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«Eine Lehre ist überhaupt nicht out»

Rund zwei Drittel der Jugendlichen wählen eine Berufslehre – Tendenz leicht sinkend. Roland A. Müller, Direktor des Arbeitgeberverbands, sagt im Interview, weshalb ihn der hohe Anteil Lehrabbrecher von knapp einem Viertel nicht beunruhigt und wo die Betriebe gefordert sind.
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Roland A. Müller, Direktor des Arbeitgeberverbands, am Hauptsitz in Zürich: «In brancheninternen Umfragen steht der Feriensaldo nicht zuoberst auf der Wunschliste der Lernenden.» (Bild: Keystone / Christian Schnur)
Herr Müller, was beschäftigt Sie im Moment mehr: das Vertragspaket Schweiz – EU oder die US-Zölle?

Im Moment treiben uns natürlich die US-Zölle um. Das Europapaket ist schon länger in der Pipeline, mit Blick auf das Ende der Vernehmlassung am 31. Oktober ist es aber auch ein wichtiges Thema.

Im August sind die Exporte in die USA um ein Viertel zurückgegangen, die Exporte der Maschinenindustrie sogar um 50 Prozent. Wie geht es weiter?

Das ist die grosse Unbekannte. Bern verhandelt intensiv, und viele Unternehmen gehen davon aus, dass es spätestens Ende Oktober eine Lösung gibt. Auch seitens der USA wurde dieses Datum schon genannt.

Was, wenn es wieder keine Einigung gibt?

Dann wird es schwierig. Das grösste Problem ist die Unsicherheit. Denn die Unternehmen müssen planen können und auch das Budget für das nächste Jahr festlegen. Ohne Lösung plant man anders, und es werden auch Themen wie Kurzarbeit aufs Tapet kommen. Es gibt Unternehmen, die könnten zwar ihre Produktionslinien in die USA verlagern, aber sie sind unsicher, ob das eine nachhaltige Lösung ist. Deshalb sind die nächsten Wochen entscheidend.

Einige Branchen haben ihre Lager vor dem Zollhammer aufgefüllt, aber diese leeren sich allmählich. Wie lange ist der Atem der Unternehmen noch?

Das ist sehr unterschiedlich. Unternehmen, die mit tiefen Zöllen rechneten, haben keine grossen Lagerbestände aufgebaut. Aber selbst die gefüllten Lager sind in absehbarer Zeit leer. Wenn die Unternehmen dann nicht handeln und keine Produkte liefern, sind im US-Detailhandel die Verkaufsplätze weg. Die Unternehmen müssen sich also überlegen, wie es weitergeht, auch weil sich andere Märkte nicht von heute auf morgen erschliessen lassen.

Sie haben sich im Juli im Grundsatz zum EU-Vertragspaket bekannt, forderten aber eine unternehmensfreundliche Umsetzung. Wollen Sie sich mehr der EU annähern, weil es mit den USA zurzeit schwierig ist?

Ich würde diesen Zusammenhang nicht überschätzen. Der 39-Prozent-Zoll aus den USA kam erst später, am 1. August. Im Juli haben wir beim EU-Paket nur eine grundsätzliche Zustimmung kommuniziert, eine abschliessende Beurteilung werden wir am 14. Oktober vornehmen.

 

Die Demografie ist dafür verantwortlich, dass uns in den nächsten zehn Jahren rund 300’000 Arbeitskräfte fehlen werden.

 

Ein zentrales Thema für die Schweiz ist auch der Fachkräftemangel. Wie wirkt sich die leichte wirtschaftliche Abkühlung darauf aus?

Hier muss man differenzieren. Die konjunkturelle Entwicklung hat den Fachkräftemangel leicht reduziert. Für uns ist das nichts Positives, weil es uns lieber wäre, die Wirtschaft würde auf Hochtouren laufen. Vor allem aber ist der Fachkräftemangel damit noch nicht gelöst, denn der Mangel ist aufgrund der demografischen Entwicklung strukturell. Die Demografie ist dafür verantwortlich, dass uns in den nächsten zehn Jahren rund 300’000 Arbeitskräfte fehlen werden.

Wie würden Sie den aktuellen Fachkräftemangel beschreiben?

Zurzeit fehlen nicht nur hoch qualifizierte Fachkräfte wie Ärzte, Softwareentwickler oder Bauleiterinnen, sondern generell Arbeitskräfte, beispielsweise Hilfskräfte auf dem Bau oder Servicepersonal in der Gastronomie.

Welche Rolle spielt der steigende Anteil der Teilzeitarbeit beim Fachkräftemangel?

Teilzeit hat zwei Seiten: Wenn eine Person ihr Vollzeitpensum reduziert, dann verlieren wir Arbeitskraft. Aber wenn beispielsweise in einem Zweipersonenhaushalt, in dem früher nur eine Person Vollzeit arbeitete, heute beide jeweils 60 und 80 Prozent Teilzeit arbeiten – dann stimmt die Gesamtrechnung. Ein grosses Potenzial sind dabei die Mütter, von denen viele sehr gut ausgebildet sind und ihr Pensum steigern würden, wenn die Arbeitsanreize stimmen. Wir müssen an den Anreizen arbeiten, damit wir unseren im internationalen Vergleich bereits hohen Beschäftigungsanteil weiter steigern können.

Es ist doch primär eine unternehmerische Aufgabe, Fachkräfte zu gewinnen und zu halten. Was tun Sie dafür?

Ja, natürlich. Die Arbeitgeber müssen sich dieser gesellschaftlichen Realität stellen. Zurzeit bewegen wir uns in einem Arbeitnehmermarkt. Die Arbeitgeber müssen ihre Angebote sehr attraktiv gestalten, um Arbeitskräfte zu finden. Das betrifft zum einen die Löhne, aber auch andere Aspekte wie Weiterbildung oder flexible Arbeitszeiten.

Welche Rolle spielt die Berufsbildung bei der Bekämpfung des Arbeitskräftemangels?

Eine wichtige. Der Vorteil einer Lehre ist, dass sie sich an den Bedürfnissen der Betriebe ausrichtet, von denen sie ja angeboten wird. Neue oder überarbeitete Berufe entstehen dann, wenn die Wirtschaft spezielle Kompetenzprofile verlangt. Grundsätzlich besteht aber in allen Bereichen Mangel – sowohl bei Berufen mit Lehre als auch bei Universitätsabsolventen. Wir müssen Sorge tragen, dass es für alle Branchen und Berufe genügend Arbeitskräfte gibt. Nach wie vor sind rund zwei Drittel der Abschlüsse bei Jugendlichen Berufslehren. Eine Lehre ist also überhaupt nicht out, aber oftmals weiss man darüber zu wenig.

Der Anteil Jugendlicher, die eine Lehre wählen, nimmt tendenziell leicht ab. Was tut der Arbeitgeberverband konkret, um die Berufsbildung zu stärken?

Wir arbeiten in der sogenannten Verbundpartnerschaft mit dem Bund und den Kantonen zusammen, um die Rahmenbedingungen für die Berufslehre zu verbessern sowie die Attraktivität und die Qualität hoch zu halten und weiter zu verbessern. Dabei vertreten wir die Interessen der Branchen und fördern die Berufsbildung. Ein Beispiel sind die Schweizer Berufsmeisterschaften Swiss Skills oder andere Aktivitäten, um aufzuzeigen, welche Möglichkeiten eine Berufslehre bietet.

 

Roland A. Müller: «Die Lernenden sind mit meist 15 Jahren sehr jung, und eine Berufswahl ist komplex. Da ist es klar, dass Betriebs- und Berufswechsel vorkommen.» (Bild: Keystone / Christian Schnur)

 

Die Gewerkschaften fordern acht Wochen Ferien, um die Berufsbildung attraktiv zu halten.

Was ist ausschlaggebend, dass junge Menschen sich für eine Lehre entscheiden? Sind es acht Wochen Ferien, oder sind es die Attraktivität der Ausbildung generell und ihre berufliche Perspektiven? Mit Sicherheit ist es für eine grosse Mehrheit Letzteres, was auch aktuelle Umfragen aus den Branchen belegen. Jede Branche hat ein Interesse, aufzuzeigen, dass sie attraktive Ausbildungen bietet und mit der Zeit geht. Ein Vorteil der dualen Berufsbildung ist: Die Berufsbilder werden in der Regel alle fünf Jahre angepasst – und zwar so, dass es für die Arbeitgeber und für die Lernenden stimmt.

In gewissen Branchen haben die Lernenden im ersten Lehrjahr bereits sieben Wochen Ferien.

Richtig, in gewissen Branchen und Betrieben ist das so. Dank der Vertragsfreiheit kann man heute bereits mehr vereinbaren. Aber unserer Meinung nach sollten wir möglichst wenige dieser Fragen in die Politik verlagern und überregulieren und dies stattdessen den Branchen und Unternehmen überlassen. Denn Ferien sind nur ein Mosaikstein, zumal nationale Regelungen weder Rücksicht auf die unterschiedlichen Charakteristika der Branchen, der Unternehmen oder der Lernenden selbst nehmen. Wenn wir brancheninterne Umfragen machen, steht der Feriensaldo ohnehin nicht zuoberst auf der Wunschliste der Lernenden.

Was steht denn zuoberst?

Die Jugendlichen haben individuelle Interessen. Eine pauschale Aussage würde ihnen nicht gerecht. Generell zeigt sich aber, dass der Berufsstolz sowie abwechslungsreiche Aufgaben wichtig sind. Auch Mitwirkung an realen Projekten, die Übernahme von Verantwortung, ein positives Arbeitsklima im Ausbildungsbetrieb, eine kompetente Betreuung sowie gute Perspektive nach der Lehre sind zentral.

Fakt ist, dass es bei fast einem Viertel der Jugendlichen zur Vertragsauflösung in der Lehre kommt. Weshalb ist das so?

Die Lernenden sind mit meist 15 Jahren sehr jung, und eine Berufswahl ist komplex. Da ist es klar, dass Betriebs- und Berufswechsel vorkommen. Auch beim allgemeinbildenden Weg gibt es Abbrüche im Gymnasium oder im Studium. Entscheidend ist, wie viele am Ende eine Berufsbildung abschliessen. Und das sind 90 Prozent. An Uni und ETH haben wir ähnliche Quoten. Ich bin deshalb nicht beunruhigt. Man muss sich aber überlegen, wie man dem entgegenwirken kann. Und da braucht es möglichst früh in den Schulen und insbesondere auch in den schulisch leistungsstarken Klassen ausreichend Informationen darüber, welche Wege einem offenstehen. Nicht, dass man erst zu spät merkt, dass der Ausbildungsberuf oder das Studium falsch gewählt war.

 

Die Unternehmen haben ein ureigenes Interesse, dass die jungen Menschen die Ausbildung abschliessen.

 

Die Gewerkschaften machen auch die mangelnden betrieblichen Ressourcen für die Lehrabbrüche verantwortlich.

Die Unternehmen haben ein Interesse, dass sie junge Leute ausbilden können, und es ist klar, dass sie ihnen auch etwas anbieten müssen. Sie haben ein ureigenes Interesse, dass die jungen Menschen die Ausbildung abschliessen. Die Qualität ist im Grossen und Ganzen ausgezeichnet, aber verbessern – wie auch kritisieren – kann man immer.

Wie sehen Sie das Berufsbildungssystem grundsätzlich? Stimmt die Richtung?

Das Berufsbildungssystem hat sich bewährt. Es ist unbestritten und ein Erfolgsmodell, um das wir international beneidet werden. Wir würden uns nicht so stark engagieren, wenn wir nicht die Erfolge sehen würden. Natürlich kann man auch optimieren. Die Jungen interessieren sich beispielsweise für die Anpassung der Berufsbilder und der Ausbildungswege. Diesen Fragen sollte man sich widmen und nicht generell das System infrage stellen.

Ein aktuelles Postulat fordert, dass man die Übertritte vom Gymnasium in eine Berufslehre vereinfacht, um so dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Der Bundesrat kam jedoch jüngst zum Schluss, dass es auf Bundesebene keinen Handlungsbedarf gebe. Wie schätzen Sie die Situation ein?

Auch hier haben die Branchen festgestellt, dass ein solches Bedürfnis besteht, und sie versuchen, es entsprechend anzubieten. Verkürzte Lehren für Maturanden gibt es in gewissen Branchen bereits im Rahmen des Way-up-Programms, wo die Lehre zwei anstatt vier Jahre dauert. Das gilt beispielsweise für Elektroniker, Informatikerinnen, Polymechaniker und Mediamatikerinnen. Nach wie vor ist aber die direkte Berufslehre – ohne Umweg übers Gymnasium – der Königsweg und im Interesse der Arbeitgeber. Eine starke Förderung der Lehre nach der gymnasialen Maturität könnte die klassische duale Berufsbildung unnötig schwächen.

Sie haben vier Kinder. Welchen beruflichen Weg haben sie eingeschlagen?

Alle haben das Gymnasium gewählt. Das ist ein typischer Weg, wenn schon die Eltern die Matura gemacht haben. Zwei stehen kurz vor dem Abschluss ihres Studiums als Jurist und Chemieingenieurin. Die anderen beiden Kinder sind praktischer veranlagt. Die eine Tochter ist an der Pädagogischen Hochschule, die andere ist noch im Gymnasium.

Wählen aus Ihrer Sicht mit dem Fortschritt der künstlichen Intelligenz in Zukunft mehr Jugendliche eine Berufslehre anstatt eines allgemeinbildenden Gymnasiums?

Das ist möglich, aber ich denke, das sollte man nicht überschätzen. KI ist nur ein Tool, das zur Verfügung steht. Es kann in gewissen Bereichen helfen, in anderen nicht. Das war schon bei der Digitalisierung so. Ich glaube, es geht weiterhin um die Frage: Bin ich eher der manuelle Typ und suche eine praktisch orientierte Tätigkeit, oder suche ich einen anderen Weg?

Zitiervorschlag: Interview mit Roland A. Müller, Schweizerischer Arbeitgeberverband (2025). «Eine Lehre ist überhaupt nicht out». Die Volkswirtschaft, 03. Oktober.

Roland A. Müller

Der heute 62-Jährige ist seit 2007 beim Schweizerischen Arbeitgeberverband, seit 2013 als Direktor. Zuvor war er beim Schweizerischen Versicherungsverband (2000–2007) und bei Swissmem (1992–2000) tätig. Der promovierte Rechtsanwalt ist zudem Titularprofessor für Obligationen-, Arbeits- und Sozialversicherungsrecht an der Universität Zürich und an der privaten Fachhochschule Kalaidos FH Law School in Zürich.