler Perspektive, nicht aus globaler.

Als die PH-Hypothese vor über 30 Jahren aufgestellt wurde, war die Welt noch eine andere: Damals waren es vor allem lokale Schadstoffe der industriellen Produktion wie Schwefeldioxid, flüchtige organische Verbindungen und Blei, welche die Luftverschmutzung in vielen Städten unerträglich machten. Heute ist das drängendste Umweltproblem der Klimawandel, der natürlich ein globales Problem ist. Wo die CO2-Emissionen anfallen, ist dem Klima egal.

Dennoch ist die PH-Hypothese weiterhin aktuell. Denn von der Regulierung des CO2-Ausstosses sind heute viel mehr Branchen betroffen als von den Vorschriften vor 30 Jahren. Ausserdem sind die Kosten zur Erreichung der Netto-null-Ziele weitaus höher als früher. Für viele Branchen sind diese Kosten starke Anreize, um mit ihren energieintensiven Industrien abzuwandern.

War die Abwanderung schmutziger Industrien für die Bewohner des Nordens damals von Vorteil, weil die Verschmutzung damit lokal verschwand, so ist dies heute nicht mehr der Fall. Denn die Verschmutzung hat heute globale Auswirkungen und fällt auf die Nordländer zurück.

Konflikte um Grenzausgleichssteuer

Die damaligen Produktionsverlagerungen in die Regionen mit den laschesten Vorschriften führen heute dazu, dass die Bewohner des Nordens der Umweltverschmutzung stärker ausgesetzt sind. Denn die Präferenz des Südens für laschere Umweltvorschriften und mehr Wohlstand bedeutet, dass das Fortschreiten des Klimawandels heute weitgehend von den Empfindungen des Südens und nicht mehr vom Norden bestimmt wird.

Um dieser Logik zu entgehen, will der Norden die Zeit zurückdrehen und Handel und Umweltpolitik durch sogenannte Grenzausgleichsmassnahmen[5] miteinander verknüpfen. Vor 30 Jahren war es noch verboten, hierüber zu diskutieren. Aber heute ist eine solche Steuer in aller Munde – die PHH zeigt auf, warum. Diese neue Einstellung des Nordens wird für den Süden keine erfreuliche Nachricht sein. Sie wird zu Konflikten bei Handels- und Klimaverhandlungen führen, wie es im Übrigen die Autoren der PHH vor über 30 Jahren vorausgesagt haben. Und wie die eben zu Ende gegangene Weltklimakonferenz in Ägypten gezeigt hat.

  1. Siehe Copeland und Taylor (1994). []
  2. Siehe Grossman und Krueger (1991) und Copeland und Taylor (1994, 1995). []
  3. Cherniwchan und Taylor (2022). []
  4. Antweiler, et al. (2001). []
  5. Siehe auch den Artikel von Kleimann in diesem Schwerpunkt. []

Literaturverzeichnis
  • Antweiler, Werner, Brian R. Copeland und M. Scott Taylor (2001). Is Free Trade Good for the Environment? American Economic Review 91.4: 877–908.
  • Copeland, Brian R. und M. Scott Taylor (1994). North-South Trade and the Environment. The Quarterly Journal of Economics 109.3: 755–787.
  • Copeland, Brian R. und M. Scott Taylor (1995). Trade and Transboundary Pollution. American Economic Review 85.4: 716–37.
  • Cherniwchan, Jevan M. und M. Scott Taylor (im Erscheinen). International Trade and the Environment: Three Remaining Empirical Challenges. Oxford Research Encyclopedia of Economics and Finance.
  • Grossman, Gene M. und Alan B. Krueger (1991). Environmental Impacts of a North American Free Trade Agreement.
  • Unctad (2021). Technology and Innovation Report, 2021.
  • World Bank (2022). Poverty and Shared Prosperity 2022: Correcting Course.

Bibliographie
  • Antweiler, Werner, Brian R. Copeland und M. Scott Taylor (2001). Is Free Trade Good for the Environment? American Economic Review 91.4: 877–908.
  • Copeland, Brian R. und M. Scott Taylor (1994). North-South Trade and the Environment. The Quarterly Journal of Economics 109.3: 755–787.
  • Copeland, Brian R. und M. Scott Taylor (1995). Trade and Transboundary Pollution. American Economic Review 85.4: 716–37.
  • Cherniwchan, Jevan M. und M. Scott Taylor (im Erscheinen). International Trade and the Environment: Three Remaining Empirical Challenges. Oxford Research Encyclopedia of Economics and Finance.
  • Grossman, Gene M. und Alan B. Krueger (1991). Environmental Impacts of a North American Free Trade Agreement.
  • Unctad (2021). Technology and Innovation Report, 2021.
  • World Bank (2022). Poverty and Shared Prosperity 2022: Correcting Course.

Zitiervorschlag: Scott Taylor (2022). Klimawandel: Der globale Norden hat die Kontrolle verloren. Die Volkswirtschaft, 13. Dezember.