Suche

Abo

Arbeiten im Rentenalter: Es braucht einen Kulturwandel

Derzeit gibt es relativ wenige Personen, die im Pensionsalter weiterarbeiten. Nebst wirtschaftspolitischen Eingriffen ist ein Kulturwandel fällig: Wir müssen uns von der Idee eines «fixen» Rentenalters verabschieden.
In der Schweiz arbeiten nur wenige über das Pensionsalter hinaus. (Bild: Alamy)

Durch den demografischen Wandel nimmt der Anteil der älteren Bevölkerung in der Schweiz zu. Bereits heute bekunden einige Branchen zusehends Mühe, geeignete Fachkräfte zu finden. Da in den nächsten Jahren bevölkerungsstarke Jahrgänge das Pensionsalter erreichen, dürfte sich die Situation verschärfen. Vor diesem Hintergrund gilt es, das Potenzial der älteren Arbeitnehmenden – auch über das ordentliche Rentenalter hinaus – bestmöglich auszuschöpfen.

Im Auftrag des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) hat das Basler Beratungs- und Forschungsunternehmen BSS untersucht, wie sich die Erwerbsbeteiligung von Personen im Rentenalter erhöhen lässt.[1] Dabei zeigt sich: Potenzial ist vorhanden. In der Schweiz sind nur 19 Prozent der Personen im Alter von 65 bis 74 Jahren erwerbstätig; viele davon arbeiten Teilzeit.

Einige sind gesundheitlich nicht zur Weiterarbeit in der Lage, und anderen fehlt es an passenden Arbeitsangeboten. Dennoch scheint sowohl eine Ausdehnung als auch eine Intensivierung der Erwerbstätigkeit möglich. Darauf lässt auch der internationale Vergleich schliessen: Die Schweizer Erwerbsbeteiligung der 65- bis 74-Jährigen liegt drei Prozentpunkte unter dem OECD-Durchschnitt.

Wie gross ist also das Potenzial bei den Erwerbstätigen im Pensionsalter? Eine grobe Einschätzung anhand verschiedener Szenarien ergibt eine Bandbreite zwischen 12’000 und 108’000 zusätzlichen Vollzeitäquivalenten in der Schweiz. Zur Einordnung: Die Erwerbstätigkeit der 65- bis 74-Jährigen entspricht aktuell rund 74’000 Vollzeitäquivalenten.

Grundsätzlich ist zur Förderung der Erwerbstätigkeit im Rentenalter eine breite Palette an Massnahmen denkbar, die an verschiedenen Motivations- und Hinderungsfaktoren ansetzen und damit unterschiedliche Gruppen ansprechen. Von der Vielzahl in der Studie identifizierter möglicher Massnahmen untersuchten wir drei genauer.

Sozialversicherungsbeiträge abschaffen


Eine erste Variante wäre es, die Sozialversicherungsbeiträge für Erwerbstätige im Rentenalter abzuschaffen. Die je zur Hälfte von Arbeitgeber und Arbeitnehmer getragenen Beiträge zuhanden der ersten Säule betragen 10,55 Prozent des Lohnes und werden von jenem Teil des Erwerbseinkommens erhoben, der den Freibetrag von 1400 Franken pro Monat übersteigt. Die erste Säule besteht aus der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV), der Invalidenversicherung (IV) und der Erwerbsersatzordnung (EO). Erwerbstätige, die das ordentliche Rentenalter erreicht haben, profitieren von den einbezahlten Lohnbeiträgen nicht mehr – so können sie insbesondere ihre AHV-Rente nicht mehr aufbessern.

Würde man die Beitragspflicht aufheben, resultierte für die Arbeitnehmenden ein finanzieller Erwerbsanreiz, da sich das verfügbare Einkommen erhöhen würde. Für die Arbeitgeber würden demgegenüber die Lohnkosten sinken.

Alternativ könnte man die AHV-Beiträge im Rentenalter rentenverbessernd gestalten. Dies sieht die aktuell anvisierte Reform AHV 21 als Anreiz zur Weiterführung der Erwerbstätigkeit im Rentenalter vor. Profitieren könnten allerdings nur Personen, die die AHV-Maximalrente noch nicht erreicht haben.

Tiefere Steuern


Eine zweite Massnahme zur Förderung der Erwerbstätigkeit ist die reduzierte Besteuerung des Erwerbseinkommens. Sie geht von der Annahme aus: Wenn Erwerbseinkommen nach Erreichen des ordentlichen Rentenalters reduziert besteuert werden, zahlt sich die Erwerbstätigkeit aus finanzieller Sicht mehr aus.

Möglichkeiten zur Umsetzung sind beispielsweise Steuerabzüge und Steuergutschriften – oder indem nicht das gesamte Einkommen für die Bestimmung des Steuersatzes berücksichtigt wird. Bei letzterer Variante kann der Progressionseffekt beseitigt werden, der auftritt, wenn jemand gleichzeitig arbeitet und eine Rente bezieht. Grundsätzlich gilt: Der mögliche Effekt der reduzierten Besteuerung auf die Erwerbstätigkeit im Rentenalter hängt stark von ihrer Ausgestaltung ab.

Wir müssen umdenken


Die dritte Massnahme zielt auf einen Kulturwandel ab: Der Ruhestand mit 64 Jahren für Frauen und 65 Jahren für Männer soll nicht mehr als «Standardfall» gelten, sondern als eine von verschiedenen Möglichkeiten. Auch wenn heute bereits die Möglichkeit einer weiteren Erwerbstätigkeit respektive eines früheren Ruhestands besteht, betrachten die meisten Personen und Unternehmen das ordentliche Rentenalter als Norm.

Gefördert werden kann das Umdenken etwa durch Sensibilisierung und Information, welche sich sowohl an Arbeitnehmende als auch an Arbeitgeber richtet. Weiter könnte man das fixe Rentenalter aufheben und stattdessen einen Renteneintrittskorridor definieren respektive kommunizieren. Studienergebnisse zeigen, dass Menschen einen gesetzten «Standardwert» wie das Rentenalter 64/65 oftmals nicht aktiv anpassen, selbst wenn der Aufwand dafür gering ist. Mit einem Renteneintrittskorridor wären die Arbeitnehmenden und die Arbeitgeber gezwungen, sich aktiv damit auseinanderzusetzen, welche Option sie bevorzugen. Rein rechnerisch ändert sich nichts: Wird 64/65 als Referenzrentenalter gewählt, beziehen Rentner zu diesem Zeitpunkt die übliche Rente. Davor erhalten sie eine tiefere, danach eine höhere Rente.

Neben dem Staat sind auch die Betriebe gefordert. Sie müssen eine Unternehmenskultur aufbauen, die keine Altersvorurteile beinhaltet, und älteren Arbeitnehmenden ermöglichen, über das Rentenalter hinaus weiterzuarbeiten. Sinnvoll sind etwa altersgerechte Arbeitsmodelle, bei denen beispielsweise die bisherigen Tätigkeiten durch Aufgaben wie Mentoring oder Beratung von jüngeren Arbeitnehmenden ergänzt werden.

Stups zur Weiterarbeit


Auch wenn die Umsetzung der skizzierten Massnahmen nicht ausreichen würde, um die durch den demografischen Wandel drohende Fachkräfteknappheit ganz aufzufangen: Bei der Steigerung der Erwerbstätigkeit über das Rentenalter hinaus liegt heute Potenzial brach.

Für eine bestmögliche Ausschöpfung des Potenzials ist ein Kulturwandel zentral. Gelingt es, die Bevölkerung und die Arbeitgeber vermehrt für eine weitere Erwerbstätigkeit zu sensibilisieren und durch eine Aufhebung des fixen Rentenalters zu einer bewussten Entscheidung zu «zwingen», hätte dies potenziell grosse Auswirkungen. Darüber hinaus könnten sowohl die Abschaffung der AHV/IV/EO-Beiträge bei einer Erwerbstätigkeit im Rentenalter als auch die reduzierte Besteuerung von Erwerbseinkommen im Rentenalter mögliche Wege zur Steigerung der Erwerbstätigkeit darstellen. Vielversprechend scheint es, verschiedene Massnahmen zu kombinieren und dabei Arbeitsangebot und -nachfrage zu berücksichtigen.

  1. Mirjam Suri, Miriam Frey, Adrian Wüest und Michael Morlok (2020): Erwerbstätigkeit über das ordentliche Rentenalter hinaus. Studie im Auftrag des Seco. []

Zitiervorschlag: Mirjam Suri, Miriam Frey, (2020). Arbeiten im Rentenalter: Es braucht einen Kulturwandel. Die Volkswirtschaft, 25. Februar.